Die wirtschaftliche Situation in Algerien
Fatiha Talahite, in: Michael von Graffenried, Sid Ahmed Hammouche, Im Herzen Algeriens, Das Jahrzehnt des Terrorismus, Bern, 2002
Als Anfang 1992, die – seit der Unabhängigkeit 1962 – ersten freien Parlamentswahlen in Algerien abgebrochen wurden und ein bis heute andauernder Ausnahmezustand über das Land verhängt worden ist, bedeutete dies nicht nur den vorzeitigen Abbruch des Übergangs zur Demokratie, sondern auch des ökonomischen Reformprozesses, der nach der politischen Öffnung 1988 eingesetzt hatte.
Eine staatlich verwaltete Wirtschaft
Zwischen 1965 und 1980 sah das autozentrierte Entwicklungsmodell Algeriens vor, einen Grossteil der Energieeinkünfte (Erdöl und -gas) zur Finanzierung eines Produktionssystems nach sowjetischem Vorbild zu verwenden, das sich auf die vorgelagerte Stahlindustrie und die nachgelagerten Exportsubstitutions-lndustrien stützte, die sich auf dem Binnenmarkt ansiedeln sollten. Deren Inputbeschaffung ist in starkem Masse auf Importe angewiesen, die produzierten Erzeugnisse verbleiben jedoch im Land und stehen, solange der Binnenmarkt geschützt ist, in keiner Abhängigkeit zum Weltmarkt. Ein privater Wirtschaftssektor ist zwar im-mer vorhanden gewesen, stand aber im Schatten der vielen Staatsbetrie-be, die ihn einerseits behinderten, andererseits aber auch schützten. So hat sich in Algerien nie ein wirklicher Unternehmergeist entwickeln können. Einzig der Kohlenwasserstoffsektor oder auch « externe Sektor » konnte der internationalen Konkurrenz ernsthaft die Stirn bieten. Diese Spezifik hat ihn seine eigenen Spielregeln entwickeln lassen und seine Tendenz, sich von der restlichen Wirtschaft abzukoppeln, verstärkt. Das ist übrigens einer der Gründe für das Scheitern der sogenannten « industrialisierenden Industrie », unter deren Zeichen die wirtschaftliche Entwicklung Algeriens zwischen 1960 und 1970 gestanden hat, und die durch ihre Impulse zu einer zunehmenden Integrierung der vor- und nachgelagerten nationalen Industrien geführt hat. Dabei wurde allerdings übersehen, dass sich innerhalb einer offenen Wirtschaft eine Kluft zwischen Inlands- und Auslandssektor, die jeweils unterschiedliche, ja gegenläufige Spielregeln befolgen, heranbilden würde.
Während der 80er Jahre dann hat das algerische Wirtschaftssystem definitiv seine Schwächen gezeigt: In Anbetracht des raschen Bevölkerungswachstums war es nicht ausreichend in der Lage, die dringend erforderlichen neuen Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, die Kapazitätsrate konnte insgesamt nur schwach erhöht werden. Kurz: Das System funktionierte nicht in der Weise, wie dies ursprünglich erwartet worden war. Über 10 Jahre lang hat der Staat versucht, die defizitären und verschuldeten Staatsbetriebe wieder flott zu machen, dabei wurde jedoch versäumt, deren Management entscheidend zu verbessern. Diese anfänglichen Lösungsversuche haben eher zu einer Verschlimmerung der Situation beigetragen, wenn sie auch zunächst kurzfristig dem dringenden Bedarf an Stellen, Schulbildung, Wohnungen, Gesundheitsfürsorge und Infrastrukturen entgegen gekommen sind. Aber eine echte Reform war nicht ohne weiteres auf den Weg zu bringen, denn dann hätte das System von Grund auf in Frage gestellt werden müssen, und das war innerhalb eines nicht demokratischen, weil weiterhin von der Einheitspartei dominierten politischen Systems nicht möglich. Die strenge staatliche Kontrolle sämtlicher Produktions- und Finanzflüsse durch strikte Reglementierung und Abschottung der Funktionsbereiche hat dazu geführt, dass ein zunehmender Teil der Transaktionen inoffiziell abgewickelt wurden, und zwar in den Nischen einer Schattenwirtschaft, die sich dieser Kontrolle entziehen konnte, so dass diese freies Spiel hatte. Seit 1984 sind vereinzelt Mass-nahmen ergriffen worden, die auf eine gewisse Dezentralisierung der finanziellen Hilfsmittel abzielten, ohne diese jedoch in stärkerem Masse zu beschränken, was zahlreiche Nebeneffekte mit sich brachte: wirtschaftliche Desorganisation, Schattenwirtschaft, Schwarzmarkt für Devisen, Korruption, Anstieg der Auslandsschulden.
Mitte der 80er Jahre schliesslich führte der Schock des drastischen Verfalls von Barrelpreis und US-Dollar-Kurs die Wirtschaft in weitere Auslandsschulden. Die von der Regierung erhoffte Erholung des Markts blieb aus. Indem das algerische System den Kohlenwasserstoffsektor den Erfordernissen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung untergeordnet hat -der Staat hat mit der hohen Energiestoffrente nicht nur neue Investitionen sondern auch sämtliche laufenden Ausgaben bestritten – hat er ihm damit zugleich jede Dynamik genommen und seine Kapazitäten stark reduziert, wenn nicht ganz zum Stagnieren gebracht.
In diesem Zusammenhang ist der Staat auch als Rentner bezeichnet worden: er war abhängig von den Kohlenwasserstoff-Einnahmen, die er schon im Voraus ausgab. Voreilig liess er sich auf Auslandsschulden ein und belastete dadurch nach und nach seine nationalen Bodenschätze mit riesigen Hypotheken. Es musste erst zu den Aufständen im Oktober 1988 kommen, um das Ende des Einparteien-Regimes einzuläuten und endlich Reformen auf den Weg zu bringen.
Die Regierung der « Erneuerer »: September 1989 bis Juni 1991
1989 startet ein breit angelegtes Projekt wirtschaftlicher Reformen, das vom Prozess der politischen Öffnung begünstigt wird. Die Regierung der « Erneuerer », trägt sich jedoch nicht mit der Absicht, den staatlichen Sektor zu verkleinern. Im Gegenteil: Er soll durch die neuen Spielregeln des Wettbewerbs und der Marktwirtschaft gestärkt werden. Hauptanliegen der « Erneuerer » ist die qualitative Verbesserung der Leitung der Staatsbetriebe, damit diese auf dem nationalen, regionalen und internationalen Markt effizient und wettbewerbsfähig operieren können. Wenn diese Massnahmen auch zum Bruch mit der bisherigen Politik führen, so handelt es sich im Ganzen doch um einen nur stufenweise realisierten Reformprozess. Das Projekt, das den bisherigen Grundprinzipien – wirtschaftliche Dominanz der Staatsunternehmen, starke Abhängigkeit vom Kohlenwasserstoff-Export bei fortgesetzter staatlicher Kontrolle über Aussenhandel und Auslands-Finanzflüsse, inkonvertible Währung – ver haftet bleibt, gibt der finanziellen Sanierung der staatlichen Unternehmen den Vorrang, auch wenn diese Massnahmen anschliessend auf die Gesamtwirtschaft ausgedehnt werden. Erstmals wird der Versuch unternommen, Wirtschaft und Politik voneinander zu trennen; die Reformen lieferten die nötigen Grundlagen für den Übergang zu einer inlandsbezogenen Dynamik, indem sie auf das Zusammenspiel der menschlichen, materiellen und finanziellen Potentiale der algerischen Wirtschaft setzten. Vor diesem Hintergrund versteht man leicht, dass jede Umschuldung der Auslandsschulden vermieden und die interne Kurskorrektur unabhängig von finanziellen Verhandlungen mit internationalen Institutionen geführt werden sollte.
Wenn alle diese Veränderungen auch eine gewaltige soziale und politische Dynamik frei gesetzt haben, so zogen sie doch andererseits auch feindselige Reaktionen der Privilegierten und « Rentner » des alten Systems nach sich, die auch von ihren Handelspartnern ausserhalb des Landes vertreten wurden. Die Regierung der « Erneuerer » kann diesem Druck nicht lange standhalten und kündigt im Juni 1991 ihren Rücktritt an. Aus soziologischer Sicht betrachtet repräsentierten diese « Erneuerer » eine neue Generation von Spitzenfunktionären und Managern, die die bislang Macht ausübende Generation des Unabhängigkeitskrieges abgelöst hat. Ihr Programm war weniger darauf ausgerichtet, eine neue Wirtschaftspolitik zu definieren, als vielmehr eine radikale Veränderung des rechtlichen und institutionellen Rahmens, in dem sich die wirtschaftlichen Aktivitäten abspielten, zu schaffen und notwendigerweise auch Veränderungen am Verhalten der Wirtschaftskreise zu bewirken. Der Niedergang des alten Systems hatte den Weg in die Demokratie frei gemacht und den Wechsel zu einer Souveränität des Volkes herbeigeführt. Das Rad liess sich nun nicht mehr zurückdrehen. Ohne eine Wiederherstellung der Legitimität der Institutionen und der Glaubwürdigkeit der Regierung allerdings bestand nicht die geringste Chance, überhaupt irgend etwas in Gang zu setzen. Die Durchführung freier Wahlen und die Bildung einer Regierungskoalition standen also dringend an. Dass ausgerechnet die Islamisten in dieser Stunde über die nötige politische Kraft verfügten, um den Konsens herbeiführen zu können, beunruhigte zunächst weder die « Erneuerer » noch die anderen politischen Kräfte, die alle mit Eifer in die Arbeit am Demokratisierungsprozess versunken waren. Schliesslich ging es ja um die Errichtung der Grundfesten für eine neue Regierungsalternative. Die Reformer suchten sich von den Überlegungen und Erfahrungen der Ostblock-Länder inspirieren zu lassen, in denen es noch vor dem Berliner Mauerfall zu Liberalisierungen und Privatisierungen der Wirtschaftsbereiche gekommen war. Sie knüpften ausserdem an Erfahrungen und Techniken der Unternehmensführung in staatlichen Betrieben in Ländern mit freier Marktwirtschaft, wie zum Beispiel Frankreich, an.
Stabilisierung ohne Wachstum
Durch den im Januar 1992 durchgeführten Staatsstreich, der ehemalige Entscheidungsträger der Wirtschaft zurück an die Macht bringt, wird der eingeschlagene Weg in die Demokratie wieder verlassen. Damit sind auch die Chancen für mehr sozialen Zusammenhalt verspielt, der für die Realisierung der Reformen so dringend notwendig gewesen wäre. 1994 bittet die Regierung wegen massiver Zahlungsunfähigkeit um Umschuldung der Auslandsschulden und akzeptiert die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds IWF. Die innenpolitische Situation hat jeglichen Spielraum auf ein Minimum schrumpfen lassen. Noch im selben Jahr wird ein erstes Umschuldungsabkommen mit dem IWF unterzeichnet, das im Gegenzug eine Abwertung des Dinars und dessen Konvertierbarkeit im Aussenhan-delsverkehr sowie Privatisierungsprogramme vorsieht. Das bisherige Reformprojekt, dem der begleitende politische Prozess verloren gegangen ist, wird zwar nicht gänzlich aufgegeben, wohl aber in Frage gestellt. Von nun an wird verstärkt auf die « Schock »-Wirkung von aussen gesetzt, um die Rationalisierung des ökonomischen Betriebs voranzutreiben: Umschuldung der Auslandsschulden und Strukturanpassungsprogramm unter der Kontrolle des Internationalen Währungsfonds, Anwerbung ausländischer Direktinvestitionen, EU-Verbindungen und OPEC-Mitgliedschaft. Die Öffnung des Kohlenwasserstoffsektors für ausländische Firmen, die 1986 mit der Einführung von Verträgen zur Produktionsaufteilung begonnen hat und sich im Juni 1991 auch auf Erdgas und die bereits begonnene Ausbeutung weiterer Vorkommen erstrecken sollte, zieht wichtige ausländische Investoren an, die zugleich einen hohen technischen Standard mitbringen, der der Erkundung neuer Vorkommen ebenso zugute kommt wie der Überholung der technischen Anlagen, so dass insgesamt Produktion und förderbare Reserven auf spektakuläre Weise gesteigert werden können. Algerien rangiert weltweit auf den vordersten Plätzen, was die Entdeckung von Bodenvorkommen anbelangt. Die Erdölreserven erreichen einen Gegenwert von schätzungsweise 10 Milliarden Barrel. In der Region Berkine ist ein komplett neues Erdölfeld entdeckt worden, das 40 Einzelvorkommen umfasst.
Der staatliche Erdölbetrieb SONATRACH profitiert in starkem Masse von diesem Aufschwung, er prosperiert und entwickelt sich, während die restlichen Industriezweige einem allgemeinen Rückgang unterliegen. Es hat einige Sabotageakte gegeben, aber im Grossen und Ganzen sind die Anlagen gut bewacht und der Sektor ist von den sozialen und politischen Wirren der vergangenen 10 Jahre verschont geblieben. Ihr sind auch die Restrukturierungsmassnahmen erspart geblieben, von denen die übrigen Betriebe im staatlichen Sektor betroffen waren: Personalabbau, die breit angelegte Inhaftierungskampagne gegen Staatsbeamte und -angestellte (1997-1998), die der Korruption überführt werden konnten. Wenn das vordergründige Ziel des Strukturanpassungsplans (1991-1998) tatsächlich eine Lockerung der äusseren Einschränkungen war, so ging es aber auch darum, den Aufschwung einer Wirtschaft zu bewirken, die nicht mehr aus-schliesslich an die Valorisierung der Kohlenwasserstoffe gebunden ist. Sicher, der Erfolg der makro-finanziellen Stabilisierung – der in einigen Punkten über die vom Internationalen Währungsfonds festgelegten Ziele hinaus gegangen ist – hat Algerien ermöglicht, eine neuerliche Umschuldung zu umgehen. Für das Erreichen dieser Stabilität waren allerdings drakonische Massnahmen vonnöten gewesen: die Sozialausgaben sind drastisch reduziert, die Löhne blockiert und die realen Einkommen gesenkt worden, die staatlichen Investitionen sind auf weniger als 6% des Bruttoinlandprodukts herunter geschraubt worden, was wiederum die Schaffung von Arbeitsplätzen reduziert hat; die Arbeitslosenquote liegt bei über 27% und der private Sektor kann die Verluste im staatlichen Sektor keineswegs ausgleichen (auf 700 neu geschaffene Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft kommen 1000 abgebaute in den staatlichen Unternehmen). Auch die zweite Zielsetzung ist bei weitem nicht erreicht worden. Im Gegenteil: Die Wirtschaft hängt wie nie zuvor vom Kohlenwasserstoffsektor ab (er macht 97% der Exporte aus, die Erdöleinnahmen finanzieren zu 50% den Staatshaushalt); die Grundnahrungsmittel müssen nach wie vor importiert werden (während der ersten vier Monate in 2002 hat Algerien 2 Millionen Tonnen Getreide und Getreidesaat im Wert von 250 Millionen Dollar eingeführt, hauptsächlich aus Kanada, Deutschland und Frankreich); der Verfall der staatlichen Industriezweige schreitet noch schneller voran, bislang sind keine Sanierungsmassnahmen erfolgt.
Verfall des staatlichen Sektors und Privatisierung der Wirtschaft
Das Privatisierungsprogramm, das Bestandteil der IWF-Bedingungen und 1994 angekündigt worden war, wird immer wieder abgeändert. Die letzte Version von 2002 sieht die gross angelegte Privatisierung von 700 Staatsbetrieben in weniger als zwei Jahren vor, vor allem von 376 kleineren Gesellschaften (Regionalbetriebe, Hotels, staatliche Baufirmen, Gewerbebetriebe). Eine beachtliche Zahl der Lokalbetriebe und so gut wie alle Baugewerbebetriebe sollen gänzlich liquidiert werden; andere wichtige Unternehmen im Transportwesen (die staatliche Verkehrsgesellschaft, und fünf Schiffahrtsgesellschaften) sollen privatisiert werden, fünf regionale Reiseverkehrsgesellschaften sollen an die Beschäftigten abgetreten werden, für die Privatisierung vorgesehen sind ausserdem Pharmazieunternehmen, Chemiefirmen (darunter die SaTdal-Gruppe) und Lebensmittelbetriebe. Begonnen werden soll mit mehreren Zementfabriken. Bevor aber überhaupt über die notwendigen Bedingungen – die dringend nötige Reformierung des Bankwesens, die Schaffung neuer Anreize für ausländische Investoren – für eine erfolgreiche Durchführung des Privatisierungsprogramms gesprochen werden kann, müssen die Verantwortlichen erst einmal ihren politischen Willen in dieser Hinsicht bekunden und sich vor allem neu legitimieren, ansonsten werden sich nämlich die vielen rechtlichen, politischen und sozialen Hindernisse kaum bewerkstelligen lassen. Laut diesem Programm gibt es keine « strategisch » unveräusserli-chen Unternehmen mehr (mit Ausnahme der SONTRACH, nicht aber ihrer Filialen), jedes Unternehmen sei « privatisierbar », selbst SONELGAZ (das algerische Pendant zu Gaz de France), das erst unlängst in Holdinggesellschaften umgewandelt worden ist, mit dem Staat als Hauptaktionär. SONATRACH wiederum steht im Zentrum noch nicht gelöster Problemstellungen. Im Jahr 2000 hat das Unternehmen ein ehrgeiziges Entwicklungsprojekt auf regionaler und internationaler Ebene auf die Beine gestellt. Das 25-Milliarden-Dollar-Programm sollte zu 30% mit ausländischen Anteilen finanziert werden und dem Unternehmen helfen, von seinem lokalen Standort und den Erfahrungen auf dem nationalen Markt zu profitieren, um dadurch neuen Aufschwung zu erhalten und wettbewerbsfähig zu werden. Als dann aber im Februar 2001 die SONATRACH-Ge-schäftsleitung « entschlossen ist, das Unternehmen von all den Vorrechten der öffentlichen Hand zu befreien » und « den Wettbewerbskampf im Rahmen von mehrjährigen Zielverträgen, die mit der Regierung unter der demokratischen Kontrolle des Parlaments auszuhandeln sind », wird sie im Ministerrat brutal abgesägt. Der algerische Energiewirtschaftsminister führt die Geschäfte fort. Beobachter erinnern in diesem Zusammenhang an ähnliche Vorgänge während des Abbaus der grossen Staatsbetriebe, und bewerten diese Reaktion als offenkundigen Ausdruck der Feindseligkeit gegenüber jedweder Form wirtschaftlicher Macht, die nach Unabhängigkeit strebt.
Die Privatisierung der Wirtschaft schreitet dennoch rasch voran. Neben den zahlreichen Import-Export-Unternehmen, die vom Ende der staatlichen Monopolherrschaft profitiert haben, tauchen grosse Konzerne auf, die sich in den Schlüsselindustrien des Beschäftigungssektors niederlassen. Symbol dieser Erfolgsstories ist die Khalifa-Gruppe, die im Baugewerbe, Luftverkehr (die « Kalifa Airways » ist die Konkurrenzgesellschaft zur « Air Algerie ») und im Medienbereich (Khalifa-TV hat vom Conseil superieur de l’audiovisuel frangais für September 2002 eine Sendeerlaubnis erhalten) vertreten ist. Diese Wirtschaftsgiganten sind aus der militärischen Nomenklatura hervorgegangen, die es zu beachtlichen Anhäufungen der unter staatlicher Vormundschaft stehenden Vermögen gebracht haben; lange Zeit haben sie ihre Transaktionen im Verborgenen getätigt, nun treten sie offen und legal als kapitalkräftige Investoren auf. Wieder einmal werden die Karten neu gemischt und die ökonomische und politische Landschaft Algeriens völlig umgestaltet.
Internationales Engagement mit fehlender Legitimität
Algerien und die Europäische Union haben 2002 ein Assoziierungsabkommen zur Errichtung einer gemeinsamen Freihandelszone unterzeichnet. Algerien tätigt 63% seiner Exporte und 57% seiner Importe mit der EU. Frankreich ist Hauptzulieferer und Italien Hauptabnehmer. Das Abkommen, das bei regierungsunabhängigen Menschenrechtsorganisatio-nen, der Opposition, Arbeitgeberschaft und Gewerkschaften aus unterschiedlichen Gründen heraus mehr oder weniger stark umstritten ist und dessen Unterzeichnung mehrfach hinausgeschoben wurde, kam schlies-slich in Eile zustande, etliches blieb ungeklärt. Während der Verhandlungen hoffte Algerien, das mit der Terminierung für die Errichtung der Freihandelszone grundsätzlich einverstanden war, die Modalitäten bei der Aufhebung der 1995 in Barcelona definierten Schutzbestimmungen abändern zu können. Es führte in diesem Zusammenhang die besondere Spezifik seiner Nationalökonomie an, die mit dem « systematischen Bruch », den die Übergangssituation herbeigeführt habe, zusammenhänge, sprach sich gegen das Prinzip der schrittweisen Abschaffung aller tarifären Hindernisse aus und plädierte statt dessen für eine periodische Revision (im Abstand von 3-5 Jahren) und für einen Gemeinschaftsbeitrag beim Ausbau des algerischen Industriesektors (Hilfe bei der Rehabilitierung des Industrieparks; Unterstützung auf finanzieller und technischer Ebene, Vermittlung von Know-how, um neue Partner zu akquirieren). Dieser Vorschlag blieb letztendlich unberücksichtigt, das Abkommen enthält jedoch spezifische Klauseln für « neu entstehende oder im Zustand der Re-strukturierung befindliche Industrien, oder solche, die mit ernsthaften Problemen konfrontiert sind, vor allem, wenn diese gravierende soziale Probleme nach sich ziehen ». Zusätzlich erhält das Abkommen eine « Anti-Terrorismus »-Klausel, die als hart erkämpfte Errungenschaft ausgegeben wird, in Wahrheit aber ebenso einer Orientierung an der europäischen Politik wie einer Forderung der algerischen Seite zuzuschreiben ist. Diese Klausel kann trotzdem nicht über die Tatsache hinweg täuschen, dass das Abkommen ohne die nötige Sorgfalt ausgehandelt worden ist. Die algerischen Arbeitgeber haben deshalb die Regierung um « Neuverhandlungen mit der EU » gebeten, was durchaus noch möglich ist, solange das Abkommen nicht von den Parlamenten ratifiziert worden ist. Dabei geht es vor allem um « bestimmte tarifäre Bestimmungen ». Die Arbeitgeber haben in diesem Zusammenhang noch einmal bekräftigt, dass sie die Öffnung des Marktes grundsätzlich befürworteten, jedoch nicht auf einem ausreichenden Informationsstand seien, was Spielregeln, Inhalte und Bedingungen dieser Öffnung hin zu Europa anbelange. Sie fordern insbesondere, dass entsprechende Vorkehrungen getroffen würden, um die algerischen Unternehmen nicht allzu sehr dem Konkurrenzschock mit den europäischen auszusetzen und zu verhindern, dass europäische Unternehmer einfach auf dem algerischen Markt absahnen. Wenige Wochen nach Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU bat Algerien um Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO, in der es bereits Beobachtungsstatus besass, und vereinbarte mit ihr einen zweijährigen Verhandlungszyklus. Algerien rechnet mit der Hilfe der EU, um mit der WTO über Modalitäten beim Abbau tarifärer Bestimmungen zu verhandeln, um seine empfindlichsten Wirtschaftszweige vor der Auslandskonkurrenz schützen zu können. Es ist auch dabei, einen Beobachterstatus bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, zu beantragen, um von derem Know-how profitieren zu können. Mit diesen Abkommen verpflichtet sich Algerien, die Reformen, die es im Rahmen des Strukturanpassungsprogramms begonnen hat, fortzusetzen. Es hat damit gute volkswirtschaftliche Ergebnisse erzielt, zugleich aber auch seiner Bevölkerung grosse Opfer abverlangt. In diesem Klima des Terrors und der Repression wurden ohnehin die meisten sozialen Forderungen bereits im Ansatz erstickt. Heute erleben wir ein spektakuläres Erwachen der Protestbewegungen, und die Regierung wird es schwer haben, bei ihrer strikten Politik zu bleiben. Schon zwischen 2000 und 2001 ist die Inflationsrate von 0,3% auf 4,2% angestiegen, nachdem lediglich Löhne und Gehälter angehoben worden waren. Die neue Mehrheit der FLN in der Nationalversammlung, die aus den Wahlen vom 30. Mai 2002 – die auf breiter Ebene boykottiert worden sind – hervorgegangen ist, könnte der Regierung eine grosse Hilfe bei der Verabschiedung von Gesetzen sein, die bislang stets blockiert worden sind. Der Protest könnte sich jedoch wieder, sofern er sich in diesem Rahmen kein Gehör verschaffen kann, innerhalb der Zivilgesellschaft und den Gewerkschaftsbewegungen ausweiten, und erneute Unruhen nach sich ziehen. Eines der Hindernisse beim wirtschaftlichen Wachstum der Länder dieser Region liegt in ihrer schwachen Integration begründet. Die Waren- und Kapitalflüsse zwischen den einzelnen Maghreb-Ländern sind extrem reduziert, verglichen mit anderen Entwicklungsregionen. Diese Situation hält ausländische Investoren davon ab, sich in diesen Ländern niederzulassen, der lokale Markt wird als zu begrenzt eingeschätzt. Die Multinationalen wollen eher von Europa aus operieren als ihre Produktionsanlagen vor Ort anzusiedeln. Eine verstärkte Integration der Maghreb-Länder untereinander und darüber hinaus eine inter-arabische Freihandelszone könnte die Wettbewerbsfähigkeit günstig beeinflussen und dazu beitragen, den Zen-trum-Peripherie-Effekt des Assoziierungsabkommens mit der EU auszubalancieren. Von diesem Standpunkt aus betrachtet nimmt Algerien eine strategisch wichtige Position ein. Ebenso würde eine rasche Lösung des West-Sahara-Konflikts, der die algerisch-marokkanischen Beziehungen vergiftet, die Ankurbelung der wirtschaftlichen Integration der Maghreb-länder über das Bündnis des Vereinigten Maghreb, UMA, begünstigen. Die Erfahrung der Schliessung der Grenze zu Marokko 1994 und die daraus resultierende Abriegelung des algerischen Westens und marokkanischen Ostens, haben gezeigt, welch verheerende wirtschaftliche Folgen das für die Region haben kann.