Aufstand aus Ruinen

Algerien – ein Land am Rande des Zusammenbruchs

Aufstand aus Ruinen

Die Revolte der Berber ist zu einer sozialrevolutionären Bewegung angeschwollen, und das Regime ist ratlos

Rudolph Chimelli, Süddeutsche Zeitung, 22 Juni 2001

Paris – Eine Meldung aus Algerien ist Anfang der Woche beinahe untergegangen: In der Gegend von Chlef, etwa 200 Kilometer westlich der Hauptstadt, geriet eine Einheit der Armee in einen Hinterhalt von Terroristen. Dabei kamen 26 Soldaten ums Leben. Es war einer der schwersten Zwischenfälle seit langer Zeit in der Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und mutmaßlich islamistischen Banden. Doch die allgemeine Aufmerksamkeit hat sich von der blutigen Routine des Bürgerkriegs auf die Revolte der Straße gegen das Regime verlagert. Nichts ist bezeichnender für die gegenwärtige Stimmung im Lande.

Die Unruhen hatten im April in der Kabylei begonnen, als ein junger Berber von Gendarmen wegen einer Lappalie auf eine Dorf-Wache in der Nähe von Tizi Ouzou mitgenommen wurde und dort ums Leben kam. Seither finden fast täglich Protestmärsche statt, improvisiert oder geplant. Mehr als hundert Demonstranten wurden dabei erschossen, Tausende von Verletzten und Millionenschäden werden gezählt. Die Kundgebungen haben sich auf große Teile des Landes ausgedehnt.

„Hier bin ich, hier bleibe ich.“

Ruhig bleibt bisher nur der Westen Algeriens. In der Hauptstadt Algier demonstrierten vergangene Woche eine Million Unzufriedene, nicht nur Berber. Nachdem dabei Geschäfte, Autos und Behörden demoliert sowie zwei Journalisten überfahren worden waren, verbot die Regierung kurzerhand weitere Straßenmärsche. Aber es ist zweifelhaft, ob sie sich damit auf Dauer durchsetzen kann.„Ich bin kein Kapitän, der das Schiff verlässt!“ Mit diesen Worten dementierte Präsident Abdelaziz Bouteflika vor Journalisten Rücktrittsabsichten. „Hier bin ich, hier bleibe ich, nach dem Willen des Volkes, das mich gewählt hat. Der Presse, die meinen Rücktritt will, sage ich: Das werde ich nicht tun.“ Doch die Stellung des Präsidenten, dessen Amtszeit erst im Jahre 2003 ausläuft, ist schwer erschüttert.

Während seines Wahlkampfes im Frühling 1999 hatte Bouteflika als erster offen von den Krankheiten gesprochen, an denen Algerien leidet: Korruption, Vetternwirtschaft, Willkür, Gewalt, forcierte Arabisierung und Verelendung als wahre Ursache der Sympathien für die Islamisten. Keiner vor ihm hatte die Zahl der Opfer des damals achtjährigen Bürgerkriegs genannt, mehr als 100 000. Doch wenig oder nichts ist seither geschehen, und Bouteflika wurde zu dem bei weitem unpopulärsten Staatschef, den Algerien seit seiner Unabhängigkeit vor bald vier Jahrzehnten hatte. Als er in dieser Woche Tamanrasset besuchte, die Oasenstadt tief in der südlichen Wüste, wo keine Berber leben, sondern friedfertige Sahrauis, wurde er mit Plastikflaschen beworfen. „Nicht Hammelbraten, sondern Veränderungen“, riefen die Einwohner, für die ein Freudenfest organisiert worden war.

Der französische Orientalist Bruno Etienne, einer der besten Kenner Algeriens, zieht eine vernichtende Bilanz. Zur Pariser Zeitung Liberation sagte er, die Unruhen richteten sich „gegen das Elend, die Arbeitslosigkeit, die Verachtung, welche die herrschende Klasse dem algerischen Volk zeigt“. Im Gegensatz zu dem, was Algier behaupte, sei die seit zwei Monaten ansteigende Unzufriedenheit „keine kabylische, sondern eine politisch-soziale Angelegenheit“. Aus der Berberbewegung von Tizi Ouzou sei eine Sozialbewegung geworden. „Das Problem ist einfach: Algerien ist ein reiches Land, und die Algerier werden immer ärmer.

Mehr als ein Jahrzehnt lang hat laut Bruno Etienne „der Kampf gegen die Islamisten alle sozialen Ansprüche verhindert“. Heute aber seien die Islamisten an der Macht, „denn ein Teil von ihnen ist in der Regierung und im Parlament vertreten; und militärisch sind sie erdrückt worden“. Sie taugten also nicht länger als Vorwand. „Die paar Nester, die noch im Untergrund überleben, werden von den algerischen Geheimdiensten ausgehalten, damit die Clans sich gegenseitig bekämpfen.“ Das Fehlschlagen von Bouteflikas Politik der Gnade und der Reue sei offensichtlich.

Auf die Frage, wer hinter der Bewegung stecke, antwortete Etienne: „Niemand. Die Jugend zeigt ihren Zorn, und deshalb können die Machthaber nichts dagegen tun. Es handelt sich weder um eine islamistische noch um eine berberische Bewegung. Der Clan der Generäle und die Regierung wissen nicht, was tun, denn sie dachten, die Sache würde sich auf die Kabylei begrenzen lassen. Tatsächlich steht Algerien am Rand des Aufstandes.“ Alles könne kippen, und der Staatsmacht seien die Hände gebunden. „Entweder man tut nichts, oder es gibt ein Massaker.“

Als sich vor einer Woche die Riesenschlange durch Algier bewegte, fiel den Regierenden nichts Besseres als der Versuch ein, die Berber als Randalierer in Verruf zu bringen. Riegen von Fußball-Fans wurden gegen sie mobilisiert. Sie saßen auf den Wasserwerfern der Polizei und schrien „Tod den Kabylen!“ Andere Steine werfende Gegendemonstranten aus dem Viertel Bab-el-Oud riefen: „Da sind die Kabylen! Sie sind die Schläger! Berber go home!“ Sogar die Getreuen eines Islamisten-Emirs aus dem Viertel Belcourt wurden gegen die Berber aufgeboten.

Einwohner der Hauptstadt urteilen überwiegend, dass ein großer Teil der Schäden und Plünderungen auf das Konto der sogenannten Patrioten ging. Ein offizieller Sprecher pries indessen die Jugend Algiers dafür, dass sie die Ehre der Hauptstadt gegen Aufrührer und Saboteure verteidigt habe. Das staatliche Fernsehen, sonst äußerst zurückhaltend in seiner Berichterstattung über Problem-Themen aller Art, zeigte die Schäden ausführlich. In einigen arabischen Städten Algeriens wurde hingegen schon der Sprechchor gehört: „Wir sind alle Kabylen!“

Bouteflika ließ schließlich Andeutungen folgen, Frankreich habe seine Hand im Spiel. „Jugend der Kabylei, Jugend Algeriens, ihr müsst wissen, dass unser Land von mehreren ausländischen Mächten zum Ziel gemacht worden ist“, sagte er – diesmal auf Arabisch. Er nannte die Franzosen nicht direkt, war aber gleichwohl nicht zu missverstehen, als er fortfuhr „… zum Ziel genommen von jener Macht, die uns nach eineinhalb Jahrhunderten ihre Herrschaft nicht endgültig auferlegen konnte und daran noch immer leidet wie jemand, der sein Paradies verloren hat“.

„Aus den Tiefen des Volkes“

Erst nach langem Zögern und nachdem Menschenrechts- Organisationen energisch Stellungnahmen verlangt hatten, reagierte Paris. Außenminister Hubert Védrine nannte die Volksbewegung in Algerien vor der Nationalversammlung „zutiefst legitim“. Frankreich sei „sehr empfindlich für die Forderung, die Sehnsucht, den Ruf nach wirklicher Veränderung, nach Rückkehr zu politischer, demokratischer, wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung, der aus den Tiefen des Volkes von Algerien kommt“. Die EU- Staaten hätten darum während ihres Treffens in Göteborg an die Verantwortlichen in Algerien appelliert, „eine politische Initiative von großer Reichweite zu ergreifen“.

Die beiden Berber-Parteien wurden von den Ereignissen überrollt. Dies trifft in erster Linie auf die RCD von Said Saadi zu, die sich erst nach dem Ausbruch der Unruhen von ihrer Regierungsbeteiligung abwandte. Es gilt aber auch für die oppositionelle FFS von Hocine Ait Ahmed, der von Genf aus internationalen Rückhalt zu organisieren sucht. Alle warten auf den 25. Juni. Dann jährt sich zum dritten Mal der Tag, an dem der kabylische Sänger Lunes Matoub in Tizi Ouzou ermordet wurde. Sein Tod führte damals zu Ausbrüchen von Trauer, Empörung und Gewalt. Heute ist die Stimmung viel explosiver.