Algerien vor dem Staatszerfall?

Algerien vor dem Staatszerfall?

Werner Ruf (1), Blätter für deutsche une internationale Politik, August 2001

« Ihr könnt uns nicht töten, wir sind schon tot » stand auf einem riesigen Transparent einer der großen Massendemonstrationen in Tizi Ouzou, der Hauptstadt der Kabylei. Diese Parole bringt sehr einfach auf den Nenner, worum es den Demonstranten ging und geht: Nicht um die in Teilen der westlichen (vor allem französischen) Medien immer wieder bemühte Frage der Ethnizität, das Einfordern der offiziellen Anerkennung der berberischen Sprache und Kul-tur seitens der Kabylen, nein, es war der Protest einer jeder Perspektive beraubten Jugend gegen das soziale Elend, die mangelnde Ausbildung, die absolute Chancenlosigkeit an einem nicht mehr existenten Arbeitsmarkt. Dass sich sozialer Protest wütend Bahn brach, wird auch unterstrichen durch die Tatsache, dass die Unruhen lauffeuerartig auf weite Teile des ganzen Landes übergriffen. Und zugleich artikulierte sich massiver politischer Protest: An der großen Demonstration gegen das Vorgehen der « Sicherheitskräfte » beteiligte sich am 14. Juni in Al-gier etwa eine halbe Million Menschen. Sie skandierten Slogans wie « Regierung – Mörder » und « Regierung – Terroristen ».

Begonnen hatte alles mit einer in Algerien längst banalen Alltäglichkeit: Am 18. April wurde ein Jugendlicher verschleppt und im Gendarmerie-Posten ermordet (wie in Frankreich unter-steht die Gendarmerie dem Verteidigungsministerium). Alltag in einem Land, in dem seit dem Putsch des Militärs am 11. Januar 1992, mit dem die ersten demokratischen Wahlen abgebro-chen, der Staatspräsident abgesetzt und die Verfassung außer Kraft gesetzt wurden, mehr als 150 000 Menschen ermordet, bestialische Foltermethoden systematisiert wurden, über 10 000 Menschen « verschwunden » und Hunderttausende auf der Flucht sind. Ein Land, in dem der Staat sich selbst des Gewaltmonopols entledigte, indem er rund 200 000 « Patrioten » bewaff-nete, die sich und ihre Dörfer gegen die Angriffe islamistischer Gruppen selbst schützen soll-ten, während es diesem Staat gleichzeitig gelingt, Tausende Kilometer von Pipelines wirksam zu schützen, stellen sie doch den Lebensnerv des Regimes dar: die Deviseneinnahmen aus den Exporten von Erdöl und vor allem Erdgas (98% der Staatseinnahmen). Obskur sind und blei-ben auch die seit 1993 operierenden « Bewaffneten islamischen Gruppen » (GIA). Immer deut-licher wurde, dass diese Gruppen zu einem großen Teil vom Militärischen Sicherheitsdienst (SM, vormals DRS) unterwandert und teilweise gesteuert wurden: Kaum ein Angehöriger dieser Gruppen wurde je gefangen genommen und vor Gericht gestellt.
In der Regel werden sie « im Kampf erschossen », wie einer der bekanntesten Bandenführer, Antar Zouabri, der, nachdem er schon dreimal liquidiert worden war, zum vierten Mal wieder im Untergrund erschien. Zwei jüngst erschienene Bücher (2) belegen im Detail, worauf viele Indizien schon lange hindeuteten: Die Armee selbst ist an Massakern der Zivilbevölkerung beteiligt.

Undurchsichtig blieb auch die von Präsident Bouteflika nach seiner Wahl verkündete « Am-nestie », die « reuigen Terroristen » die Rückkehr ins zivile Leben ebnen sollte, so sie sich nicht des Mordes und der Vergewaltigung schuldig gemacht haben. Hierzu gab es keinerlei öffent-liche Verhandlungen, geschweige denn Aussagen über die Prozeduren. Dies verdichtet die Spekulationen, dass dieses Gesetz in erster Linie dazu diente, den Agenten der SM innerhalb der terroristischen Gruppen den Weg zurück in ein ziviles Leben zu ebnen. Überhaupt ist der Militärische Sicherheitsdienst das Rückgrat des Regimes, das seit der Unabhängigkeit Alge-riens hinter einer mehr oder weniger zivilen Fassade die reale Macht des Staates darstellte: Nur mit Unterstützung der Armee wurde Ahmed Ben Bella 1962 erster Staatspräsident, die Armee unter seinem Verteidigungsminister Boumedienne stürzte ihn am 19. Juni 1965. Sein Nachfolger, Oberst Chadli, wurde von der Armee gekürt. Und als er unmittelbar vor den Par-lamentswahlen im Dezember 1991 die Bereitschaft erkennen ließ, mit der als Protestpartei zu verstehenden Islamischen Heilsfront nach deren voraussehbarem Wahlsieg zu paktieren, putschte die Armee. Durch Parlamentswahlen, Verfassungsreferenden, Präsidentschaftswah-len (nie gab es in Algerien so viele Wahlen wie seit dem Putsch!) verfolgten die Generäle jedoch nur ein Ziel: Jenen Schein aufzubauen, dass es in Algerien freie Wahlen, Demokratie und eine Parteienpluralität gäbe, die es dem Westen – allen voran Frankreich – erlaubten, das Regime in Algier weiter zu unterstützen. Der von den Militärs ausgegebene platte Slogan « Keine Demokratie für die Feinde der Demokratie », der auch in der bundesrepublikanischen Debatte übernommen wurde (3), vermochte es, für eine Weile den simplen Tatbestand zu ver-decken, dass Demokratie nicht aus Gewehrläufen kommt und von einer putschistischen Mili-tärclique « geschützt » werden kann.

Angesichts dieser Bilanz wird deutlich: Die Gewalt ist für das Regime funktional. Nur die Fortdauer der Gewalt rechtfertigt die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands, legitimiert scheinbar die Politik der Militärs, « den Terrorismus zu terrorisieren ». Vor allem aber: Aus-nahmezustand und Terror verhindern jede demokratisch-öffentliche Kontrolle der mafiösen ökonomischen Machenschaften der Machthaber. Algerien muss 80% seiner Grundnahrungs-mittel und fast sämtliche Medikamente importieren. Importlizenzen besitzen nur wenige, mit den Machthaber eng verbundene Personen. Die Beschaffung von Auslandskrediten für die Importe zu überhöhten Zinsen und Vermittlungsgebühren ermöglicht gewaltige Provisionen, die künstliche Verknappung von Lebensmitteln und Medikamenten gigantische Preissteige-rungen und entsprechende Profite.

Symptome des Verfalls

Mit dem Anstieg des Ölpreises, an den auch der Erdgas-preis gekoppelt ist, wurde Algerien in letzter Zeit trotz außerordentlich hoher Auslandschul-den wieder einigermaßen liquide: Die Beschaffung von Waffen und Ausrüstung für die Ar-mee ist ein für Schmiergeldzahlungen besonders attraktiver Markt, und die durch die momen-tane relative Liquidität angeregte Investitionslust des Auslands ermöglicht – wie schon in den 70er und 80er Jahren – erhebliche « Provisionen » bei der Auftragsvergabe. Diese dürften erst recht fließen aufgrund der vom IWF durchgesetzten Strukturanpassungsauflagen: Algerien muss seine Wirtschaft privatisieren. So wurde in den letzten beiden Jahren eine Vielzahl von joint ventures gegründet, in denen sämtliche Öl- und Chemie-Multis vertreten sind. Die alge-rische Kapitalbeteiligung an diesen privatisierten Betrieben ist zugleich eine attraktive Form der Geldwäsche für illegal erworbene Vermögen. Nicht zuletzt ermöglichen die Entscheidun-gen darüber, welche ausländischen Bieter den Zuschlag für die Übernahmen der Filetstücke der staatlichen Erdölfirma SONATRACH erhalten, welcher Konzern neue Prospektions- oder Förderkonzessionen erhält, wiederum beträchtliche « Provisionen ». Und diese fließen folge-richtig in die Taschen der wenigen « Entscheider » an der Spitze des Regimes. Nicht die Ret-tung einer inexistenten Demokratie vor einem islamistischen Totalitarismus waren die Motive für den Putsch, sondern die Tatsache, dass die islamische Heilsfront FIS aufgrund ihres Wahl-sieges auch die reale Macht beansprucht hätte. Nach wie vor bemüht das Regime den Islam zu seiner Legitimation. Seit dem Putsch sind islamistische Parteien wie insbesondere das Mou-vement de la Société pour la Paix (MSP, vormals hamas), die programmatisch dieselben Ziele wie die FIS verfolgen, an der Fassaden-Regierung beteiligt, hinter der sich die reale Macht verbirgt.

Die Ereignisse in der Kabylei und im Rest des Landes während der drei vergangenen Monate haben gezeigt, dass ein Punkt erreicht ist, an dem der Staatsterror gegen die eigene Bevölke-rung seine Wirkung zu verlieren beginnt. Die Auflösung staatlicher Strukturen bis hinein in den Sicherheitsbereich (« Patrioten »), vor allem aber der Rückzug des Staates aus seinen ele-mentaren Aufgaben wie öffentliche Sicherheit, Rechtswesen, Wasserversorgung, Wohnungs-bau bis hin zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten wird immer offensichtlicher und gewinnt durch die grassierende Arbeitslosigkeit vor allem der Jugend eine immer explosivere politische Dimension, der durch pure Repression nicht mehr beizukommen ist. Aufschlussreich ist auch der Umgang mit der in der Kabylei ausgelösten Krise: Polizei und Militär hielten sich auffallend zurück, während die Gendarmerie mit äu-ßerster Brutalität « die Drecksarbeit » erledigte (4).

Im Militär selbst gärt es seit langem. Dies zeigen nicht nur die Überläufer zu islamistischen Terrorbanden (jenseits der Unterwanderer), sondern auch die zunehmenden Desertionen wie auch die Wirkung, die vor allem Souaidias Buch innerhalb der Armee zu haben scheint. Es zeigt sich auch in den außerordentlich umfangreichen und präzisen Informationen des MAOL, die über Internet zugänglich sind und sogar auf Schweizer Kontonummern der führenden Ge-neräle verweisen. Das MAOL (Mouvement Algerien des Officiers Libres) ist eine Organisati-on desertierter Offiziere, die ganz offensichtlich beste Kontakte zu Personen im Militärischen Sicherheitsdienst haben. In wieweit dies als Anzeichen dafür gelten kann, dass auch das Rückgrat des Regimes brüchig wird, muss spekulativ bleiben. Tatsache ist, dass im Juni 2001 umfangreiche Umbesetzungen in zentralen militärischen Kommandoposten stattgefunden haben. Und die Verlautbarungen der algerischen « freien Presse » zeigen, dass zwischen den Clans an der Macht heftige Kämpfe toben, sind doch mehrere dieser Zeitungen Instrumente eben dieser Clans, die durch « Enthüllungen » zur Beseitigung politischer Gegner beitragen, wie dies beispielsweise durch Offenlegung korrupt-krimineller Praktiken des Generals Bet-chine, des Beraters von Bouteflikas Vorgänger, geschah Diese Kampagne leistete einen we-sentlichen Beitrag zum vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten Zeroual, der den Erwartungen, die die Militärs in ihn gesetzt hatten, nicht mehr entsprach. Zu diesen Kämpfen unter den Clans gehört auch, dass Bouteflika den massiven Einsatz der Armee im kabylischen Aufstand forderte – um die Generalität, die nach Presseberichten offen über seine Absetzung nach-denkt, zu diskreditieren? Im Gegenzug stellte Generalstabschef Lamari plötzlich fest, dass diese Unruhen eine innere Angelegenheit seien, für die das Militär nicht zuständig sei – um die Gendarmerie allein für die Gräueltaten verantwortlich zu machen, steht sie doch unter dem Kommando des als Bouteflika-treu geltenden Generals Boustila? Und/oder hat die Stimmung innerhalb des mittleren Offizierskorps und der Mannschaften einen Punkt erreicht, wo diese nicht mehr bereit sind, auf die eigene Bevölkerung zu schießen?

Die Leiden der algerischen Bevölkerung hätten längst abgekürzt werden können, würden nicht Europa und die USA ein Regime bedingungslos stützen, das jede Legitimität verloren hat und dessen Menschenrechtsverletzungen ein Vielfaches dessen darstellen, was ein Pino-chet oder gar Milosevic verbrochen haben. Gerade die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass
Algerien, ein wichtiges Land vor den Toren Europas, im Begriff ist, von einer Handvoll raff-gieriger Generäle in ein Chaos gestürzt zu werden, aus dem ein Ausweg schwer sichtbar ist. Nur massiver westlicher Druck könnte dazu führen, dass das gegenwärtige Regime den Weg freimacht für eine Transformation, in der demokratisch legitimierte Akteure mit der Wieder-herstellung von Staatlichkeit beginnen könnten.

 


(1) Autor der Buches: Die algerische Tragödie. Vom Zerbrechen des Staates einer zerrissenen Gesellschaft. Müns-ter 1997.

(2) Yous, Nesroulah: Qui a tué à Bentalha, Paris 2000, Souaidia, Habib : La sale guerre, Paris 2001. Yous überlebte das Massaker von Bentalha am 22. Sept. 1997, bei dem etwa 400 Menschen umgebracht wurden, Souaidia war Offizier der antiterroristischen Spezialeinheiten.

(3) Faath, Sigrid: Keine Demokratie für die Feinde der Demokratie? In: Blätter … 3/1993, S. 281-289

(4) s. die erschütternden Details in: Mellah, Salima/Yacine, Nasreddine: Ein Gendarm spuckte auf den Toten; in: Frankfurter Rundschau, Dokumentation, 5. Juli 2001.