Das Gewissen der Republik
Das Gewissen der Republik
Das Ende einer Lebenslüge: Der « schmutzige » Krieg in Algerien sucht Frankreich heim
Johannes Willms, Süddeutsche Zeitung, Freitag, 24. November 2000
Manchmal kommt alles zusammen. Der vache qui rit, der lachenden Kuh, die zu Frankreichs inoffiziellem Emblem geworden war, ist angesichts der BSE-Krise längst das Lachen vergangen. Die Concorde, der technologische Stolz Frankreichs, ist immer noch am Boden, während der gerade zu einer ersten langen Hochseefahrt ausgelaufene Flugzeugträgers Charles de Gaulle wegen Reparaturen heimkehren muss. Außerdem gibt es politische Probleme zuhauf. Frankreich ist also augenblicklich in keiner guten Verfassung, weshalb die Bekenntnisse zweier hochdekorierter und wenigstens in konservativen Kreisen als fraglose Vorbilder geschätzter Generäle, die von der Pariser Nachmittagszeitung Le Monde jetzt veröffentlicht wurden, die latente Sinnkrise, an der das Land und insbesondere die V. Republik zu leiden hat, nur erheblich verschärfen können. Beide Generäle, der 92-jährige Jacques Massu und der zehn Jahre jüngere Paul Aussaresses, haben damit ein Tabu verletzt, das an eine französische Lebenslüge rührt, indem beide frank und frei zugaben, dass während des Algerienkrieges von 1954 bis 1962 auf französischer Seite nicht nur die Folter als ein Mittel der Geständniserpressung gang und gäbe war, sondern dass es auch zu summarischen Liquidationen von Verdächtigen gekommen ist. Diese Praktiken waren zwar alle längst bekannt, aber dass sie systematisch angewendet worden seien, das wurde offiziellerseits stets bestritten. Während aber General Massu geradezu sagt: « Wenn Frankreich diese Praktiken anerkennt und verdammt, dann hielte ich dies für einen Fortschritt », lässt General Aussaresses solche Einsicht vermissen. Aussaresses gesteht in dem Interview nicht nur ein, dass er Folterungen angeordnet habe, sondern er bekennt sich auch dazu, 24 gefangene Algerier eigenhändig getötet zu haben. Dem Gedanken, dass Frankreich die Schuld zugibt, die es im Algerienkrieg auf sich geladen hat, widerspricht der General aber entschieden: « Man muss das nicht bereuen. Was vorgefallen ist, das muss man genau und bestimmt anerkennen, gewiss, aber gleichzeitig sollte man sich davor hüten, zu verallgemeinern. Was mich anbelangt, so bereue ich nichts.
Dieses späte Geständnis der beiden Generäle wiegt umso schwerer, als beide während des Algerienkrieges wichtige militärische Funktionen in der Hauptstadt Algier bekleideten. Massu war Chef der berüchtigten zehnten Fallschirmjägerdivision, die für die « Sicherheit » in Algier zuständig war. Der damalige Oberst Aussaresses leitete seit Januar 1957 die militärischen Geheimdienstoperationen. Seine Aufgabe bestand insbesondere darin, das Geflecht der algerischen Befreiungsbewegung FLN bloßzulegen. Die « legalen Voraussetzungen dafür waren am 12. März 1956 durch die damalige Linksregierung des Sozialisten Guy Mollet geschaffen worden. Den Sicherheitsbehörden in Algerien wurden damit « Sondervollmachten », die diesen die Wahl der Mittel zur Bekämpfung des « Terrorismus » völlig freistellte, eingeräumt. Was dies bedeutete, enthüllt unzweideutig folgende Bestimmung, dass für alle Verbrechen, die in Algerien begangen wurden, künftig nicht mehr die ordentliche Gerichtsbarkeit, sondern ausschließlich Militärgerichte zuständig seien. Diese jeglichem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit Hohn sprechende Bestimmung, der übrigens der damalige Justizminister namens François Mitterrand widerspruchslos zustimmte, öffnete der Praxis von Folterungen und summarischen Hinrichtungen Tür und Tor.
Kostspieliger Vorsatz
Dies alles ist aber nur ein Teilaspekt der algerischen Tragödie, mit deren schmutziger Nachgeburt sich Frankreich jetzt rund vierzig Jahre später konfrontiert sieht. Begonnen hatte diese Tragödie unmittelbar mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Algerien sollte « integraler Bestandteil » de la France une et indivisible koste es, was es wolle, bleiben. Das war der politische Wille Frankreichs. Dass dieser Vorsatz sehr kostspielig werden könne, war damals längst klar, denn bereits am 8. Mai 1945, dem Tag, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa endete, begann eigentlich der Algerienkrieg. An diesem Tag nämlich schossen französische Truppen im algerischen Constantine eine Demonstration von Algeriern zusammen, die für die Autonomie ihres Landes innerhalb des französischen Staatsverbandes eintraten. Dieser Brutalität der französischen Armeeeinheiten fielen auch an den folgenden Tagen noch mehrere hundert, wenn nicht gar tausende Algerier zum Opfer. Das zeigte, dass Frankreich von Anfang an gesonnen war, die algerische Freiheitsbewegung mit allen Mitteln zu unterdrücken. Es sah sich also nicht erst dazu gezwungen, wie die Apologeten bis heute behaupten, als der Konflikt mit dem Toissaint rouge, dem « roten Allerheiligen » 1954, offen aufbrach. Damals begann die algerische Unabhängigkeitsbewegung mit rund 70 Anschlägen auf militärische und zivile Einrichtungen mit Gewalt gegen die französische Herrschaft aufzubegehren.
Frankreich sind diese Erinnerungen an seine algerischen Verstrickungen deshalb so überaus penibel, weil sie eine Lebenslüge tangieren, die eine stets tabuisierte Grundlage der IV. wie der heutigen V. Republik darstellt. Noch immer gründet sich das politische Selbstbewusstsein des Landes und insbesondere das seiner politischen Mandarine darauf, dass Frankreich eine der vier großen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges sei. Dass es diese Rolle recht eigentlich nur dem amerikanischen Wohlwollen zu verdanken hat, indem es beispielsweise symbolisch der Panzerdivision des Generals Leclerc den Vortritt bei der « Befreiung » von Paris 1944 ließ, nachdem es die deutschen Besatzungstruppen zuvor weitgehend geräumt hatten, ist längst durch den Mythos der Résistance erfolgreich verdrängt worden. Da jede Nation solche Mythen für ihre Selbstvergewisserung und Selbstachtung braucht, wäre es ein Gebot der Höflichkeit, diese mit Schweigen zu übergehen. Allein, in Frankreich hat dieser Mythos zu einer Selbstüberschätzung geführt, die bis heute unvermindert andauert und die Einsicht in die Tatsache verstellte, dass das Land den Zweiten Weltkrieg nicht wirklich gewonnen, ihn aber zweimal nachträglich verloren hat: in Indochina und in Algerien.
Diese Wahrnehmungsverweigerung gehorcht ihrer eigenen Logik, die Gaston Monnerville, einer der großen politischen Mandarine der IV. Republik einmal in die Worte fasste: « Ohne das (französische Kolonial-)Reich wäre Frankreich nichts anderes, als ein befreites Land; dank seines (Kolonial-)Reiches jedoch ist es ein Siegerstaat. » Die Generäle Massu und Aussaresses haben jetzt mit ihren freimütigen Äußerungen zum Algerienkrieg eine Bresche in diese ehern beschwiegene Lebenslüge geschlagen. Welchen Nerv sie damit trafen, verrät die Reaktion des Generals Marcel Bigeard, des am höchsten dekorierten französischen Haudegens, der in Indochina wie in Algerien mit dabei war und der der konservativen Zeitung Le Figaro gegenüber erklärte, seine beiden Kollegen suchten damit « Frankreich zu beschädigen, während de Gaulle und selbst Mitterrand bestrebt waren, eben dies zu unterbinden ». Vielleicht ist eine solche Beschädigung aber auch ein Segen für Frankreich, das damit die Chance erhält, mit sich und der eigenen Vergangenheit ins Reine zu kommen.