Wer tötete in Bentalha?
Algerien: Chronik eines angekündigten Massakers
Wer tötete in Bentalha?
Von Nesroulah Yous in Zusammenarbeit mit Salima Mellah, Nachwort von François Gèze und Salima Mellah, Verlag La Découverte, Paris, Oktober 2000.
Das Buch « Qui a tué à Bentalha? Algérie: Chronique d’un massacre annoncé » löst in Frankreich große Debatten aus.
Am 22. September 1997 suchen etwa zweihundert bewaffnete Männer bei Anbruch der Dunkelheit Bentalha, ein Viertel in der Nähe von Algier, heim. Sie massakrieren über vierhundert Menschen, Frauen, Kinder und Männer, systematisch, methodisch und planmäßig. Während die Schreie der Opfer und die Detonationen der Bomben über Kilometer zu hören sind, bezieht das Militär in einigen Metern Entfernung vom Schauplatz des Massakers Stellung. Gepanzerte Fahrzeuge und Rettungswagen rücken an, greifen aber nicht ein, ja hindern sogar Nachbarn daran, Hilfe zu leisten.
Dieses Buch ist das ergreifende Zeugnis eines Mannes, Nesroulah Yous, der diesen Alptraum überlebt hat. Sein Bericht wirft ein völlig anderes Licht auf die Ereignisse als die von der algerischen Regierung autorisierte offizielle Version. Diese hatte der empörten Weltöffentlichkeit erklärt, daß die in nahe der Hauptstadt gelegenen Dörfern verübten Massaker von Horden wahnsinnig gewordener islamischer Fundamentalisten durchgeführt worden seien. Alle anderen Darstellungen, die nicht mit dieser Version übereinstimmten, wurden totgeschwiegen.
Heute, drei Jahre nach dieser schrecklichen Nacht liegt ein Zeugnis vor, das erschreckende Einzelheiten über das Geschehen enthüllt. Die bereits im Herbst 1997 von vielen Beobachtern und Zeugen geäußerten Vermutungen und Befürchtungen werden von genauen Beobachtungen und aussagekräftigen Indizien bestätigt: Diese Massaker wurden von Fraktionen der Armee geplant und ausgeführt.
Dieses Buch handelt aber nicht nur von den Ereignissen in dieser schrecklichen Nacht, sondern zeigt die Entwicklung eines Viertels auf, das in die Wirren eines Krieges geraten ist, der nie als solcher bezeichnet wird. Nach dem Putsch im Januar 1992 traf eine erbarmungslose Repression die Sympathisanten und potentiellen Sympathisanten der FIS. Bewaffnete Gruppen formierten sich. Anfangs fanden sie Zustimmung in der Bevölkerung, doch im Laufe der Jahre veränderten sie ihren Charakter. Immer mehr Aktionen dieser Gruppen richteten sich gegen die Kreise ihrer früheren Unterstützer. Immer öfter wurde nach den Hintermännern dieser Gruppen gefragt, zumal sie sich trotz der Präsenz des Militärs unbehelligt bewegen konnten. Als schließlich die Armee die vollständige Kontrolle über die Region übernahm, fanden die großen Massaker des Spätsommers 1997 statt.
Nesroulah Yous schildert, wie die Angreifer mit LKW’s anrückten, nach einem exakten Plan vorgingen und sich sicher sein konnten, daß ihnen trotz der Anwesenheit der Armee wenige Meter vom Schauplatz entfernt die ganze Nacht zur Verfügung stand. Ein Militärhubschrauber kreiste stundenlang über dem Viertel, und die Zivilisten, die zu Hilfe eilten, wurden daran gehindert, in das Viertel zu gelangen. Diese Umstände und weitere Fakten lassen befürchten, daß das Massaker in Bentalha von Spezialeinheiten der Armee verübt wurde.
Dieses Zeugnis sorgt seit seinem Erscheinen in Frankreich für lebhafte Diskussionen. Die mit großer Vehemenz von den Verfechtern der These, daß islamische Fundamentalisten für die Massaker verantwortlich seien, durchgesetzte Version, gerät ernsthaft ins Wanken. Große Tageszeitungen wie Le Monde, Libération und Le Figaro haben das Buch sehr positiv aufgenommen und ganzseitig Ausschnitte veröffentlicht. Immer mehr Persönlichkeiten unterstützen die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission in Algerien.
Die deutschen Medien hatten die Schriften der französischen Intellektuellen Bernard Henry Lévi und André Glucksmann, die die algerische Armee von jeglicher Verantwortung freisprachen, übersetzt. Das Zeugnis von Nesroulah Yous muß schon aus diesem Grund auf Interesse in Deutschland stoßen und die erste Reaktion liegt bereits mit der Besprechung in der FAZ vor. Viel entscheidender ist jedoch, daß die deutsche Öffentlichkeit damals mit großer Aufmerksamkeit und Unverständnis diese Greueltaten verfolgt hat. Sie sollte auch heute davon informiert werden, daß weitere Erkenntnisse vorliegen, die ein anderes Licht auf die Ereignisse werfen.