Die Wiederwahl Bouteflikas und was hinter den Kulissen geschah

Die Wiederwahl Bouteflikas und was hinter den Kulissen geschah

Ein Stück in vier Akten

Salima Mellah, Algeria-Watch, Mai 2004

9. April 2004 um 14 Uhr: Der algerische Innenminister Yazid Zerhouni gibt die Ergebnisse der am Vortag abgehaltenen Präsidentschaftswahlen bekannt. Abdelaziz Bouteflika ist der unumstrittene Sieger mit über 83 % der Stimmen (später wird die Zahl vom Verfassungsrat auf 85 % nach oben korrigiert). Sein Kontrahent Ali Benflis, der im Vorfeld der Wahlen als ernsthafter Rivale präsentiert wurde, erhielt nur 6,40 % der Stimmen. Die vier anderen Kandidaten erreichten noch geringere Prozentzahlen: Abdallah Djaballah: 5 %; Saïd Sadi:1,94 %; Louiza Hanoune: 1 % und Fawzi Rebaine: 0,63 %.

Die Oppositionskandidaten Ali Benflis, Saïd Sadi und Abdallah Djaballah erhoben den Vorwurf, es sei zu massiven Wahlfälschungen gekommen. Doch keiner von ihnen konnte konkrete Belege für diese Behauptung vorlegen. Den Umfragen am Wahltag zufolge galt Bouteflika als Favorit. Der für den Abend angekündigte Straßenprotest im Fall eines Wahlbetrugs blieb mangels Beteiligung aus. Hinzu kommt, dass ausländische Beobachter erklärten, die Wahl sei „transparent“ und fälschungsfrei verlaufen, was auch viele algerische und ausländische Journalisten bestätigten. Weder die Wahlbeobachter der Parteien noch die Wähler klagten über ernsthafte Unregelmäßigkeiten. Und dem Verfassungsrat wurden verhältnismäßig wenige Beschwerden vorgelegt.

Kann daraus geschlossen werden, dass der Wahlprozess ordnungsgemäß und legal verlief?
Entgegen der Propaganda, der viele algerische Politiker und Beobachter, aber auch ausländische Diplomaten und Medien verfielen, war Ali Benflis nie eine wirkliche Herausforderung für Bouteflika, der sich einer Mehrheit der Stimmen sicher sein konnte. Fraglich war nur, wie hochdie Wahlbeteiligung und der Sieg Bouteflikas ausfallen würde. Erstere lag bei 58 %. Und dass 85 % der Wähler dem amtierenden Präsidenten ihre Stimme gaben, wunderte selbst dessen Anhänger.

Und dennoch sind sich die meisten kritischen Beobachter einig, dass dieses Ergebnis nicht wirklich die Realität abbildet. Manche Kommentatoren rätseln, wie diese „intelligente“ und „unsichtbare“ Fälschung organisiert werden konnte? In der Kategorie der Manipulationen bei der vorbereitenden Organisation der Wahl wird u. a. behauptet, dass die Zahl der Wahlberechtigten um 2 Millionen erhöht worden sei und dass etwa eine Million Wahlberechtigte, die als Flüchtlinge im Land leben, keinen offiziellen Wohnsitz haben und daher nicht wählen können, dennoch mitgezählt wurden. Diese Eingriffe sind für Außenstehende schwer nachprüfbar. In der Kategorie der politischen Manipulationen ist die Liste der Vorwürfe lang: der wichtigste Konkurrent Bouteflikas, Ahmed Taleb Ibrahimi, wurde mit einem schlecht inszenierten Kunstgriff nicht als Kandidaten zugelassen; Bouteflika monopolisierte schon immer die staatlichen Medien und vor allem das Fernsehen; er startete seine Wahlkampagne Monate vor den anderen, indem er das gesamte Land bereiste und großzügig Milliarden von Dinaren verteilte, usw. Doch diese Faktoren allein erklären nicht den Sieg des als unpopulär präsentierten Präsidenten.

Djamel Zenati, ein Verantwortlicher der FFS (Sozialistische Partei, die zum Boykott der Wahl aufrief), analysiert die tieferliegende Ursache für diesen haushohen Sieg folgendermaßen: „Seit Jahren werden alle Techniken zur Manipulation der verschiedenen Formen gesellschaftlicher Repräsentation und zur Beeinflussung des Denkens angewendet. Das Ziel ist in den Köpfen die Idee einzupflanzen, dass das aktuelle System Schicksal ist, und jede Veränderung nur in eine ungewisse Zukunft führen kann. Die ganze Wahlkampagne von Bouteflika drehte sich um diese Achse. Er präsentiert sich als den Kandidaten der Kontinuität im Gegensatz zur Veränderung und suggeriert dabei eine doppelte Identifikation, nämlich Kontinuität – Stabilität versus Veränderung – Chaos. Einfach gesagt: Ich oder das Chaos. Das kommt einer Erpressung gleich. Es ist unbestreitbar, dass Bouteflika der Kandidat der Entscheider ist.“

In den letzten Wochen vor der Wahl bestätigte sich immer mehr, dass die Militärführung ihren Äußerungen zum Trotzzu einem Konsens gefunden hatte. Eine virtuos geführte Operation sollte die gesamte algerische und internationale Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die Armee sich vollständig aus den Regierungsgeschäften zurückgezogen und die politische Klasse sich selbst überlassen habe. Das geschickt ausgeklügelte Szenario hatte vier Akte:

Erster Akt: Machtkampf zwischen Bouteflika und den „Putschisten“

Die verbalen Seitenhiebe Bouteflikas in Menschenrechtsfragen wurden als Drohgebärden gegenüber den „Putschisten“ interpretiert. Jahrelang wurde die Öffentlichkeit mit dem angeblichen oder auch realen Machtkampf zwischen dem Präsidenten und der Armeeführung in Atem gehalten. Obwohl die gesamte politische Klasse sich für die Politik der „zivilen Eintracht“, die einer Amnestierung kollaborierender Mitglieder von bewaffneten Gruppen und eingeschleusten Geheimdienstagenten gleichkam, ausgesprochen hatte, beschuldigte ihn eine Fraktion, mit den Islamisten zu paktieren und den Terrorismus zu fördern. Dabei übernahm Bouteflika lediglich die politische Verantwortung für eine Maßnahme, die der Geheimdienst eingeleitet und durchgeführt hatte. Die Umsetzung der „zivilen Eintracht“ oblag stets dem Sicherheitsdienst. Bouteflika selbst hat den Islamisten gegenüber kein konkretes Entgegenkommen gezeigt, wenn seine eigentlichen Chefs dies nicht wünschten. So erhielten z.B. Abassi Madani und Ali Benhadj keinen Straferlass. Sie wurden erst nach Ablauf der vollen Strafe von zwölf Jahren im Sommer 2003 freigelassen und unterliegen seither sehr strengen Auflagen, die sie daran hindern, sich politisch zu äußern und zu betätigen.

Hinter diesem Machtkampf verbarg sich das Vorhaben, das Regime zu erhalten und international wieder salonfähig zu machen. Dies gelang Bouteflika. Nach außen begann einige Monate nach Amtsantritt von Bouteflika im April 1999 eine heftige Medienkampagne einiger privater Zeitungen gegen ihn und riss seitdem nicht ab. Alles Übel in Algerien wurde ihm angelastet. Dies ließ die Jahre des Staatsterrors mit Zehntausenden von Toten und Verschwundenen in den Hintergrund rücken. Bouteflikas Aufgabe war es, dem blutigen „Jahrzehnt der Neunziger“ einen Schleier der Verleugnung überzuziehen.

Zweiter Akt: Das plötzliche Auftauchen von Bouteflikas Rivale

Während der Machtkampf zwischen den Clans auf seinem Höhepunkt zu sein schien, erklärte Ali Benflis, der die Wahlkampagne von Bouteflika 1999 geleitet hatte und sein Regierungschef wurde, er wolle bei der nächsten Präsidentschaftswahl kandidieren. Bouteflika setzte ihn im Mai 2003 ab, und seitdem wurde Benflis als potentieller Rivale von Bouteflika präsentiert. Er soll von General Mohamed Lamari angespornt worden sein. Dieser soll auch Saïd Sadi überzeugt haben, sich mit Benflis zu verbünden. Aber nicht nur diese beiden Kandidaten glaubten an einen Sieg. Ein Großteil der privaten Presse und viele ausländische Diplomaten waren bis zur Ankündigung der Wahlergebnisse felsenfest davon überzeugt, dass Ali Benflis der eigentliche Sieger sein werde, weil Bouteflika so verhasst sei.
Die Wahlkampagne wurde im Sommer 2003 mit einem Pamphlet aus der Feder des ehemaligen Verteidigungsministers General AD Khaled Nezzar eröffnet. Er zog eine äußerst negative Bilanz der Amtszeit Bouteflikas und suggerierte damit, dass die Armeeführung sich gegen ihren ehemaligen Kandidaten positioniert habe und ihn keinesfalls als zukünftigen Präsidenten favorisieren würde.

Dritter Akt: Der Rückzug der Armee

Die Täuschung war demzufolge doppelt. Der Teil der politischen Klasse, der glaubte, die eigentlichen Entscheider hätten ihren Anwärter in Benflis gefunden, kolportierte die Botschaft, dass die Armee sich neutral verhalten würde. Monatelang wurde der skeptischen Öffentlichkeit eingehämmert, dass die „Putschisten“ eine Normalisierung und Demokratisierung auch des politischen Lebens anstrebten. Hatte nicht der Oberbefehlshaber Mohamed Lamari höchstpersönlich im Juni 2003 erklärt, er würde jeden gewählten Kandidaten akzeptieren, sei er auch ein Islamist? In den folgenden Monaten ergriff er mehrmals öffentlich das Wort, um diese Haltung zu bestätigen. Die zahlreichen Aufforderungen an Verantwortliche der Armee, Bouteflika in seiner vorzeitigen Wahlkampagne zu stoppen, blieben erfolglos, so dass ihre vorgebliche Neutralität immer mehr akzeptiert wurde. Je näher die Wahlen heranrückten, desto mehr sahen die „potentiellen“ Gewinner der Wahl sich in der Rolle, einem unpopulären Bouteflika eine schmerzhafte Niederlage beizubringen.

Vierter Akt: Bouteflika ist der geheime Kandidat der Armee

Wenige Monate vor dem entscheidenden Tag müssen sich die „Putschisten“ und Bouteflika auf dessen Kandidatur geeinigt haben. Die klassischen zivilen Sprachrohre der „Entscheider“, Ahmed Ouyahia, Regierungschef und Vorsitzender der RND, aber auch die Partei MSP (Hamas) und die mächtige Gewerkschaft UGTA machten keinen Hehl aus ihrer Unterstützung für den geheimen Armeekandidaten. Und nach und nach gesellten sich immer mehr gesellschaftliche Organisationen, Politiker und Zeitungen zum „Klan des Präsidenten“. Allerdings wurde weiterhin vehement von einem echten Wettstreit zwischen Bouteflika und Benflis gesprochen. Viele Kommentatoren sprachen von einem zweiten Wahlgang, den Bouteflika mit Sicherheit nicht gewinnen könne, da sich die gesamte Opposition für Benflis einsetzen würde. Manche verbreiteten sogar die Vorstellung, dass Benflis sich des Sieges im ersten Wahlgang sicher sein könne.

Die Manipulation erstreckte sich aber noch weiter: In den Wochen vor der Wahl wurden die europäischen Vertretungen davon überzeugt, dass eine Wiederwahl des Präsidenten unmöglich sei. Abgesandte aus „gut informierten Militärkreisen“ verbreiteten verschiedene Szenarien, die alle mit einer Niederlage von Bouteflika enden mussten. Noch am Wahltag selbst prognostizierten manche Diplomaten einen Sieg Benflis’ durch den Eingriff der Armee, welche die „faulen Kompromisse von Bouteflika mit den Islamisten“ nicht zulassen könne.
Benflis glaubte bis zuletzt, die Rückendeckung der „Entscheider“ zu genießen. Er soll am Vorabend der Wahl noch von General Lamari empfangen worden sein, der ihm seinen bevorstehenden Sieg bestätigte. Benflis fühlte sich so sicher, dass er glaubte, im Fall einer Niederlage mit dem Zuspruch der Armeeführung den Protest gegen die Wahlfälschung auf die Strasse tragen zu können. Noch Wahlabend verstanden die Gegenkandidaten die Täuschung nicht und bereiteten eine Demonstration vor. Ein Vertreter der Armee musste ihnen davon abraten. Zum wiederholten Male hat ein Großteil der algerischen politischen Klasse bewiesen, dass sie einzig als Marionette der „Putschisten“ agieren kann.

Warum diese Inszenierung?

Eines der wichtigsten Anliegen der „Putschisten“ ist die Sicherung ihrer Straflosigkeit für die von ihnen begangenen Verbrechen. Mit der 1999 ausgerufenen Politik der „zivilen Eintracht“, die Männer aus bewaffneten Verbänden – ob Kämpfer oder eingeschleuste Agenten – rehabilitierte, wurde ein Schritt zur Konsolidierung des Regimes vollzogen. Doch wie das immer weiter schwelende Leid des „Verschwindenlassens“ zeigt, bleibt die Menschenrechtsfrage eines der Haupthindernisse auf dem Weg der politischen wie gesellschaftlichen „Befriedung“.

Bouteflika hat in diesem Zusammenhang bislang seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllt: Heute wird von den Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheitsform gesprochen – ungeachtet der bis heute stattfindenden Folterungen und Massaker. Die Ursachen für Hunderttausende von Opfern werden auf das « Terrorismusproblem » reduziert. Und wenn nicht die Proteste der Familien der Verschwundenen daran erinnern würden, dass Staatsbeamte massive Verbrechen verübt haben, würden alle Verbrechen ausschließlich den Islamisten angelastet werden. Diesem Zweck dienen auch die Berichte über die noch existierenden bewaffneten Gruppen. Auf der einen Seite wird ihre Schlagkraft übertrieben, auf der anderen Seite behaupten die algerischen Medien, ihre Mitglieder würden sich den Behörden stellen. Auch dies ist Teil einer Manipulation der Öffentlichkeit mit dem Ziel, sie glauben zu machen, dass das Terrorismusproblem ein internationales sei (« Verbindungen zu al-Qaida »), aber in Algerien dank der fortbestehenden Politik der Versöhnung im Verschwinden begriffen sei.

Die Frage nach den Verantwortlichen für die Massaker und extralegalen Tötungen, denen Zehntausende zum Opfer fielen und die bis heute, wenn auch in einem sehr reduzierteren Maße, verübt werden, darf nicht öffentlich erörtert werden. Um jedoch die De-facto-Straflosigkeit fest zu verankern, wird immer lauter über eine „nationale Versöhnung“, gar eine „globale Versöhnung“ und eine „Amnestie“ diskutiert. Verschiedene Artefakte zur Überwindung und Ausblendung der Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem „Erbe“ der Verschwundenen werden durchgespielt, in der Hoffnung, die Familien der Verschwundenen zermürben zu können.

In der Perspektive, einen Schlussstrich unter das sogenannte „schwarze Jahrzehnt“ ziehen zu können, erhält Bouteflika die Rolle des Friedenstifters. Allerdings musste er von dem Makel befreit werden, als Mann des Militärs zu gelten. Die Inszenierung einer wahrhaft freien und transparenten Wahl ohne jede Intervention des Militärs diente allein diesem Zweck.