Der Traum von einer Öffnung Algeriens rückt weiter in die Ferne

Der Traum von einer Öffnung Algeriens rückt weiter in die Ferne

Die meisten Bürger nehmen die andauernde Dominanz Bouteflikas hin – Vor allem Arbeitslosigkeit, Armut und Wohnungsnot bestimmen den Alltag .

VON JOCHEN HEHN Algier/Oran , Die Welt, 20. April 2004

Wenige Tage nach dem turbulenten Wahlspektakel, das Präsident Abdelasis Bouteflika einen so unglaublich hohen, rechnerisch schwer nachvollziehbaren Wahltriumph beschert hat, herrscht in Algerien wieder der Alltag. Die meisten Menschen des 31-Millionen-Volkes finden sich in einer Art Katerstimmung wieder. Dies gilt auch für die, die Bouteflika gewählt und seinen Sieg frenetisch bejubelt haben. Ein besonders rüdes Erwachen erwartete aber jene, die Algerien schon in eine moderne, pluralistische, demokratische Gesellschaft haben eintreten sehen. Dies sind die Anhänger des vermeintlich so aussichtsreichen und doch so vernichtend geschlagenen Herausforderers, Ex-Premierminister Ali Benflis. Vollmundig hatten sie eine zweite Wahlrunde vorausgesagt, in der dieser den Amtsinhaber vom Sockel würde stoßen können. Noch am Wahlabend musste jedoch ausgerechnet die algerische Elite schockiert konstatieren, dass sie entweder einem monumentalen Bluff aufgesessen ist oder den Kontakt zur algerischen Wirklichkeit verloren hat. Im Nachhinein ist es müßig, darüber zu grübeln, ob der Wahlsieg Bouteflikas wieder einmal durch Manipulationen zu Stande gekommen ist und ob die Militärs, die in Algerien alles und damit auch Präsidentschaftswahlen zu entscheiden pflegten, allen Erklärungen zum Trotz Bouteflika zur Wiederwahl verhelfen haben. Von einer « Pseudo-Neutralität » der Armeeführung ist auf einmal die Rede und von einem geheimen Pakt, mit dem sich der Präsident die Unterstützung der Generäle gegen die Zusage gesichert habe, sie vor Ermittlungsverfahren zu bewahren, in die sie wegen ihrer angeblichen Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen verstrickt werden könnten. Solche Spekulationen gehen an den Bedürfnissen der meisten Menschen in Algerien vorbei. Das Intrigenspiel um Macht und Einfluss in der Demokratischen Volksrepublik kümmert den Normalbürger wenig. Sein Traum gilt einem möglichst friedlichen, sorgenfreien Leben. Doch davon scheint das Algerien des Jahres 2004 noch Lichtjahre entfernt zu sein. Immerhin traut die große Mehrheit der Bevölkerung dem charismatischen Bouteflika eher als anderen zu, die brennenden sozialen Probleme zu lösen. Arbeitslosigkeit und Armut, Wohnungsnot und Wassermangel hat der 67- jährige Präsident in seiner ersten fünfjährigen Amtszeit nicht entscheidend lindem können. Zählbare Erfolge konnte er aber in einem anderen zentralen Punkt vorweisen. Nach über zehn Jahren Bürgerkrieg mit über 150 000 Todesopfern hat sich die Sicherheitslage in Algerien entscheidend verbessert. Terroranschläge islamistischer Extremisten werden heute nur noch vereinzelt und in entlegenen Gebieten verübt. Tendenz abnehmend.

In Larba, einer Stadt 50 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier mitten in der Mitidja-Ebene gelegen, spürt man dies auf Schritt und Tritt. Am Rathausplatz sitzen die Männer im Freien und schlürfen Kaffee und süßen Pfefferminztee. Heute erinnert nichts mehr daran, dass hier vor wenigen Jahren grässliche Massaker verübt wurden. Mittlerweile gilt die Region wieder als befriedet, und inzwischen kehren sogar die Bauern wieder in ihre alten Dörfer zurück. Noch schwieriger als die Stabilisierung des ländlichen Raums dürfte für den Präsidenten die Sanierung der großen Städte sein. Zu Füßen des staatlichen Hotels « Al Aurassi » erstrahlt Algier in der Morgensonne wie eine weiße Perle. Von der Uferpromenade aus betrachtet bietet sich ein Bild des unaufhaltsamen Zerfalls. Von den Wänden der einstmals schmucken Prachtbauten der Belle Epoque bröckelt der Putz. Hauseingänge, Treppenhäuser und Balkone rotten vor sich hin. Die Aufzüge funktionieren schon lange nicht mehr. In den Wohnungen der Hauptstadt, die mit 16 Menschen im Schnitt hoffnungslos überbelegt sind, ist Wasser Mangelware. Dort, wo einst schmucke Geschäfte Luxuswaren aus aller Welt feilboten, herrscht graues Einerlei. Auf den Bürgersteigen lungern junge Männer gelangweilt im Halbschatten. Geschäftige Aktivität scheint ihnen fremd zu sein. Arbeit gäbe es genug. Doch die hat Bouteflika chinesischen Gastarbeitern ü bertragen, die er vor drei Jahren ins Land geholt hat. 22 000 Chinesen aus der Volksrepublik China sollen nun das Versprechen des algerischen Präsidenten verwirklichen, der jährlich um eine Million wachsenden algerischen Bevölkerung genügend Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Ein eklatantes Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit. Denn an potenziellen Arbeitskräften mangelt es in Algerien wahrlich nicht. Auf 30 Prozent wird offiziell die Arbeitslosenquote beziffert. Bei den Jugendlichen liegt sie bei 60 Prozent. Dank seiner Energieressourcen ist Algerien ein reiches Land – und doch so arm. Alle Hoffnungen richten sich nun auf die zweite Amtszeit des Präsidenten, in der er das soziale Elend lindem will. Er werde all seine Versprechen einhalten, die er im Wahlkampf gegeben habe, sagte Bouteflika in seiner Dankrede.

Die privaten algerischen Zeitungen, die dem Präsidenten im Wahlkampf arg zugesetzt hatten, hoffen gerade dies nicht. Er werde dafür sorgen, dass den Journalisten, diesen Söldnern der Feder », die sich nicht viel von den Terroristen unterschieden, das Handwerk gelegt werde, hatte Bouteflika angekündigt. Fünf renommierte Zeitungen, die Bouteflikas Premierminister Ouyahia namentlich aufzählte – « Al Watan », « Al Khabar »,  » Liberté », « Le Matin » und « Le Soir d’Algérie » -, sollen sogar ganz von der Bildfläche verschwinden. Die Medien sehen nun ein präsidiales diktatorisches System am Horizont heraufziehen und ihren Traum von einer demokratischen Ö ffnung in weite Feme gerückt. An Abdelasis Bouteflika liegt es nun zu zeigen, was er wirklich im Schilde führt. Frieden im « Dreieck des Todes »? Vor wenigen Jahren noch waren in der Umgebung von Larba, einer 50 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier mitten in der Mitidja-Ebene gelegenen Stadt, grässliche Massaker verübt worden. Über 300 Männer, Frauen und Kinder wurden in Rais von islamistischen Terrorbanden hingemetzelt. Über 400 waren es in Ben Talha. Hals über Kopf verkauften Zehntausende Haus und Hof und flüchteten in die Nähe der Hauptstadt, wo sie sich sicherer glaubten. Heute hilft der Staat ihnen, wieder sesshaft zu werden. Das Dreieck des Todes », wie die fruchtbare Mitidja-Ebene im Schatten des Atlasgebirges genannt wurde, gilt heute als befriedet. Die Menschen dort sind bettelarm, die Sicherheitslage ist jedoch ruhig. Ausländische Journalisten können sich dort frei bewegen, ohne von Sicherheitsleuten begleitet zu werden. Auch die Landwirtschaft kommt wieder in Gang, hier und da wird wieder angebaut. In der Mitidja-Ebene hat Bouteflika überdurchschnittliche Wahlergebnisse erzielt. Bei den abgebrochenen Wahlen vor zwölf Jahren war hier die Hochburg der Islamisten.