Die Privatisierung des Konfliktes: Die Rolle der Milizen
Die Privatisierung des Konfliktes
Die Rolle der Milizen
Amnesty International
(Auszug aus dem Bericht Algerien. Zivilisten als Opfer eskalierender Gewalt, November 1997)
Während der letzten drei Jahre hat die algerische Regierung fortwährend wiederholt, daß nur « eine Handvoll Terroristen übrig geblieben sind », daß die Sicherheitssituation « unter Kontrolle » sei und daß es nur einen « Rest von Terrorismus » gebe. Zur gleichen Zeit aber haben die Behörden Waffen an die Zivilbevölkerung verteilt und die Gründung von Milizen Für den Schutz ihrer Gemeinschaften gegen Angriffe bewaffneter Oppositionsgruppen gefordert. Diesen Milizen, die außerhalb jeglichen Rechts operieren und die meistens nicht kontrolliert werden, ist es erlaubt worden, Sicherheits- und Ordnungsaufgaben und « anti-terroristische » Angriffsoperationen durchzuführen.
Im Bericht vom November 1996 druckt Amnesty International die Besorgnis aus, daß durch die Erlaubnis der Gründung von Milizen und die Ermunterung der Zivilbevölkerung, sich zu bewaffnen, die Behörden die Zivilbevölkerung mehr und mehr in den Konflikt hineinziehen. Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, daß diese Ängste gerechtfertigt waren.
Die Existenz von Milizen. die durch den Staat bewaffnet und als « Gruppen der legitimen Verteidigung » oder « Patrioten » bezeichnet werden, geht zurück auf das Jahr 1994. Anfangs dementierten die Behörden die Existenz von Milizen oder spielten deren Rolle herunter. aber ab Ende 1995 ermutigten sie die Zivilbevölkerung offen’ sich zu bewaffnen und sich in Milizen zu organisieren. Das staatliche Fernsehen berichtete von den Aktivitäten der Milizen. pries ihre Rolle bei der « Bekämpfung und Ausrottung des Terrorismus », und zeigte sogar « Reklame »-Spots, um Männer zu ermutigen, Milizen zu gründen. Das Motto war: rijal khuliqu li-l-watan (Männer, geboren für ihr Vaterland). Auch die Zeitungen berichteten immer mehr von den Aktivitäten der Milizen.
Als die Anzahl der Milizen immer mehr wuchs und Informationen über ihre Aktivitäten verfügbar wurden, tauchten Hinweise auf, daß sie – außer ihre Dörfer und Kommunen zu bewachen und sie vor Angriffen zu verteidigen -, immer mehr in militärische Aktionen ihrer Region oder anderswo verwickelt waren. In einigen Regionen ersetzten sie praktisch die Sicherheitskräfte – die laut der lokalen Bevölkerung abwesend waren und versagt hatten, sie vor Angriffen der bewaffneten Oppositionsgruppen zu beschützen -, indem sie Straßensperren und Kontrollpunkte errichteten, Hinterhalte legten und « anti-terroristische » Operationen organisierten. Sie nahmen auch in zunehmendem Maße an der Seite der Armee und der Sicherheitskräfte an solchen Operationen teil.
Mitglieder von Milizen erzählten Amnesty International-Delegierten, ausländischen Journalisten und dem algerischen Fernsehen von ihren Aktivitäten. Sie gaben Details bekannt, wie sie Hinterhalte legten, « Terroristen » aufstöberten und töteten. Sie sind entschlossen, so viele « Terroristen » zu töten, wie sie finden, um die Regionen zu « reinigen ». Einige von ihnen bestätigten, wenn sie gefragt wurden, ob sie den Sicherheitskräften Personen, die sie erwischt hatten, übergeben hätten, daß sie keine Gefangenen machen würden. Wenn sie « Terroristen » den Sicherheitskräften übergeben würden, sagten sie, würden sie vielleicht nach den Amnestiegesetzen (1) wieder freigelassen und « Terroristen » hätten es nicht verdient, zu leben.
Milizen sind bestimmten politischen Parteien, verschiedenen militärischen und Sicherheitskräften und lokalen Dienstkräften angeschlossen oder eng verbunden. Die Qualität ihrer Ausrüstung und Bewaffnung ist unterschiedlich. Einige Milizen haben sich beschwert, daß sie weniger gut ausgerüstet seien als andere, die einflußreicheren Personen verbunden seien und die bessere Waffen und Ausrüstungen besitzen. Das algerische Fernsehen hat Milizen gezeigt, die offizielle Uniformen des Militärs und der Sicherheitskräfte tragen und offizielle Fahrzeuge des Militärs und der Sicherheitskräfte und Schilder für Straßensperren benutzen.
Die Gründung von Milizen wurde von einigen angesichts des Widerwillens der Sicherheitskräfte, die Zivilbevölkerung zu schützen, als Mittel des Schutzes begrüßt. Andere jedoch sprachen sich dagegen aus, weil sie glauben, daß die Präsenz von Milizen die Zivilbevölkerung zu einer Zielscheibe für bewaffnete Oppositionsgruppen macht, die sich für Taten der Milizen durch Angriffe auf die lokale Bevölkerung rächen.
Es gibt zahlreiche Berichte, daß Milizen Übergriffe begehen, um ihre Kontrolle über die lokale Bevölkerung zu festigen. Ende 1995 zum Beispiel wurden Verwandte von Antar Zouabri, einem Führer der GIA, durch Milizen in Hauch-el-Gros (Boufarik) als Rache an der GIA getötet, die Verwandte eines Führer der örtlichen Milizen getötet hatten. Berichte von solchen Vorfällen sind weitverbreitet, und Mitglieder von Milizen haben solche Verbrechen oft gerechtfertigt und befürwortet. 1996 berichteten Mitglieder einer Milizgruppe Vertretern von Amnesty International:
« Sie können mich töten, aber wenn sie einen meiner Verwandten töten, werde ich ihre ganze Familie töten: dies ist die einzige Sprache, die Terroristen verstehen… » (2)
Im März 1996. nach zahlreichen Hinweisen. daß Mitglieder von Milizen Zivilisten getötet und straflos Übergriffe begangen hatten, gaben die algerischen Behörden bekannt, daß zahlreiche Mitglieder von Milizen wegen Übergriffen, einschließlich Mord. verhaftet worden seien und vor Gericht gestellt werden würden. Bis heute jedoch sind keine Untersuchungen bekannt geworden, und die Behörden haben auf Fragen nach Einzelheiten dieser Gerichtsverfahren nicht geantwortet.
Legalisierung der Milizen
Im Januar 1997 unterzeichnete der algerische Premierminister einen Erlaß, der die Existenz der Milizen amtlich bestätigte und Rahmenbedingungen für ihre Aktivitäten festlegte (Décret exécutif 97-04 fixant les conditions d’exercice de l’action de légitime défense dans un cadre organisé). Auf diese Weise wurden Gruppen willkürlich rekrutierten Einzelpersonen, die außerhalb des Sicherheits- und Ordnungsrechts operieren und ohne entsprechende Ausbildung und Kontrolle sind, mit Sicherheitsaufgaben betraut, die einzig in der Verantwortung des Staates liegen sollten.
Der Erlaß, welcher zwei Jahre nach dem Auftreten der Milizen verabschiedet wurde, benennt keine Verantwortlichkeit für die Tausenden bereits existierenden Milizen und enthält weder Vorschriften für die Auflösung bestehender Milizen noch Garantien für das Befolgen grundsätzlicher Menschenrechtsstandards, wie dem ICCPR, der Anti-Folter-Konvention, der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, den UN-Grundsätzen über die Anwendung von Gewalt und den Schußwaffengebrauch von Beamten mit Polizeibefugnissen (Force and Firearms Principles) und dem UN-Verhaltenskodex für Beamte mit Polizeibefugnissen (Code of Conduct)
So enthält dieser Erlaß keine Bestimmungen über Rekrutierungs- und Ausbildungsanforderungen für die Mitglieder der « Gruppen der legitimen Verteidigung », wie sie Art. 5 der Anti-Folter-Konvention und die Grundsätze 18 und 21 der Force and Firearms Principles verlangen. Er enthält ferner keinerlei Vorschriften zu Achtung und Schutz der Menschenrechte durch Mitglieder dieser Gruppen, wie es Art. 2 des Code of Conduct vorschreibt. Noch beinhaltet dieser Erlaß irgendeine Bestimmung für die Untersuchung von Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige dieser Gruppen, ebenso wenig, daß die dafür Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden, wie dies Art. 2 des ICCPR, Art. 12 und 13 der Anti-Folter-Konvention und Art. 7 (1) (e) der Afrikanischen Charta vorsehen. Er enthält keine Vorschrift zum Recht auf Befehlsverweigerung bei der Anwendung von Gewalt und Schußwaffengebrauch, wie dies Grundsatz 25 der Force and Firearms Principles fordert.
Der Erlaß gestattet den Mitgliedern von « Gruppen der legitimen Verteidigung » den Schußwaffengebrauch « im Falle eines Angriffs, versuchten Angriffs oder der Verpflichtung, Personen in Gefahr beizustehen ». Jedoch führen Milizen Militäroperationen zur Niederschlagung von Aufständen durch oder nehmen an ihnen Teil, entweder in eigener Verantwortung oder in Verbindung mit dem Militär und den Sicherheitskräften. Damit verletzen sie regelmäßig die Ziele dieses Erlasses. Dies geschieht mit Wissen und dem Einverständnis der Behörden, die diesen Erlaß verabschiedet haben und für seine Anwendung verantwortlich sind.
(1) Das Amnestiegesetz (Qanun ar-rahma) vom Februar 1995 sieht das Fallenlassen von Anklagen oder reduzierte Strafen Für Personen vor, die in « terroristische » Aktivitäten verwickelt waren, sich davon distanzieren und bereuen.
(2) Siehe Kapitel über regierungsgestützte Milizen im Algerien-Bericht Angst und Schweigen. Eine Menschenrechtskrise im verborgenen (Index: MDE 28/11/96), herausgegeben im November 1996.