Brief aus Algerien

Brief aus Algerien

Mitte April 1998

(…) Wir haben vor kurzem das Opferfest gefeiert. Wie immer waren alle da. Nur ihr habt gefehlt. Ich hoffe, daß wir bald wieder zusammen sein werden, wie früher, und daß die Dinge im Land sich positiv entwickeln.

Vor nicht viel mehr als eine Woche befand ich mich einen Meter von jemandem entfernt, dem ein betrunkener Polizist eine Kugel ins Bein schoß. Vielleicht muß ich in dem Zusammenhang als Zeuge erscheinen. Zum Glück ist die Person nur im Bein getroffen worden.

In den letzten Monaten ist die Zahl der Anschläge zurückgegangen, zumindest im Zentrum des Landes. Wir hören weniger davon. Die Massaker finden vermehrt im Westen des Landes statt. Manche sagen, es sei eine Taktik der bewaffneten Gruppen, um im Zentrum den Druck zu verringern, nach der großen Offensive der Armee. Andere sagen, daß eben diese Gruppen sich in Richtung Westen bewegt haben. Das Ziel dieser Massaker bleibt unbegreiflich, da die Bevölkerungsgruppen, die massakriert wurden, meistens Anhänger der Islamisten sind. Diese Leute hatten sogar die bewaffneten Gruppen unterstützt.

Die Politik des Regimes ist, die Bevölkerung zu bewaffnen. Das Volk in die Terrorismus-Bekämpfung hineinzuziehen, ist einer der Aspekte der « totalen Sicherheit ». Mit den Verhandlungen zwischen der AIS und die GIA, die meiner Meinung nach eine Manipulation des Geheimdienstes sind, haben die Übergriffe wieder zugenommen. Die Massaker sind beschleunigt worden vor allem nach dem einseitigen Waffenstillstand der AIS. Hier und da hört man von Koordination zwischen der AIS und der Armee gegen den GIA. Augenzeugen haben angeblich gesehen, wie Mitglieder der AIS von den Maquis kamen und wieder zurückgingen, ohne von der Armee daran gehindert worden zu sein. Manche reden von Waffenstillstand, andere von Ergebung.

Die Haltung der FIS und der AIS in Bezug auf die Massaker ist klar. Sie verurteilen sie klar und eindeutig. Die FIS und die AIS machen den Unterschied zwischen einem bewaffneten Kampf gegen ein diktatorisches Militärregime und seine Symbole und gemeine und grausame Verbrechen, die Unschuldige treffen. Für den Staat ist es das gleiche. Er unterscheidet nicht und versucht immer die FIS und die AIS in Zusammenhang mit den Massakern zu stellen, um die politischen Elemente zu diskreditieren. Ich glaube, manche europäische Regierungen machen diese Unterscheidung, und die Schwierigkeit für das Regime ist, diese davon zu überzeugen, alle in einen Topf zu werfen.

In den Zeitungen dieser Woche wurden zwei Bürgermeister beschuldigt, als Repräsentanten der DEC (Délégation Exécutive Communale) nach dem Abbruch der Wahlen Dutzende Menschen ermordet zu haben. Diese beiden Personen sind gegenwärtig Bürgermeister von der Partei RND (Partei des Präsidenten) und Milizenchefs. Man sagt, daß die Ermordeten Mitglieder oder Sympathisanten der FIS waren. Vermummte bewaffnete Gruppen ermordeten die Menschen nachts. Die beiden Bürgermeister sind festgenommen und die Milizen der Region entwaffnet worden.

Dieses Ereignis wird die Diskussion um die Militarisierung der Bevölkerung und ihre Folgen wieder in Gang setzen. Es ist nicht auszuschließen, daß das was in Relizane passiert ist in anderen Regionen des Landes auch geschehen ist.

Ich hoffe, daß diese Angelegenheit die Position der ONG gegenüber dem Regime bezüglich der internationalen Untersuchungskommission stärken wird.

(…)

 

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