Algerien-Wahl im Schatten von Kabylei-Unruhen

Algerien-Wahl im Schatten von Kabylei-Unruhen

Ehemalige Einheitspartei FLN als Sieger erwartet/Wichtigste Oppositionsgruppen boykottieren

Von Ulrike Borchardt, Neues Deutschland, 30. Mai 2002

Unmittelbar vor der Parlamentswahl in Algerien am heutigen Donnerstag ist es in der Berber-Region Kabylei zu heftigen Ausschreitungen gekommen. Vor allem im Berber-Zentrum Tizi Ouzou lieferten sich jugendliche Wahlgegner Straßenkämpfe mit der Polizei.

Die 18 Millionen algerischen Wahlberechtigten haben es nicht leicht. Nicht weniger als 23 Parteien wollen in das 389 Sitze umfassende Parlament einziehen. Beim letzten Votum vor fünf Jahren ging die Mehrzahl der Sitze (156) an die nur vier Monate zuvor vom damaligen Staatschef General Liamine Zeroual gegründete Nationale Demokratische Sammlungsbewegung. Zweitstärkste Partei wurde das islamisch orientierte Mouvement de la Société pour la Paix (MSP), das 69 Parlamentssitze erhielt. Die ehemalige Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) gewann 62 der Parlamentssitze. Alle drei Parteien bildeten eine Regierungskoalition. Die islamische Konkurrenzpartei Ennahda erhielt damals 19 Sitze. Die sozialdemokratische Front des Forces Socialistes (FFS) und Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD) – beide stark in der Kabylei verankert – bekamen jeweils 19, die trotzkistische Arbeiterpartei 4 Sitze.

Mit Ausnahme von FFS und RCD nehmen wieder alle im alten Parlament vertretenen Parteien an der Wahl teil. Glaubt man den Prognosen der Tageszeitung »El-Watan«, so wird nun die FLN mit schätzungsweise 37 Prozent die meisten Sitze gewinnen, gefolgt vom MSP und RND.

Auf jeden Fall sollen die Wahlen diesmal »wirklich frei« sein, wie der seit 1999 amtierende Staatschef Abdelaziz Bouteflika in einem Kommuniqué Anfang März dieses Jahres versicherte. Ob dieses Versprechen die Mehrheit der Algerierinnen und Algerier überzeugen wird, sei dahingestellt. Die wichtigsten demokratischen Oppositionsparteien FFS und RCD haben jedenfalls zum Wahlboykott aufgerufen. Wegen der anhaltenden Unruhen in der Kabylei lehnen sie eine Wahlbeteiligung ab. Begonnen hatten sie am 18. April vergangenen Jahres, als die Polizei einen Jugendlichen in Beni Douala, einem Dorf in der Nähe von Tizi Ouzou erschoss. Daraufhin kam es zu mehreren Protestdemonstrationen, bei denen nach Angaben der Dorfkomitees (Arouches) 107 Menschen getötet und 5000 verletzt wurden. Die Berber, die ca. neun der insgesamt 30 Millionen Algerier ausmachen, feiern alljährlich im April ihren »Berberfrühling«, um an die Toten der Unruhen von 1980 zu erinnern. Damals war erstmals der Ruf nach regionaler Demokratie und offizieller Einführung der Berbersprache Tamazight laut geworden. Dass es zu derartigen Ausschreitungen kam, kann auch als Zeichen eines zunehmenden Bürgerprotestes gegen die politisch diskreditierte Regierung interpretiert werden. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich die anfangs eher lokalen Proteste zu Solidaritätskundgebungen im ganzen Land ausweiteten. So fand Ende Mai letzten Jahres in Algier eine Demonstration mit mehr als 300000 Teilnehmern unter dem Motto »Gegen Unterdrückung der Kabylei« statt. Im Juni erlebte Algier dann mit dem »Marsch für die Demokratie«, an dem zwischen 600000 und einer Million Menschen teilnahmen, die größte Demonstration seit seiner Unabhängigkeit.

Zum ersten Mal seit Beginn des Bürgerkrieges vor fast zehn Jahren wurde deutlich, dass nicht bewaffnete Auseinandersetzungen islamistischer Gruppierungen den Alltag bestimmen, sondern die Zivilgesellschaft, die eine Rückkehr zur Demokratie fordert. Auch wenn mittlerweile einige der Forderungen der Kabylen wie die Anerkennung der Berbersprache Tamazight als offizielle Landessprache erfüllt sind, gehen die Proteste der Bevölkerung der Kabylei gegen die Regierung dennoch nicht zurück. Die Dorfkomitees in der gesamten Kabylei haben angekündigt, dass die Wahllokale am 30. Mai aus Protest gegenüber der Regierung geschlossen bleiben. Der internationalen Presse wurde unterdessen der Zugang zu der Region seit dem Wochenende untersagt. Im Bezirk Tizi Ouzo konnten nur vier der ursprünglich 88 vorgesehenen Wahlkundgebungen stattfinden. 30 Kandidaten haben wegen der »Krisensituation« in der Region ihren Rücktritt verkündet.

Im übrigen Land, insbesondere in der Hauptstadt Algier, überwiegt das Desinteresse, wenn nicht die Resignation. Wozu soll man zur Wahl gehen, wenn sich doch nichts ändert, fragen sich viele, insbesondere junge Wähler und Wählerinnen, die keinerlei Aussicht haben, einen Beruf zu finden, der ihnen ein erträgliches Auskommen sichert. Die Arbeitslosigkeit der unter 30-Jährigen liegt bei 70 Prozent.

Viele junge Algerier haben keinerlei Vertrauen in die im Parlament vertretenen Parteien. Für sie gehören die Parlamentarier ebenso wie die übrige Führungselite ihres Landes zur »Hogra«, einer kaum zu übersetzenden Vokabel, die völlige Missachtung zum Ausdruck bringt. Weshalb, fragen sie sich, sollte man die »Marionetten des korrupten und klientelistischen Systems der Generäle« unterstützen, die mit 1500 Euro das Siebenfache eines Gymnasiallehrers verdienen, keine Miete bezahlen müssen und darüber hinaus privilegierten Zugang zu lukrativen und häufig dubiosen Geschäften haben?