Rede anlässlich der Demonstration im Gedenken an Hamid Bakiri

Im Gedenken an unseren Bruder Hamid Bakiri
Dr. Abbas Aroua
Direktor des Institut Hoggar in Genf
[email protected]

 

Rede anlässlich der Demonstration im Gedenken an Hamid Bakiri

Chur/Coire, 3. November 2001

 

Meine Damen und Herren

Ich wünsche allen einen guten Tag und danke, dass Sie hier sind. Ich möchte mich auch bei der Organisation augenauf und all denen bedanken, die geholfen haben, diese Demonstration zum Gedenken an unseren Bruder Hamid Bakiri zu organisieren.

« Rahimahoullah oua ghafara lahou, oua rahimanaa ou ghafara lanaa ma-ahou. »
Möge Gott ihm und uns Sein Erbarmen und Sein Verzeiehn gewähren.

Hamid Bakiri verliess Algerien vor einigen Jahren. Er verliess Constantine, die Stadt der Wissenschaft, Kunst, Musik und Rafinesse. Es ist die Stadt Ahmed Bey’s, Abdelhamid Ben Badi’s und vieler anderer die uns Meisterwerke hinterlassen haben in ihrer Art, ihre Zuneigung zu Constantine auszudrücken.

Hamid Bakiri fand sich wieder in der Schweiz, und verliess sie, um Europa zu durchreisen, bevor er sich in Norwegen als Flüchtling niederliess. Doch sein Schicksal lag anderswo. Er verliess Norwegen, und reiste durch die Schweiz, um an ein anderes Ziel zu gelangen. Er wusste nicht, dass dies seine letzte Reise sein würde.

In der Nacht auf den 20. September 2001 musste sich dieser 30 Jahre junge Algerier in einer Zelle in Thusis, wo er zwei Monate lang festgehalten worden war, dem Tod stellen.

Inna adjal-Allahi idha dja-a la you-akharou, laou kountoum ta-alamoun.
Wenn die von Gott gegebene Zeit kommt, kann sie nicht verschoben werden, wenn ihr wüsstet!

Oua maa tadri nafsoun bi-ayi ardhin tamout. Inn-Allaha alimoun khabir.
Und keiner weiss, wo er sterben würde.
Bestimmt ist Gott allwissend und perfekter Kenner.

Meine Damen und Herren, zwei Fragen könnten einigen von uns einfallen: « Wieso floh Hamid Bakiri aus Algerien? », und « Wieso hat er sich umgebracht? » Genau zu diesen zwei Fragen möchte ich mögliche Antworten geben, in der kurzen Zeit, die mir zugestanden wurde.

Sein Land zu verlassen und sich im Exil wiederzufinden, getrennt von Familie und Freunden, weit entfernt von seinem Geburtsland, für eine unbestimmte Dauer – kann das einfach sein? Auf diese Frage wird jeder Flüchtling, jeder im Exil lebende, jeder Asylsuchende seine Gefühle auf seine Weise, mit eigenen Worten, eigener Sensibilität wiedergeben.

Der chilenische Dichter Ricardo Reyes, den viele unter dem Namen Pablo Neruda kannten, und er ins Exil gezwungen wurde, schrieb 1965 folgendes:

 

Das Exil ist rund
Ein Kreis, ein Ring:
Deine Füsse machen die Runde,
Du durchquerst die Erde
Und es ist nicht deine Erde
Der Tag erwacht und
Es ist nicht deiner
Die Nacht kommt:
Es fehlen deine Sterne.

Der afrikanische Poet Fernando d’Ameida dagegen, der auch in Paris im Exil war, schrieb 1976 dieses Gedicht:

 

Eine Trauerglocke läutete an der Schwelle zum Exil
Und der Sturm des Morgens donnerte gegen das Meer…
Du wirst mit dem herzen in der Faust gehen
Dein Königreich wird das Heimweh sein
Deine Sprache das Gefängnis einer Verbannung.

Was hätte wohl Hamid Bakiri über das Exil gesagt, wenn man ihn befragt hätte?

Eigentlich hat er uns vielleicht schon geantwortet, auf seine Art, in dem er sich eines äusserst gewaltsamen Ausdrucksmittels bediente.

Aber warum flüchtete Hamid Bakiri aus Constantine?

Wieso verlassen die AlgerierInnen ihr Land, denn sie irren sehr zahlreich in den vier Ecken des Erdballs. Im Januar 1992 sagte das Militärregime in Alger der internationalen Gemeinschaft: « Lasst mich einen Putsch machen, lasst mich den Demokratisierungsprozess unterbrechen, lasst mich die Gewinner der Wahlen auslöschen und das politische Feld abriegeln, um der Welt das Losbrechen einer Welle von boat-people aus Algerien zu ersparen. » Die internationale Gemeinschaft liess sie gewähren. Schlimmer noch, sie halfen ihr ohne Bedenken.

Das Resultat nach zehn Jahren ist nicht prächtig.

Hundertausende Algerier haben ihr Land verlassen. Männer und Frauen, ganze Familien, höhere Kader, Künstler, Intellektuelle, Ärzte, Wissenschaftler, Junge und weniger junge, einfache Bürger haben es vorgezogen, anderswo zum Teil unter prekären Bedingungen zu leben, als im Algerien der Schreckensgeneräle, der Repression und der vielfältigen täglichen Erniedrigung zu bleiben.Die Bilanz dieses dunklen Jahrzehnts, das Algerien erlebt hat ist erschreckend.Das algerische Volk ist an Seele und Leib verwundet.

Seit zehn Jahren wird dem Bürger das Recht auf Leben und Sicherheit nicht mehr zugestanden. Zehntausende politische Gefangene werden ohne Gerichtsverfahren festgehalten, und es gibt ebensoviele Opfer der institutionalisierten Folter. Bestürzend viele Frauen wurden vergewaltigt. Zwischen 12’000 und 15’000 Verschwundene, 200’000 Tote, von denen die meisten zivile Opfer der Massenexekutionen und der verheerenden, immer noch andauernden Massaker sind. Mehr als eine Million Leute, die sich innerhalb des Landes evakuiert haben. Dies ist die traurige Wahrheit Algeriens.

Das algerische Volk erleidet unter anderem auch wirtschaftliche Not, in ihren entwürdigensten Formen. Innerhalb weniger Jahren wurde dieses Volk in die Abgründe der Armut und des Mangels getrieben. Die Zahl der Arbeitslosen betrug im Jahr 2000 durchschnittlich 35-38%. (?) Cirka jeder zweite Algerier ist arm, mit einem täglichen Einkommen von weniger als einem Dollar. Jeder fünfte Algerier ist krank. Sechs Millionen Ledige über 19 Jahren haben keinerlei Aussicht darauf, eine Familie zu gründen, besonders wegen der Wohnungskrise. All dies zum Zeitpunkt, wo der Reichtum der neuen korrpten Milliardäre, die den Baronen des Militärregimes nahestehen auf 40 Milliarden Dollar geschätzt wird (im Jahr 1999).

All dies schafft ein Umfeld, das zur Verbreitung sozialer Übel wie der Scheidung, Familienkonflikten, Selbstmorden, Drogen, Bettelei, Prostitution, Verbrechen und gesellschaftlicher Gewalt beiträgt.Das Exil ist also für viele AlgerierInnen, die dazu eine Möglichkeit haben, ein Mittel, diesem Schmerz zu entgehen und vor dieser Hölle zu fliehen.

Für andere ist Selbstmord leider der einzige Ausweg.Das bringt uns zu unserer zweiten Frage zurück: Wieso bringen sich die AlgerierInnen um? Vor dem Putsch wurden jährlich nur einige Dutzend Selbstmorde und Suizidversuche bei einer Bevölkerung von 25 Millionen Menschen registriert. Sie werden sagen, dass sei ein ertsunlich kleiner Prozentsatz. ja, tatsächlich. Als ich noch in meinem Land lebte war es selten, von einem Selbstmord zu hören. Von Zeit zu Zeit hörte man von einem Jugendlichen, der Selbstmord begangen hatte, oder versucht hatte, sich das Leben zu nehmen nach einem schulischen oder sentimentalen Misserfolg. Eine Art, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, oder um Mitgefühl zu erwecken. Und man kann sich fragen, wie es zu dieser geringen Selbstmordrate kommt: Die einen werden das mit der Sonne erklären, die in meinem Land das ganze Jahr lang scheint, und die Lebensfreude hervorruft. Andere werden sagen, es sei wegen dem starken sozialen Beziehungsnetz, die Leute wären sich sehr nahe und würden einander helfen, die Schwierigkeiten des Lebens zu überwinden. All dies stimmt. Aber es ist auch die Erziehung und die islamische Kultur, die, um das Leben zu beschützen, den Selbstmord ( ? ) verbietet. Das leben gehört nämlich nicht uns selbst, sondern seinem Schöpfer, und wir dürfen es deshalb nicht gefährden.

Leider sind die Dinge in Algerien nicht mehr so wie sie einmal waren. Die Statistiken, die durch die algerischen Autoritäten bestätigt wurden, zeigen, dass die Selbstmordrate nach dem Putsch von 1992 und nach zehn Jahren krieg um das zehnfache angestiegen ist. Vier von fünf Suizidopfern sind Männer. Von diesen sind praktisch zwei Drittel arbeitslos, und zwischen 18 und 40 Jahren alt. Am meisten Suizide werden bei Massenentlassungen registriert. Was ist also los mit meinem Land?

Die Sonne scheint nicht mehr wie früher ihn die Herzen der Frauen und Männer, die Herzen sind verdüstert durch so viele Leiden und Schmerz. Was in Algerien geschehen ist, dass zehn Jahre Krieg und Elend das soziale Gefüge aufgelöst haben, und alle dazu genötigt haben, jeder alleine für sich zu leben. Es ist die Verzweiflung derer, die über Nacht alle ihrigen in einem Massaker verloren haben. Die Verzweiflung des Familienvaters, der sich plötzlich hilflos findet, unfähig, sein tägliches Brot zu kaufen. Die Verzweiflung der Witwe, die ihre Kinder mit den Abfällen des Marktes ernährt, und die derjenigen, der nur noch das Trottoir (Prostitution) bleibt, um ihr Leben zu verdienen. Die unendliche Verzweiflung, die zum Selbstmord führt.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, Ihnen einige Beispiele zu zitieren, die Ihnen eine Ahnung dieser unendlichen Verzweiflung geben:

Im Dezember 1998 hat uns die algerische Presse einen schrecklichen Bericht über eine Familie aus dem Ort Wilaya (Souk Ahras), im Osten Algeriens erstattet:
« Eine Familie, die während mehreren Tagen nichts ass wegen der Entlassung des Vaters, dessen Lohn das einzige Einkommen gewesen war. Nachdem er an allen Türen der Administration geklopft hatte, private und öffentliche Unternehmen, und keine Mittel hatte, um mit einem behelfsmässigen Geschäft das Überleben zu sichern, und da ihn die Bettelei abstoss, schloss sich dieser Familienvater mit seiner Familie im Haus ein. Er hatte sich entschieden, diese undankbare Welt mitsamt seiner Familie zu verlassen, und wartete (?) auf den Tod. » Hier also der kollektive Selbstmordversuch einer ganzen Familie, Vater, Mutter und vier kleine Kinder, der von Nachbarn, die ihre Abwesenheit bemerkt hatten im letzten Moment verhindert wurde.

Im April 2000 interessierte sich die algerische Presse für das Ausmass, die die Prostitution nahm, ein Phänomen, das alle Altersklassen, Milieus und sowohl Mädchen als auch Jungen betraf. Sie hat uns erschütternde Zeugenberichte gebracht. Zum Beispiel Nawal, eine junge Algerierin, die uns folgendes erzählte:  » Nachdem ich mein Glück bei allen Ämtern für die Beschäftigung der jungen Leute versucht hatte, musste ich meine Hoffnung verlieren. Und zu diesem Zeitpunkt hat man mich mit einer Dauerstelle gelockt, wenn ich bereit wäre, dafür eine Beziehung einzugehen. Dann wurde ich ins Räderwerk der Erpressung die man mir aufzwang gezogen. Verloren wie ich war, entschloss ich, meinen Charme zur Befriedigung der Bedürfnisse meiner ganzen Familie zu vermieten. »

Das Beispiel Fatma’s, die über 50-jährig ist, gänzlich verarmt, und der nur die Vermarktung ihres Körpers bleibt, um die Familie zu ernähren.Zaïnouba, die traurig bemerkt: « Es gibt keine Arbeit, was wollen Sie, dass wir tun, an Hunger sterben? »

Oder die Zeugenaussage Hassiba’s, 36-jährige Familienmutter, die folgendes erklärt: « Ich war sehr glücklich mit meinem Mann und meinen zwei Kindern. Die Schliesssung des Unternehmens war der Anfang unserer Probleme. Der Lohn, unsere einzige Einkommensquelle, hatte uns erlaubt, anständig zu leben. Dann kam der Wendepunkt. Zu den finanziellen problemen kamen solche, die mit der Umgebung verbunden waren, und zum Schluss die Scheidung. Ich musste alleine für die bedürfnisse meiner zwei Kinder aufkommen, was mich dazu veranlasst hat, meinen Körper zu verkaufen, trotz des Ekels, den ich dabei empfinde. Vorher hatte ich versucht, Arbeit zu finden, doch überall wo ich mich vorstellte, wurden mir als Antort zweideutige Angebote gemacht. Wenn meine zwei Töchter nicht wären, hätte ich mich schon lange umgebracht. Denn Prostituierte zu sein stösst mich ab, aber bei Gott dem Beherrscher (Allah ghaleb), es ist mein Schicksal. »

Meine Damen und Herren, nachdem wir nun von AlgerierInnen am Randedes Selbstmords gehört haben, möchte ich zurück zu denjenigen im Exil kommen. Wieso ziehen es einige unter ihnen vor, sich umzubringen? In der Menschenrechtserklärung steht: « Jeder Mensch hat das Recht, Schutz vor Verfolgung zu suchen, und in einem anderen Land Asyl zu beantragen. »

Meine Damen und Herren, es kommt vor, dass Algerier, die den Weg des Exils nehmen um anderswo Schutz zu suchen, mit dem Traum von einem besseren Leben, mit der Härte des realen Lebens konfrontiert werden, und schnell desillusioniert sind. Auf dem Boden des Exils angekommen, sind sie oft Opfer von Vorurteilen, Misstrauen, Angst und Verdächtigung. Die Mächtigen Algeriens verstärken diese Reflexe noch, indem sie die Idee verbreiten, die Leute, die vor ihrer Repression geflüchtet waren, seien Terroristen. Sie sind oft Opfer von Unverständnis, der Nichtannerkennung und der administrativen Maschinerie, die ohne Gnade läuft, der Angst vor der Ausschaffung nach Algerien, wie es der Fall war in Frankfurt bei dieser 40-zig jährigen Algerierin, die so verzweifelt war nach Monaten immer noch auf die Antwort ihres Asylgesuches zu warten, dass sie sich im dritten Stock eines Durchgangszentrums beim Flughafen erhängte. Algerier, die vor der Verfolgung in ihrem Land flohen, sehen sich so einer neuen Art von Verfolgung gegenüber.

Nun, wenn man geschwächt ist, und sich nicht mehr gegen die Verfolgung wehren kann, aus Einsamkeit und Mangel an Solidarität denkt man, « dass der Suizid ein Mittel ist, um sich vor der Verfolgung durch die Menschen zu schützen », wie es Chateaubriand ausgedrückt hat.

Aber der Selbstmord eines Flüchtlings kann auch einen politischen Akt darstellen. Nehmen Sie den Fall des algerischen Künstlers Mohamed Amzert. Er ist 1994 im alter von 45 Jahren nach Frankreich ins Exil gegangen. Der Krieg richtete Verheerung in Algerien an. Frankreich unterstützte das Regime von Alger auf allen Ebenen, besonders der militärischen. Ende 1994 und Anfang 1995 haben sich die mächtigsten Politiker Algeriens zweimal in Rom getroffen, unter der Aufsciht der Gemeinschaft von Sant’Egidio und haben einen nationalen Vertrag unterschrieben, der eine Plattform für eine politische Lösung des Algerienkonflikts sein sollte. Die militärischen Machthaber haben dieses Friedensangebot in unverantwortlicher und arroganter Weise zurückgewiesen, sowohl gesamthaft als auch im Detail. Die französische Regierung fuhr gleichwohl fort, das Regime zu unterstützen. Vier Monate später entschied sich Mohamed Amzert, von Beruf Regisseur, das Ende seines eigenen Lebens in spektakulärer Weise in Szene zu setzen. Er hat sich am 12. Mai 1995 in einem Pariser Park dem Feuer geopfert. Seine Tat, die in der Öffentlichkeit vollbracht wurde, war kein persönlicher Akt, sondern zeigt eine grosse moralische und politische Bedeutung.

Lieber Bruder Hamid Bakiri, du hast uns in einem Alter verlassen, in dem andere, die deine Verzweiflung nicht kannten, erst Freude am Leben bekommen.

Wir würden dich so gerne fragen, den Poeten deiner Stadt Constantine, der vor 40 Jahren ebenfalls im Exil lebte, paraphrasierend: Wer kam in der Nacht deine Träume stören?

Von der Einsamkeit deines Exils, von der Einsamkeit deines Gefängnisses, von der Einsamkeit deiner nacht hast du uns ein starkes Signal und eine schmerzliche Nachricht gesandt: Wenn die Solidarität aus dieser Welt verschwindet, lohnt sich das Leben nicht.

A.A.