Entführungen in der Sahara: Fragen und Hypothesen

Entführungen in der Sahara:
Fragen und Hypothesen

Salima Mellah und Werner Ruf, Algeria-Watch, 2. Juni 2003

Zwischen dem 22. Februar und dem 23. März verschwanden sechs Touristengruppen in der algerischen Sahara – insgesamt 32 Personen, darunter 16 Deutsche, 10 Österreicher, 4 Schweizer, ein Schwede und ein Holländer. Am 12. Mai kamen 17 der 32 Vermissten frei. Die Freilassung der anderen wurde am morgen des 19. Mai gemeldet, am Abend dementiert.
Es ist erstaunlich, dass die Medien über diese spektakuläre Aktion wochenlang kaum berichteten. Verwunderlich ist auch, dass weder Journalisten noch Angehörige der Verschwundenen öffentlich gegen die Nachrichtensperre protestierten und die Öffentlichkeit auf die Ungereimtheiten der vorgebrachten Erklärungen aufmerksam machten. Die Umstände der Entführung und der Befreiung der Geiseln sowie die Identität der verantwortlichen Gruppe bleiben auch wegen der spärlichen und widersprüchlichen Erklärungen der offiziellen Stellen und der ehemaligen Geiseln weiterhin unklar.

Charakteristisch für eine Entführung ist, dass die Geiselnehmer alles daran setzen, diese zu mediatisieren und ihre Forderungen öffentlich bekannt zu geben. In diesem Fall wurde aber erst kurz vor der Freilassung der Geiseln mitgeteilt, dass eine Geldforderung vorliegt, was allerdings vom algerischen Regierungschef immer noch kategorisch dementiert wird.(1) Also weiß bis heute die Öffentlichkeit nicht, ob tatsächlich ein Lösegeld von 15 Millionen Dollar gefordert, gezahlt oder angeboten wurde oder nicht.

Ebenso erstaunlich sind die Besuche hoher Staatsfunktionäre Österreichs, der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland in Algier: Für Deutschland reisten nicht nur der deutsche Innenminister Otto Schilly Anfang April in das nordafrikanische Land, sondern auch eine hochrangige Delegation des deutschen Bundesnachrichtendienstes mit BND-Präsident August Hanning begleitete Bundesaußenminister Joschka Fischer am 10. Mai und führte Gespräche in Algier mit Präsident Bouteflika, diversen Ministern und den Generälen des algerischen Geheimdienstes Smaïn Lamari und Mohamed Mediène, den eigentlichen Machthabern des Landes. Am nächsten Tag kamen 17 der Geiseln frei….

Während es in Algerien offiziell heißt, das algerische Militär habe die Gruppe der Entführer angegriffen und dabei die Geiseln befreit und vier der Entführer getötet, widersprechen andere Quellen dieser Version und behaupten, die Geiseln seien freigekauft und Gewalt nicht angewandt worden. (2)

Diese höchst widersprüchlichen Informationen werfen ein Licht auf die Lage in Algerien, in die sich dieses Ereignis einreiht:
Immer noch ist unklar, wer die Entführer sind. Seit Wochen erklären algerische und europäische Medien und Verantwortliche, dass die GSPC (Groupe salafiste pour la prédication et le combat), eine Abspaltung der berühmt berüchtigten GIA (Groupes islamiques armés), die enge Kontakte zu Al Qaida pflegen sollen, die Entführung durchgeführt habe. Die Gruppe bekannte sich jedoch nicht zu dieser Tat, und diese Behauptung wird durch die Praxis der GSPC und die Vorgehensweise des algerischen Regime relativiert.

Die GSPC, angeführt von Hassan Hattab, ist eine Gruppe, deren Zahl von mehreren Dutzenden bis maximal 300 angegeben wird (3) und die ausschließlich im Norden des Landes hauptsächlich in der Kabylei aktiv ist. Sie erfuhr in den letzten Monaten – laut Presseberichten – einige entscheidende Schläge, die sie weiter schwächten. Ihre Kampfmethoden zeichnen sich dadurch aus, dass sie ausschließlich militärische Ziele und Milizen angreifen.
Mokhtar Benmokhtar, der ebenfalls zeitweise für die Entführung verantwortlich gemacht wurde, ist bekannt als Schmuggler (Marlboro-Connection). Er hat der GSPC möglicherweise Waffen verkauft, was ihn aber noch lange nicht zu einem Mitglied dieser Gruppe macht.

Der seit 1998 agierenden GSPC wurden erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 Verbindungen zu Al-Qaida nachgesagt. Ausgestiegene Mitglieder des algerischen Geheimdienstes DRS behaupten aber, dass sie nie von einer Verbindung zu Al Qaida gehört haben.(4) Eine solche Entführung entspricht auch nicht ihren sonst radikalen Methoden. Die US-Regierung ließ die GSPC auf die Liste der Terrororganisationen setzen, was den algerischen Generälen sehr gelegen kam, da sie den Krieg, den sie seit dem Abbruch der Wahlen im Januar 1992 gegen die Bevölkerung führen, als Terrorismusbekämpfung bezeichnen. Doch immer mehr ehemalige Militärangehörige berichten über die äußerst brutalen Methoden des algerischen Militärs, die Manipulation von islamistischen Gruppen und die Schaffung neuer Verbände, die im Dienste des DRS (Département du renseignement et de Sécurité, Nachrichten- und Sicherheitsdienst) agieren. (5) Und seitdem Folteropfer gegen General Nezzar im April 2001 Strafanzeige erstatteten, können sich die Junta-Offiziere nicht mehr sicher sein, straflos davon zu kommen.

Eine solche Operation – sechs Gruppen zu entführen und drei Monate lang zu unterhalten – verlangt ein gut organisiertes Netz und eine zumindest elementare Infrastruktur, die nicht unbemerkt bleiben können, zumal die doch recht großen Menschengruppen (ca. 30 Personen) von einem Ort zum anderen zogen. Auch wenn die Wüste nur spärlich besiedelt ist, ihren Bewohnern fallen außergewöhnliche Bewegungen auf. Außerdem sollen schon seit einiger Zeit bis zu 5000 Soldaten mit Hilfe ortskundiger Führer das Gebiet beobachtet und durchkämmt haben.

Damals als die Mönche entführt wurden….

Die Entführung der Touristen erinnert an die der Trappistenmönche durch die GIA im März 1996. Es war nicht verständlich, warum die Geistlichen, die in der Bevölkerung beliebt waren und von den Kämpfern in der Region nicht nur respektiert, sondern auch Protektion erhalten hatten, Zielscheibe einer solchen Aktion wurden. Erst später wurde klar, dass sie Opfer des blutigen Machtkampfes innerhalb des Herrschaftsapparates geworden waren.

Die Mönche sollten nicht sterben. Vielmehr sollten sie gezwungen werden, ihr Kloster in Tibhirin zu verlassen, wo sie allen Menschen, als auch den Kämpfern medizinische Hilfe boten und Zeuge der massiven militärischen Repression – mit dem Einsatz von Bomben, Napalm, Massakern und Liquidierungen – gegen die Bevölkerung wurden. Darüber hinaus diente diese Geheimdienstoperation dazu, die Barbarei der „Islamisten“ zu demonstrieren und so weiter Druck auf die französische Regierung auszuüben, um deren Unterstützung für das algerische Regime zu garantieren.

Die Operation schlug fehl, nicht zuletzt weil der französische Geheimdienst in direkte Verhandlungen mit den Entführern trat und so die Gefahr bestand, dass die Hintermänner aufflogen. Alle Zeugen wurden liquidiert: Die Mönche selbst, aber auch ihre Entführer – nicht zuletzt der Chef der GIA– Djamel Zitouni. (6)

Die Entführung der 32 Touristen fand in einer brisanten Situation statt. Angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen im April 2004 spitzen sich die Rivalitäten zwischen den Militärclans dramatisch zu. Die Entlassung des Regierungschefs Ali Benflis Anfang Mai ist ein Vorbote der möglicherweise bevorstehenden Kämpfe im Machtapparat. Ex-Präsident Liamine Zeroual wurde im September 1998 nach den schlimmsten Massakern, die das Land gekannt hat und die Tausenden das Leben kosteten, gezwungen, das Amt niederzulegen.
Ob Fischer und Hanning ahnten, dass die Geiseln nichts anderes als ein Spielball in den internen Rivalitäten sein könnten? Sie haben scheinbar verstanden, dass es klüger ist, sich auf das Spiel einzulassen und mittels eines Lösegeldes und anderen nicht bekannten Versprechungen die heikle Angelegenheit zu regeln, als darauf zu bestehen, direkt mit den Entführern zu verhandeln oder auf das Angebot der libyschen Stiftung Ghadafi Charity Fund einzugehen, die erfolgreich die Befreiung der deutschen Touristen auf der philippinischen Insel Jolo organisiert hatte.

Was geschieht wirklich? Was wird mit den Entführten geschehen? Die wirkliche Gefahr, in der sie sich befinden, ist die, dass sie Dinge wissen könnten, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen.

Das Verwirrspiel um die Freilassung der Entführten am 19. Mai illustriert wie in einem Brennglas die algerischen Machtverhältnisse: Informationen werden gegeben, Spuren werden gelegt, Zusammenhänge suggeriert – alles wird wieder dementiert, so dass es unmöglich ist, hinter die Wand der Nebelkerzen zu sehen, die diese Informationspolitik bewusst organisiert und hinter der die Clans der Militärführung ihre Kämpfe austragen.

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1. L’Actualité, Le Quotidien d’Oran, 18. und 19. Mai 2003.
2. RFI, 17. Mai 2003
3. So der algerische General Maiza auf dem internationalen Terrorismus-Seminar Ende Oktober 2002. Le Quotidien d’Oran, 27. Oktober 2002.
4. Aussagen von Abdelkader Tigha in Nord Sud Export, Dossier politique, N°460, 7. März 2003.
5. Zeugenaussage von Ex-Capitaine Ahmed Chouchane und Colonel Mohamed Samraoui während des Prozesses den General Khaled Nezzar gegen Leutnant Souaïdia wegen Verleumdung anstrengte, in Habib Souaïdia, Le procès de la „Sale guerre“, La Découverte, Paris 2002, S. 162ff und 229ff.
6. Armand Veilleux, Hypothèses sur la mort des moines de Tibéhirine, Le Monde, 24. Januar 2003.