Algerien zieht nach Massenunruhen die Notbremse

Algerien zieht nach Massenunruhen die Notbremse

Regierung verkündet Demonstrationsverbot – Presse und Opposition fordern Rücktritt des Staatschefs

Algier – Algeriens Regierung hat, « bis neue Befehle ergehen », ein generelles Demonstrationsverbot über die Hauptstadt Algier verhängt. Dies verkündete das Innenministerium nach einer Krisensitzung der Regierung am späten Montagnachmittag.
Von unserem Korrepondenten

REINER WANDLER, zurzeit Algier, Stuttgarter Nachrichten, 20.06.01

Noch am selben Abend übertrug das Staatsfernsehen eine Ansprache von Regierungschef Ali Benflis: « Wir haben nur ein Vaterland, Algerien. Wir müssen in allen Regionen unser geliebtes Vaterland und das Volkseigentum schützen », richtete er seinen Appell an die Bürger.

Das Dekret und die Ansprache kommen spät und sind die ersten offiziellen Reaktionen, seit am Donnerstag vergangener Woche die größte Demonstration, die Algier je gesehen hat, mit schweren Unruhen endete. Nach letzten Angaben wurden vier Demonstranten getötet und 946 teils schwer verletzt, als die Polizei gewaltsam verhinderte, dass die 1,5 Millionen Teilnehmer einer Trauermarsches im Gedenken an die Toten der seit zwei Monaten anhaltenden Unruhen in der Berberregion Kabylei zum Präsidentenpalast zogen. Der durch Demonstranten und Plünderer verursachte Sachschaden beläuft sich auf 30 Millionen Mark.

Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika, dessen Rücktritt die unabhängige Presse und die Opposition fordern, aber schweigt. Er bereitet eine Rundreise durch die Regionen seines Landes vor, die bisher noch nicht von den Unruhen erfasst wurden. Ihre Zahl freilich wird immer kleiner. Seit der Demonstration am Donnerstag haben die Unruhen in der Kabylei wieder zugenommen. In der Provinz um die Berbermetropole Tizi Ouzou und in Teilen der Region rund um die zweitgrößte kabylische Stadt Bejaia gehen die Jugendlichen erneut Tag für Tag auf die Straße. Mit Molotowcocktails und Steinen greifen sie Polizeireviere und Kasernen der Gendarmerie an. Dabei kamen erneut drei Jugendliche durch Schüsse ums Leben. Die Zahl der Todesopfer ist damit nach Zählungen der Opposition auf knapp 100 gestiegen. Die Regierung dagegen gesteht nur 56 Tote ein.

Auch im restlichen Land kam es in den letzten Tagen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen. Betroffen vor allem: der Osten rund um Constantine, Anaba und Skida sowie die Südprovinz Dirah. Zu den heftigsten Unruhen kam es in der Stadt Ain Mlila rund 400 Kilometer östlich von Algier. Aufgebrachte Jugendliche bewarfen das Haus des Bürgermeisters mit Steinen. Dessen Sohn antwortete mit Schüssen aus einem Maschinengewehr, bevor er flüchtete. Die Demonstranten steckten das Haus und Geschäfte der Familie an. 40 Demonstranten wurden verletzt – 21 durch das Maschinengewehrfeuer.