Berber laufen Sturm gegen Algier

Berber laufen Sturm gegen Algier

Schwere Unruhen in der Kabylei – Polizei erschießt 29 Jugendliche

Markus Bernath, Der Standart, 30. April/ 1. Mai 2001

Algier/Wien – Begonnen hat alles mit einer « bavure », einem « Missgriff », wie – ganz nach französischem Vorbild – in Algerien Übergriffe der Polizei höflich umschrieben werden: Ein 18-jähriger Gymnasiast starb am vorvergangenen Wochenende in einem Kommissariat der Kleinstadt Beni Douala in der Kabylei. Während des Verhörs sollen sich Schüsse aus der Maschinenpistole eines Polizisten gelöst haben. Seither laufen die jungen Berber in der Bergregion östlich von Algier Sturm gegen die Staatsgewalt. Die Straßenkämpfe haben vergangenen Samstag ihren bislang höchsten Blutzoll gefordert – nach Angaben der französischen Nachrichtenagentur AFP erschossen Sicherheitskräfte 29 zumeist Jugendliche, die Polizeiwachen und andere öffentliche Einrichtungen angriffen, darunter auch die Präfektur in Bejaïa, der Hauptstadt der « kleinen Kabylei ». Die Zahl der Toten stieg damit auf wenigstens 45, mehrere Hundert Menschen sind bei den nunmehr seit elf Tagen dauernden Unruhen verletzt worden.

« Geben Sie uns Arbeit, und es wird Ruhe sein, geben Sie uns Wohnungen, und es wird Ruhe sein, geben Sie uns wieder Hoffnung, und es wird Ruhe sein! », schrie ein Jugendlicher Innenminister Yahid Zerhouni ins Gesicht, der sich vergangenen Mittwoch den Aufständischen in Bejaïa stellte. Es war zugleich das erste Mal, dass die Algerier auch im Staatsfernsehen und nicht länger nur aus der regierungskritischen Presse vom Aufstand in der Kabylei erfuhren, der das traditionelle Streben der Berber nach kultureller Unabhängigkeit zu zeigen scheint, in Wirklichkeit aber nur die soziale Misere des Landes widerspiegelt. « Die Leute haben es einfach satt », sagte ein Beobachter in Algier dem STANDARD, « sie kämpfen gegen die ,hogra’, das soziale Unrecht, das sie jeden Tag erleben. »

Permanenter Konflikt

Die Berber der Kabylei stellen etwa ein Drittel der 30 Millionen Einwohner Algeriens, haben ihre eigene Sprache, sind laut Verfassung als kultureller Teil der algerischen Nation anerkannt – ein Sieg des großen Berberaufstands vom April 1980 -, leben aber dennoch im permanenten Konflikt mit der Zentralregierung und dem sie stützenden Militär, das mit dem Terror der Islamisten nicht fertig wird. Die Bergregion ist übervölkert, Landwirtschaft und Industrie bieten kaum Arbeit, die Familien überleben in der Regel mit Zuweisungen von Verwandten, die in Europa arbeiten oder in der Hauptstadt Algier. Die neuen Unruhen haben nun neben Bejaïa vor allem die Dörfer um Tizi Ouzo, die Hauptstadt der Kabylei, kaum mehr als eine Autostunde entfernt von Algier, sowie Bouira, die drittgrößte Stadt der Region, erfasst.

Vergeblich haben die in der Kabylei maßgebenden Oppositionsparteien, die Sozialisten von der FFS und die Berberpartei RCD, zum Frieden aufgerufen. An die 3000 Studenten in Algier solidarisierten sich am Samstag bereits mit den Aufständischen in der Kabylei. Dass sich der Jugendaufstand aber zu einer Rebellion im ganzen Land auswächst wie im Oktober 1988, als das Einparteiensystem stürzte, gilt derzeit als unwahrscheinlich. Kommentatoren der regierungsunabhängigen Presse kritisieren aber einmal mehr Präsident Abdelaziz Bouteflika, der zu den blutigen Unruhen schwieg und zu einem Aids-Kongress nach Nigeria reiste.