« Das Praesidialamt ist ein Anhaengsel des Verteidigunsministeriums »

« Das Präsidialamt ist ein Anhängsel des Verteidigungsministeriums »

Lahouari Addi im Gespräch mit Libre Algérie (25. Oktober-7. November 1999)

Übersetzung aus dem Französischen: algeria-watch

LA: Welche Lehren ziehen Sie aus der Wahlbeteiligung (85,06%) und der Zahl der Ja-Stimmen (98,63%) bei dem Referendum über « das Vorgehen » (démarche) Abdelaziz Bouteflikas zur Überwindung der Krise?

Lahouari Addi: Auch wenn die Wahlbeteiligung übertrieben wurde, entsprechen die Ergebnisse des Referendums des 16. September doch der Realität, weil die Mehrheit der Bevölkerung sich nach Frieden sehnt. Die Wählerschaft hat Bouteflika die Legitimation gegeben, die er benötigte. Was wird er mit seinem Sieg machen? Wird er die reelle Macht (pouvoir) ausüben oder sich mit einer formellen Macht begnügen? Die Tatsache, daß er die Meinungsverschiedenheiten mit den Generälen bezüglich der Regierungsbildung in der Öffentlichkeit austrägt, markiert einen Meilenstein in seinen zukünftigen konfliktträchtigen Beziehungen mit diesen. Mir scheint, daß er einen Punktgewinn erzielt, weil das System reelle Macht/formelle Macht nur dann funktioniert, wenn der Präsident dieses nicht öffentlich bekanntgibt. Wie man bei uns sagt: Bouteflika « kchef el-bazga » (hat die Sache aufgedeckt). Die Militärhierarchie übt die reelle Macht auf undurchsichtige Weise aus, und wenn diese Undurchsichtigkeit verschwindet, werden die Generäle nichts anderes mehr sein als hohe Funktionäre des Verteidigungsministeriums. Der Machtkampf wird sich fortsetzen. Seit dem Tod von Boumediene ist das Präsidialamt ein Anhängsel des Verteidigungsministeriums. Bouteflika möchte die Situation umkehren und aus dem Verteidigungsministerium ein Anhängsel des Präsidialamtes machen. Wird er das können? Er hat Trümpfe.

Die wichtigsten westlichen Regierungen – insbesondere Paris und Washington – scheinen von A. Bouteflika angetan zu sein. Glauben Sie, daß dies das Wesen ihrer Beziehungen mit der Macht ändern wird?

Aus Gründen der regionalen Stabilität, die im Sinne ihrer Interessen liegen, werden die Vereinigten Staaten und Frankreich jeden politischen Führer unterstützen, der den Frieden in Algerien herbeiführen kann. Sie unterstützen Bouteflika, weil er eine riesige Hoffnung auf Frieden hervorrief.

Wie interpretieren Sie die Unterstützung der RCD und der ANR für die offizielle Politik?

Die ANR und die RCD sind Organisationen, die sich um ihre Führer drehen. Redha Malek ist ein Veteran der FLN, der Funktionen als Premierminister ausgeübt hat und bei der Verbesserung der Situation und der Schaffung des Friedens gescheitert ist. Er will aus seinem Scheitern keine Lehre ziehen und fährt fort, Positionen zu vertreten, die keine Perspektiven haben. Said Sadi ist ein anderer Fall. Er ist jung und hat noch nie Macht ausgeübt. Er ist Träger eines autoritären Modernisierungsprojektes der Gesellschaft. Er träumt davon, der Atatürk Algeriens zu sein, ungeachtet der Tatsache, daß dieser ein Militär der zwanziger Jahre war. Er war darüber hinaus ein nationaler Held, weil er militärische Siege errungen hatte, auf die er seine Legitimität aufbauen konnte. Aber heute erlauben weder die nationalen noch die internationalen Bedingungen autoritäre Methoden à la Atatürk. Said Sadi glaubt, das derzeitige System für sein Projekt nutzen zu können. Er sieht in Bouteflika eine Bresche des Systems und stürzt sich hinein. Welche Ministerien werden der RCD zugesprochen? Das ist die Frage. Bald werden wir es wissen, und wir werden auch wissen, wer von beiden, der RCD oder das Regime, den anderen benutzt.

Wie erklären Sie die Tatsache, daß die Opposition – insbesondere diejenige, die durch die Gruppe der sechs ehemaligen Präsidentschaftskandidaten repräsentiert wird – in den Hintergrund gerückt ist?

Ich glaube nicht, daß die « Sechs » nach der Präsidentschaftswahl in den Hintergrund gerückt sind. Es war ein Ereignis, das die Parteien gezwungen hat, ihre Strategien anzupassen. Darüber hinaus war die institutionelle Opposition immer schwach, weil das Regime stets versucht hat, sie zu manipulieren und sie zu ersticken… Zudem ist die algerische politische Szene nicht sehr groß, da sie aus zahlreichen virtuellen Parteien besteht, deren hauptsächliche Funktion darin besteht, zu stören. Schematisch gesehen gibt es nur drei politische Parteien in Algerien: Die FFS (Front des Forces Socialistes), die den demokratischen Bruch repräsentiert; die FIS, die den gewaltsamen Bruch sucht; und schließlich die Sécurité Militaire, die die staatlichen Mittel benutzt, um das Regime zu erhalten. Allgemeiner gesehen darf man nicht vergessen, daß die politische Kultur der Bevölkerung antistaatlich ist. In Algerien gab es seit der Antike immer Revolten und Rebellionen gegen den Zentralstaat. Die heutige Situation mit ihren islamistischen Maquis ist eine Episode, die sich in eine historische Kontinuität einreiht. Die Lösung ist die Moderne, d.h. der Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz. Wenn die Wähler periodisch ihre Führer bestimmen können, wird es keine Revolten mehr geben. Die islamistischen Maquis werden wohl bestehen bleiben, solange das Regime sich nicht dem durch Wahlen herbeigeführten Wechsel unterwirft. Nicht daß die Islamisten zu den Waffen gegriffen hätten um den demokratischen Machtwechsel einzurichten, aber wenn dieser institutionalisiert ist, wird kein Maquis mehr möglich sein, weil er nicht die Unterstützung der Bevölkerung oder eines Teils der Bevölkerung erhalten wird.

Der neue Diskurs der Macht zeichnet sich dadurch aus, daß der Staat und seine Institutionen heftig kritisiert und die Thesen der Opposition vereinnahmt werden. Was kann das Regime in der Praxis erreichen?

Es gibt keinen neuen Diskurs der Macht. Es gibt einen neuen Diskurs des Präsidialamtes, – das 10% der Macht repräsentiert – und das versucht an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, indem es sich die Kritik der Bevölkerung zu eigen macht. Dieser kritische Diskurs basiert nicht auf Erkenntnissen, um die Situation zu verbessern; er basiert auf List, um das Vertrauen der Bevölkerung einzufangen. In der Praxis wird es im besten Fall darauf hinauslaufen, daß einige Persönlichkeiten, die stark in Korruptionsnetze verstrickt sind, in den Ruhestand geschickt werden, aber das System, das die Korruption hervorbringt, wird unversehrt bleiben, außer das Regime akzeptiert den Wechsel und die Unabhängigkeit der Justiz.

Kann der Neopopulismus Bouteflikas eine Lösung oder Elemente zur Lösung der Krise bieten?

Die algerische Krise ist eine politische und institutionelle. Bouteflikas Populismus suggeriert, die Gründe der Krise seien moralischer Natur und man bräuchte nur einige Verantwortliche zu beseitigen, die ihre Mission nicht erfüllt haben. Ich befürchte, daß Bouteflika mit einer solchen Diagnose nicht über die Mittel zur Überwindung der Krise.

(…)

Der Nachfolger Liamine Zerouals betont, daß das Volk aufgrund seiner Kultur für eine liberale Demokratie nach westlichem Modell nicht geeignet sei. Unter dem Vorwand der Spezifizität bekräftigt er, daß Algerien sich die universellen Menschenrechte nicht zu eigen machen kann. Bewegen wir uns in Richtung einer « spezifischen » Demokratie vom tunesischen oder ägyptischen Typ?

Um die politischen Überzeugungen Bouteflikas zu verstehen, muß man sich seinen Lebenslauf vor Augen führen. Er schließt sich, als Schüler der zwölften Klasse, mit 17 Jahren, dem Befreiungskampf an und erreicht 1961-62 den Grad des Kommandanten der ALN [Armée de Libération Nationale]. Er ist ein Produkt der FLN, mit ihren nationalistischen Weihen und ihren ideologischen Beschränkungen. Für einen Aktivisten der FLN hat diese Partei einen historischen Sieg errungen: die nationale Unabhängigkeit. Das stimmt, aber diese Generation beabsichtigte nicht, einen Staat aufzubauen; sie hatte als Ziel die Bildung einer Armee, die heute die Gesellschaft daran hindert, sich mit einem Rechtsstaat zu versehen. Es ist kein Zufall, wenn von allen Verwaltungsdiensten der einzige, der relativ effizient funktioniert, die Sécurité Militaire ist. Es ist das Erbe aus der Phase des Befreiungskrieges, diese berühmt berüchtigten Kinder Boussoufs, die überall Verräter sehen und die eine Abneigung gegen zivile Eliten hegen. Bouteflika gehört zu ihnen, da Boumediene der Stellvertreter von Boussouf war und Bouteflika unter dem Befehl Boumedienes stand. Diese Generation von Kämpfern ist unempfänglich für die Demokratie, das Gesetz, die öffentlichen Freiheiten, den Respekt des Individuums. Ihre politische Kultur ist auf Volksmassen, Nation und Gruppe reduziert, in denen das Individuum aus Fleisch und Blut unbedeutend ist. Diese politische Kultur, die aus den Zwängen des antikolonialen Kampfes hervorgeht, basiert auf Macht, List und Gewalt und strukturiert sich um ideologische Interessen der nationalen Gemeinschaft. In diesem Katalog existieren der Respekt des Individuums, die öffentlichen Freiheiten und das Gesetz etc. nicht. Oder wenn es sie gibt, dann nur als Propaganda für das Ausland. In der Generation Bouteflikas zählt nur die Nation, die in mystischer Weise erlebt wird und mit der Armee, dem Sockel des Regimes, identifiziert wird. Wenn es nötig wäre, um das Regime, das sich über die Armee mit der Nation identifiziert zu retten, hunderttausende Algerier zu töten, würde es ohne Gewissensbisse getan und als eine nationale Pflicht gerechtfertigt werden. […] Wir verstehen, warum der Präsident Bouteflika bei der UNO die NGO zur Verteidigung der Menschenrechte kritisiert und das Recht auf humanitäre Einmischung angefochten hat, das als Angriff auf die nationale Souveränität verstanden wird, d.h. auf das Recht des Regimes über Leben und Tod seiner protestierenden Untertanen zu bestimmen. Dies beweist, daß Bouteflika sich politisch nicht weiter entwickelt hat, nachdem er 1978 die Macht verlassen hat. Für ihn hat die Geschichte zu diesem Zeitpunkt aufgehört. Heute kann das universelle Bewußtsein nicht akzeptieren, daß nationale Führer foltern und Menschen in der Ausübung ihrer Funktion töten. Der Fall Pinochet wird sich in Zukunft wiederholen. Seine Festnahme und Vorführung vor dem Gericht ist eine moralische Forderung. Das Argument der Souveränität reicht nicht, weil Souveränität bedeutet, die Fähigkeit zu besitzen, Gesetze zu machen und nicht aus inneren politischen Gründen Massen zu töten. Bouteflika hat nicht verstanden, daß die Regimes der Dritten Welt ihre revolutionäre Dynamik verloren haben und in zwei Jahrzehnten sich gegen ihre Bevölkerungen gerichtet haben, die sie aushungern und töten. Noch einmal: die Bürger der Welt haben das Recht, eine internationale Untersuchungskommission zu den Massakern in Bentalha und Rais zu verlangen, und es ist kein Angriff auf die Souveränität des Staates, weil ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. Früher oder später wird es eine Untersuchungskommission geben, weil die Verbrechen gegen die Menschlichkeit unverjährbar sind.

Bouteflika hat die Absicht geäußert, seine « verfassungsrechtlichen Befugnisse wieder zu erlangen ». Welche Bewegungsfreiheit läßt ihm die Gruppe der militärischen Machthaber, die ihn in seine Position gehievt hat?

In der Zeit, in der Bouteflika Außenminister war, vereinte der Staatschef, damals Boumediene, die reelle und formelle Macht. Bouteflika versucht, sich die charismatische Statur Boumedienes zu geben, um die reelle Macht auszuüben, die bisher die Militärführung innehat. Ob es ihm gelingen wird? Er hat sicherlich Trümpfe. Eins ist sicher: Er wird erst dann ein wirklicher Staatschef sein, wenn er die Generäle, die ihn als Kandidat des Konsens ernannt haben, beseitigt und andere Generäle an ihre Stelle befördert, die ihm treu sein werden, weil sie ihm ihre Beförderung verdanken. Kein politisches System funktioniert mit den Königmachern, und es gibt keine Ausnahme von dieser Regel. […]

Ist die Militärführung bereit, das Ende der « ursprünglichen Akkumulation » zu akzeptieren und eine Rechtstaatlichkeit anzunehmen, das ihre materiellen « Errungenschaften » schützt? Es scheint, als wolle Bouteflika ihr dies signalisieren. Ist sie bereit für eine solche Entwicklung?

Der Konflikt zwischen Bouteflika und den Generälen dreht sich nicht um die  » ursprünglichen Akkumulation ». Die Bildung von privaten Vermögen durch die Machthaber ist eine Eigenschaft des Systems, das auf der Privatisierung des seinem Wesen nach Öffentlichen, nämlich der Macht, basiert. Die Privatisierung der Macht hat zur logischen Konsequenz den Raub vom Reichtum der Gemeinschaft unter Ausnutzung von politischen Positionen. Die führende Elite stellt sich über das Gesetz und lehnt eine Autonomie der Justiz ab. Bouteflika akzeptiert diese Situation, die er normal findet; er kritisiert ausschließlich die Bereicherung von Individuen, die nicht seinem Clan angehören.

Der Konflikt dreht sich nicht um die Bildung von privaten Vermögen, er dreht ich um die Ausübung der Macht, d.h. die Vergabe von Schlüsselpositionen der Bereicherung benennen zu können: Zolldirektoren, leitende Finanzbeamte, Verantwortliche des Außenhandels usw. wie auch Chefs der Polizei, der Gendarmerie, der Justizminister, weil diese Personen den Raub und die Bereicherung Aneignung durch Gesetze verhindern könnten. Ein weiterer Aspekt des Konflikts ist die nationale Versöhnungspolitik, die eine Überwindung der Bedingungen, in der die Parlamentswahlen von Dezember 1991 abgebrochen wurden, erfordert. Bouteflika will die reelle Macht ausüben, um mit der FIS zu verhandeln und den Frieden herbeizuführen. Dies würde bedeuten, daß Oberoffiziere, die an dem Abbruch der Wahlen im Dezember 1991 – den er als Gewaltakt bezeichnet hat – teilgenommen haben in den Ruhestand geschickt werden. Das Erbe dieses Abbruches ist wiegt schwer: 100 000 Tote, 20 000 Verschwundene, Zerstörungen in Milliardenhöhe, usw. Hinzu kommt die Forderung von den Opfern des Terrorismus nach Rechenschaft; das setzt voraus, daß der Schleier über die Befehlshaber der GIA gelüftet wird. Die Situation scheint unentwirrbar. War sich Bouteflika dessen bewußt, als er das Angebot der Generäle, Präsidentschaftskandidat zu werden, erhielt? Er befindet sich vor einer doppelten Wahl: Entweder er akzeptiert das Spiel des Superministers, für das er benannt wurde, oder er bringt den Frieden zurück und wird zu einem Staatschef, der seine Präsidentschaft prägen wird.

 

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