Offener Brief an die Mitglieder der UN-Mission nach Algerien
Vor welchen Herausforderungen steht die UN-Mission?
Auf Verlangen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen wird eine Delegation unter dem Vorsitz von Mario Soares und bestehend aus Simone Veil, I.K. Jurgal, Abdel Karim Kabariti, Donald McHenry und Amos Wako am 22. Juli eine vierzehntägige « Informations-Mission » nach Algerien unternehmen. Als Mitglieder des Internationalen Komitees für Frieden, Demokratie und Menschenrechte in Algerien, das vor kurzem in Paris gegründet wurde, können wir diese Initiative nur begrüßen. Wir hoffen sehr, daß sie dazu führen wird, Licht in eine komplexe, konfuse und undurchsichtige Situation zu bringen und dadurch zur Rückkehr zum zivilen Frieden in Algerien beizutragen.
Die algerische Regierung wollte diese Mission, und sie hat ihr den « umfassenden und freien Zugang » zu allen Informationsquellen zugesagt. Wir zweifeln gewiß nicht daran, daß ihre Mitglieder Vertreter der gesellschaftlichen und politischen Kräfte des Landes treffen können. Die zuständigen Minister werden ihnen erklären, daß man in Algerien heute normal leben kann, auch wenn noch ein « Rest-Terrorismus » vorhanden ist. Sie werden sie darauf hinweisen, daß seiner Ausrottung (éradication) die zu große Toleranz der westlichen Regierungen gegenüber den islamistischen Untergrundgruppen entgegensteht, weil diese ihre Länder als Rückzugsbasen für den Terrorismus in Algerien benutzen. Und sie werden auf die Dringlichkeit einer Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung pochen. Und sie alle werden in erster Linie hervorkehren, daß dieser Umstand weder das gute Funktionieren der neuen « demokratischen Institutionen » noch die Meinungsfreiheit der « unabhängigen Presse » überdecken darf.
Die große Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung und des Senats werden diese Beurteilung der Sachlage ebenso bestätigen wie die Chefredakteure der verschiedenen Medien, die es sich nicht nehmen lassen werden, die Freiheit des Tones zu rühmen, die sie täglich unter Beweis stellen. Ebenso wird der Präsident der Nationalen Beobachtungsstelle der Menschenrechte (ONDH, dem Staatspräsidenten unterstellt), Rechtsanwalt Kamel Rezzag Bara, « Übergriffe und Pannen » seitens der Sicherheitskräfte eingestehen, doch er wird erklären, daß diese begrenzt sind und von der Justiz systematisch verfolgt und bestraft werden. Dies werden die Mitglieder des Obersten Richterrats bestätigen, die ihre Rolle als Garanten der Unabhängigkeit der Justizverwaltung unterstreichen werden.
Schließlich wird die Delegation Vertreter der « Zivilgesellschaft » treffen: Frauenvereinigungen, Personal des Gesundheitswesens, Initiativen zur Wohnraumbeschaffung, Gewerkschafter der UGTA… Sie wird sicherlich davon beeindruckt sein, ein wie freier Ton herrscht, die Kritik an den Machthabern inbegriffen, und wie mutig sie den Dramen, die der islamistische Terror entfacht, und den Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens begegnen.
Wenn die Mitglieder der UN-Mission es mit all diesen Treffen bewenden lassen, werden sie zweifellos Algerien mit dem Eindruck verlassen, daß das Land zwar sicherlich noch schwere Stunden durchlebt, aber auf dem Wege zu einer echten Demokratie ist, wie dies ja die Vielfalt der Gesprächspartner beweist. Allerdings berührt diese von der « wirklichen Macht » – wie die Algerier die Führer der Armee nennen – « kontrollierte Demokratie » lediglich einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft. Doch wenn die Delegation « die ganze Wirklichkeit der Lage in Algerien in all ihren Dimensionen » kennenlernen will, wozu sie der algerische UN-Botschafter Abdallah Baali eingeladen hat, dann ersuchen wir ihre Mitglieder, ihn beim Wort zu nehmen, um ihre Nachforschungen auszuweiten.
Wir ersuchen sie z.B., die Rechtsanwälte von Opfern der « Übergriffe und Pannen » der Sicherheitskräfte unter vier Augen zu treffen; der Kontakt zu diesen ließe sich durch den Nationalen Verband der Algerischen Anwälte, dessen Vorsitzender Rechtsanwalt Mahmoud Khelili ist, oder durch die Algerische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte unter Vorsitz von Rechtsanwalt Ali Yahia Abdenour herstellen. Sie werden ihnen berichten von Urteilen, die die Gerichte ausschließlich auf der Grundlage von unter der Folter erpreßten Geständnissen gefällt haben, von den systematischen Verletzungen der Verteidigerrechte und von extralegalen Hinrichtungen, die gang und gäbe geworden sind.
Wir ersuchen sie, die Vertreter des Nationalen Richterbundes unter vier Augen zu treffen, die die Aufhebung des Exekutiv-Dekrets vom 24. Oktober 1992, das die Unabhängigkeit der Gerichte praktisch aufgehoben hat, fordern und sich dem jüngsten Gesetzesentwurf zur Rechtsstellung der Gerichte, das die jetzige Situation noch verschlimmern würde, widersetzen.
Wir ersuchen sie, die Vertreter der Tausenden von Familien unter vier Augen zu treffen, die auf der Suche nach ihren « verschwundenen » Verwandten sind, die durch Mitglieder der Sicherheitskräfte oder durch von den Machthabern bewaffnete Milizen entführt wurden.
Wir ersuchen sie, Journalisten der « suspendierten » oder verbotenen Presseorgane unter vier Augen zu treffen.
Wir sind überzeugt, daß solche Zeugenaussagen ihnen dabei nützlich sein werden, ihren offiziellen Gesprächspartnern präzise Fragen zu stellen betreffs der Vorwürfe, die seit mehreren Jahren von den Menschenrechtsorganisationen erhoben werden. Insbesondere geht es um folgende Fragen:
- Warum hat die Armee, die nach dem Buchstaben der Verfassung keinerlei politische Rolle zu spielen hat, nach Aussage aller kompetenten Beobachter einen so entscheidenden Platz im politischen System inne, daß sie ihre Entscheidungen – offen oder verdeckt – in jeder wichtigen Angelegenheit durchsetzen kann?
- Welche Garantien gibt der Staat, damit die Repression der terroristischen Akte unter Respektierung der von Algerien ratifizierten internationalen Menschenrechtskonventionen und -verträge durchgeführt wird?
- Ist es möglich, die vierzehn Haftzentren der Region um Algier zu besuchen, die von der FIDH (Internationale Menschenrechtsföderation) als Folterzentren aufgeführt werden?
- Ist es richtig, daß derzeit 18 000 politische Gefangene wegen « terroristischer Akte » inhaftiert sind? Unter welchen Bedingungen wurden sie vor Gericht gestellt und verurteilt?
- Ist der « ministerielle Erlaß » vom 7. Juni 1994, der es den Medien untersagt, andere Informationen über die « Sicherheitslage » zu veröffentlichen als jene « offiziellen Kommuniqués » des Innenministeriums, noch immer in Kraft? Ist es richtig, daß « Lektüre-Komitees » des Innenministeriums in den drei Druckereien tätig sind, die die Tageszeitungen der Region von Algier drucken?
- Warum haben die Sicherheitskräfte bei den Massakern, die zwischen Sommer 1997 und Anfang 1998 stattfanden, nicht eingegriffen, obwohl doch einige ihrer Einheiten oftmals in unmittelbarer Nähe stationiert waren? Sind Untersuchungen durchgeführt worden anläßlich von Zeugenaussagen, die von nicht-staatlichen Menschenrechtsorganisationen gesammelt wurden und denen zufolge die bewaffneten Gruppen, die Zivilisten massakrieren, bisweilen mit bestimmten Einheiten der Sicherheitskräfte zusammenarbeiten oder mit deren Zustimmung handeln?
- Trifft es zu – wie Ministerpräsident Ahmed Ouyahia erklärt hat -, daß es 5 000 « Selbstverteidigungsgruppen » (GLD, groupes de légitime défense) auf der Basis das Gesetzes vom 4. Januar 1997 gibt? Steht ihre Existenz seit 1994 im Einklang mit dem Internationalen Abkommen über die Zivilen und Politischen Rechte der UNO, das 1989 vom algerischen Staat ratifiziert wurde? Ist es zutreffend, daß diese « Selbstverteidigungsgruppen » an offensiven Aktionen der Sicherheitskräfte teilnehmen? Auf welcher gesetzlichen Grundlage?
- Was hat die Nationale Beobachtungsstelle der Menschenrechte (ONDH) im Falle der 1 928 Anträge auf Feststellung des Verbleibs von verschwundenen Personen unternommen, mit denen sie nach eigenen Angaben zwischen l994 und 1996 befaßt wurde? Hat sie seither neue Anträge erhalten? Wenn ja, wie viele, und was hat sie in dieser Angelegenheit unternommen?
Wir hoffen sehr, daß die Delegation ehrliche Anworten auf diese Fragen und alle anderen Fragen, die sie für nützlich hält, erhalten kann. Unserer Meinung nach geht es dabei um die Glaubwürdigkeit und Leistung ihrer Mission: Es muß alles versucht werden, um zu verhindern, daß das algerische Volk noch tiefer in die Verzweiflung gestoßen wird, weil es feststellen muß, daß die internationale Gemeinschaft nur interveniert, um den Status quo aufrechtzuerhalten. Wir hoffen gleichfalls, daß dieser Besuch nicht dazu benutzt wird, den algerischen Staat von seiner Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Instanzen der Vereinten Nationen freizusprechen – Verpflichtungen, die sich aus internationalen Verträgen ergeben, die dieser ratifiziert hat. Dringend ist insbesondere, daß die Regierung den beiden Sonderberichterstattern der UNO, die mit den extralegalen Hinrichtungen und der Folter befaßt sind, die Erlaubnis erteilt, in Algerien Untersuchungen durchführen zu können, worauf sie seit 1993 warten.
Nur eine Politik der Öffnung, die sich auf die Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten gründet, kann die Rückkehr zum Frieden und die Marginalisierung der Extremisten ermöglichen; sie sind die unerläßlichen Bedingungen für den Erholungsprozeß in Algerien und die Stabilität in der Region: Wir hoffen, Sie können diese Botschaft zu Gehör bringen.
Für das Internationale Komitee für Frieden, Demokratie und Menschenrechte in Algerien:
Majid Benchikh, Mohammed Harbi, Fatiha Talahite, Tassadit Yacine (Algerien), Werner Ruf (Deutschland), Patrick Baudouin, Pierre Bourdieu, François Gèze, Pierre Vidal-Naquet (Frankreich), Gema Martin Muñoz (Spanien), Anna Bozzo (Italien), George Joffé (Großbritannien), Inga Brandell (Schweden).