Die blutige Geschichte von den Regierungsmilizen
Farid Zemmouri, afrique asie, Juni 1998
Übersetzung aus dem Französischen: Karin Ayche
Die Machthaber haben den Skandal mit Waffengewalt erstickt. Aber Dutzende andere « Relizanes » drohen überall in Algerien aufzuplatzen. Die Saga von den « Patrioten » ist ein Schrecken ohne Ende, und gleichzeitig treibt eine stählerne Faust einen Keil zwischen die Fraktionen der militärischen Machthaber.
In der Zwickmühle zwischen den Forderungen seiner Bewohner nach Aufklärung der neuesten Massaker an der Zivilbevölkerung und der Forderung der internationalen Gemeinschaft nach Transparenz in der Frage der Menschenrechtsverletzungen, der Massenexekutionen und Folter haben die Machthaber Algeriens gezielt für Verwirrung gesorgt und Spuren verwischt. Sie haben mit Härte und ungewöhnlicher Schnelligkeit eingegriffen, um den Skandal von Relizane zu ersticken. Eine Stadt von 150.000 Einwohnern, auf der Strecke zwischen Algier und Oran, im Westen, fünf Jahre lang Geisel eines Milizenbürgermeisters der sogenannten « Legitimen Verteidigungsgruppen » (GLD), einer paramilitärischen Formation, einberufen von der Staatsmacht, um die Dörfer « abzuriegeln » und Armee und Polizei zu entlasten. Die Regierung hat die belastenden Zeugenaussagen der terrorisierten Bevölkerung beiseitegefegt und den « Sherif », Spitzname des Milizenbürgermeisters, auch bekannt als Pharao, der die Region systematisch und skrupellos beherrscht und ausgebeutet hat, nach kurzer Haft in die Freiheit entlassen. Zeugen, die Angst vor seiner Rache haben, fordern den Schutz der Behörden, und fast überall im ganzen Land drohen Dutzende von « Relizanes » aufzuplatzen. Denn hinter den « undichten Stellen », durch die die blutige Saga von den Relizane-Milizen telefonisch an die Öffentlichkeit kam, wird eine stählerne Faust erkennbar, die einen Keil zwischen die Fraktionen der Militärs treibt: zwischen Anhänger- und Gegnerfraktionen der « Privatisierung » des Krieges und durch die Reihen der Milizen, die immer selbstbewußter werden und immer schwerer zu steuern sind.
In einem Land, dessen System auf politischer Manipulation basiert, ist es durchaus bemerkenswert, daß die Schrecken der Staatsmilizen in Relizane durch eine Zeitung aufgedeckt wurden, die als parteitreues Organ der RCD gilt. Zum selben Zeitpunkt, als die Relizane-Miliz – unter Führung des lokalen Vorsitzenden der Regierungspartei – angeprangert wurde, lobte man jedoch eine andere Miliz in den Himmel, deren Anführer, ein Kader der RCD von Saïd Sadi, für seine engen Beziehungen zu den Hardlinern im Führungsstab berüchtigt ist. Es ist auch kein Zufall, daß das Staatsfernsehen, das dem Präsidenten aufs Wort gehorcht, eine Woche vorher in Erwartung dieser Enthüllungen « Frontkämpferinnen » aus Relizane, (lies: Frauen von Milizen) einlud, offen zu sagen, was sie von Hadj Ferguène und von Hadj el-Abed hielten, den beiden Chef-Milizionären, die die Presse dann einige Tage später an den Pranger stellte. Wenn auch das Abwehrmanöver nicht funktioniert hat, so hat das Präsidentenamt doch prompt reagiert und es geschafft, die Zeugenaussagen in Grenzen zu halten, den Aufruhr zu ersticken und den Mann zu verschonen, der zu dem Skandal Anlaß gegeben hatte.
Ob es nun ein Ausrutscher war, eine Warnung oder gezielte Provokation, auf jeden Fall brachte El-Watan, die meistgelesene Tageszeitung Algeriens, den Stein erneut ins Rollen, gerade als die Gemüter sich beruhigten. Trocken merkte sie an, « ähnliche Dinge hat es früher fast überall im Land gegeben. » Einigen Leuten könnte das wehtun. Daher rührt die Angst, die die Verantwortlichen jedes Mal packt, wenn von der internationalen Untersuchungskommission die Rede ist, deswegen die Energieverschwendung und die unglaublichen Summen, die sie weiterhin für Propaganda ausgeben, damit die Geschichte zu den Akten gelegt und die Aufmerksamkeit sich endgültig abwendet von dem, was sie euphemistisch « Ausschreitungen » nennen.
Was erfahren wir von den empörten Zeugen von Relizane? Daß ein Dutzend lokaler Milizenkader in den letzten fünf Jahren die Region ausgeplündert haben und dabei schlimmste Verbrechen gegen die Bevölkerung verübten: Folter, Massenerschießungen, Raub junger Mädchen, Diebstahl und Vergewaltigung. Sie quartierten sich im Bürgermeisteramt ein und installierten eine « Schreckensherrschaft », wurden zu « Todesschwadronen » – jenen Privatmilizen, die in den Militärdiktaturen Lateinamerikas operieren und die Algerien sich zum Vorbild genommen hat. Und im Namen des Kampfes gegen den Islamismus entblödeten sie sich nicht, ihre eigenen Verbrechen den bewaffneten Oppositionsgruppen in die Schuhe zu schieben. « Relizane wurde Hadj Ferguène dargeboten wie eine « Sébia » – eine Jungfrau -, eine völlig unterwürfige Sklavin », so El-Watan. Alles passierte nachts: « Jederzeit konnten vermummte Männer bei einem Bürger auftauchen und ihn festnehmen. Wer mitgenommen wurde, wurde ermordet oder verschwand »; man sah ihn nie wieder. Man hat Massengräber gefunden. Und etwa achtzig Leichen ausgegraben. Es gab Folteropfer, die lebendig begraben wurden. Ein Milizionär, der sich Ali nannte, entführte junge Mädchen in seinem Renault. Ein Offizier der Regierungstruppen – wohl ein Bezirkskommandeur – der für seine Vorgesetzten eine Akte über diese mafiösen Zustände zusammenstellte, wurde hingerichtet, lesen wir in den Zeitungen.
Aber was für ein Mann ist das, der im Dienste einer erklärten Staatssicherheitspolitik an die Spitze der Milizen von Relizane gelangte? Er ist Finanzbeamter – und auf dem Finanzamt « kennt man sich ja mit Korruption aus », sagen die Zeugen El-Watan gegenüber-, behauptet, Widerstandskämpfer im Unabhängigkeitskrieg gewesen zu sein, aber wenn überhaupt, dann wohl in letzter Minute: « Er hat von Ende 1961 bis Anfang 1962 drei Monate in Haft gesessen », knapp sechs Monate vor der Unabhängigkeit. Sein seltsamer Lebenslauf unterscheidet sich kaum von denen Zehntausender anderer Algerier, die sich lediglich versteckt hielten und die später, zur großen Entrüstung der echten Widerstandskämpfer des Unabhängigkeitskrieges (1954-1962) im nachhinein den ruhmreichen Titel « Mudjahid » (und die materiellen Vorteile, die damit verbunden sind) erhalten haben, indem sie Gefälligkeitszeugnisse vorlegten, die meist von gut geschmierten Bürgermeistern stammten. Das war die « Ära Chadli » (1980-1992). Damals säuberte die Armee ihre Reihen von Offizieren aus der Widerstandsbewegung und ersetzte sie durch ehemalige Offiziere der französischen Armee. Gleichzeitig wurde die nationale Organisation der Mudjahidin (ONM) überschwemmt von Scharen später Widerstandskämpfer, die der Staat auf diese Weise leichter unter Kontrolle halten konnte. Letzte Meldung: « Pharao (Hadj Ferguène) besaß drei Millionen Francs in Devisen und mehr als sechs Millionen in Dinar », als der Skandal an die Öffentlichkeit kam. Die Geschäfte liefen also gut für diesen ehrgeizigen kleinen Dorfbeamten mit seiner Sehnsucht nach einer Karriere in Politik und Gesellschaft!
Aber die Affäre von Relizane ist bei weitem nicht die einzige. Die Bresche in der Mauer des Schweigens hat große Unruhe ausgelöst, und immer mehr Menschen tun jetzt den Mund auf. Die Milizen werden verdächtigt, Dutzende von « Relizanes » begangen zu haben, in Médéa, in der Mitidja, im Raum Kakhdaria oder im Gebiet von Tlemcen, dort, wo der Staat sein Gewaltmonopol zweifelhaften Gruppen mit obskuren Motiven überlassen und beschlossen hat, die Augen zu verschließen vor dem Preis, den die Zivilbevölkerung an Gemetzeln, Willkürhandlungen und Plünderungen zahlen muß im Namen des « Kampfes gegen den Terrorismus ». Die « Falken » entwickelten sogar eine makabre, inzwischen viel verbreitete Doktrin zur Rechtfertigung der « politischen Säuberungen » in Regionen, die 1991 für die Islamische Heilsfront (FIS) gestimmt hatten, mit den gleichen Argumenten wie sie die Serben benutzten, um die « ethnischen Säuberungen » der muslimischen Bevölkerungsgruppen Bosniens zu rechtfertigen. Reiche Staatsgüter wurden von ihren legalen Pächtern gesäubert und privatisiert, Slums, die die Aussicht der Villenviertel verschandelten, durch gezielte Razzien geräumt wie früher unter den Franzosen; solche Abrechnungen gehören zu den Ruhmesblättern der Milizen.
Aber sie schmarotzen nicht nur und provozieren immer mehr Entrüstung bei der erpreßten Bevölkerung (sie lassen beim Schlachter eine Keule mitgehen, nehmen Elektrogeräte mit, ohne zu bezahlen, konfiszieren bei wehrlosen Jugendlichen auf der Straße ausländische Zigaretten, « besuchen » Wohnungen), es wird ihnen auch immer klarer, welche politische Macht sie nunmehr darstellen. Sie streben jetzt unverhohlen nach mehr Autonomie von der Armee, die sie noch eine Weile ausbildet und betreut, und wollen um jeden Preis ihre Waffen behalten.
Und da liegt der Haken. Nachdem Algerien vom Erdölsegen der letzten drei Jahre und von der Neufestsetzung seiner Auslandsschulden profitieren konnte, um diese Milizen auf die Beine zu stellen und so zum einen die Arbeitslosigkeit wenigstens etwas einzudämmen und zum anderen seine repressive Politik gegen die Islamisten zu intensivieren, dürfte das Regime jetzt finanzielle Probleme bekommen. Der Rückgang des Rohölpreises auf den internationalen Märkten wird es zweifellos dazu zwingen, seine Ausgaben und seine Freigebigkeit einzuschränken. Wird Algerien den Sold der Milizen ewig weiterzahlen können? Das ist mehr als fraglich. Werden die Milizen es akzeptieren, wenn sie entwaffnet und, zum größten Teil, der Arbeitslosigkeit preisgegeben werden? Wie kann man sicherstellen, daß die Waffen, die die Milizen bekommen haben, um die Islamisten zu bekämpfen, an Armee und Polizei zurückgegeben werden? Das ist nicht nur Theorie: Vor einigen Wochen konnten die überraschten und beunruhigten Algerier auf dem Fernsehschirm verfolgen, wie einer jener Milizenchefs schwor, er würde seine Kalaschnikow, deren Lauf er demonstrativ streichelte, niemals an die Armee zurückgeben. Jene Militärs, die damals dagegen waren, ziehen jetzt ihre Kollegen, die die Aufstellung einer Miliz befürwortet und initiiert haben, zur Rechenschaft. Eine Debatte im Verborgenen, die möglicherweise ihren Ausdruck findet in den sehr gezielten « Enthüllungen » der Verbrechen der Miliz.