Wem nützt der Krieg
Luis Martinez (1), Politique Internationale, n° 79, 1998.
Übersetzung aus dem Französischen: algeria-watch
Zur Jahreswende 1993-1994 gaben die meisten Experten nicht viel auf das Überleben des algerischen Regimes. Drei Gefahren erschütterten es bis in seine Grundfesten: die zunehmende Stärke der islamistischen bewaffneten Gruppen; die Verschlechterung der finanziellen Lage aufgrund der kolossalen Schuldenlast; und die Entstehung einer politischen Alternative – in Rom unter der Schirmherrschaft der Gemeinde von Sant’Egidio – mit der Unterzeichnung, , einer Plattform, die die wichtigen politischen Parteien (FIS, FLN und FFS) vereinigt. Doch entgegen aller Erwartung hat sich das Regime gut gehalten. Die islamistische Guerilla, 1994 an den Toren zur Macht, ist heute stark geschwächt; und zwar in dem Maße, daß die AIS (Armée islamique du salut) – der bewaffnete Arm der FIS – zu einem einseitigen Waffenstillstand aufgerufen hat, der seit dem 1. Oktober 1997 Kraft ist. Auf der finanziellen Ebene erfreut sich die Regierung der Belobigungen durch den IWF für die Wiederherstellung des makro-ökonomischen Gleichgewichts. Und die Parteien der Plattform von Rom sitzen seit den Parlamentswahlen vom 5. Juni 1997 in der Nationalversammlung.
Doch diese Anfänge einer Normalisierung vollziehen sich vor dem Hintergrund von Massakern. Seit mehreren Monaten lassen die bewaffneten Banden im Namen der GIA die Herrschaft des Terrors walten und reißen damit Algerien in eine Spirale der Grausamkeiten. In einem Land, das einer wachsenden Verarmung ausgesetzt ist, ist die Gewalt zu einem Mittel der Akkumulation von Reichtum und Prestige geworden, gar ein Instrument der sexuellen Entspannung, wie die Banalisierung der Vergewaltigung durch die Kriegsherren zeigt. Deshalb setzt die Rückkehr zum zivilen Frieden notwendigerweise die Rekonversion der Kriegswirtschaft der « Emire » und die Aufnahme der islamistischen Kämpfer in das politische Spiel voraus.
Die Konsolidierung des Regimes
Der Sieg der FIS bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 und den Parlamentswahlen im Dezember 1991 ließ bei den hohen Dienstgraden die Befürchtung aufkeimen, die Sühneopfer eines auf die Tugend gegründeten islamischen Staates zu werden. Angesichts dieser Drohung griff die Armee zur Strategie des « totalen Krieges », auf die Gefahr hin, den « hohen Preis » eines Zusammenstoßes mit den Islamisten zu bezahlen. Im Januar 1992 unmittelbar nach dem Abbruch des Wahlprozesses war der Erfolg dieses Manövers keineswegs garantiert. Es stand gleichermaßen eine allgemeine Erhebung der drei Millionen Wähler, die für die FIS gestimmt hatten, als auch eine Implosion der Repressionsapparate zu befürchten. Die Armee, die zur Hälfte aus Wehrpflichtigen besteht, war durchaus nicht gegen die Gefahr massenhafter Desertionen gefeit. Als diese beiden Gefahren einmal ausgeräumt waren, stürzte sie sich in einen gnadenlosen Kampf gegen die aufständischen islamistischen Maquisards und die bewaffneten Banden, die die Umgebung von Algier mit Stützpunkten überzogen.
Sehr schnell erwiesen sich die traditionellen Methoden als ungeeignet für den Kampf gegen eine breit gefächerte Stadtguerilla. Nur die Gendarmerie (25 000 Mann) und die DGSN (Direction générale de la sûreté nationale; 20 000 Mann) sorgten für die Aufrechterhaltung der Ordnung. Angesichts des Ausmaßes des Protestes, der trotz der Inhaftierung von 17 000 aktiven FIS-Mitgliedern in den Lagern im Süden immer weiter wuchs, waren deren Kapazitäten schnell erschöpt, und die Armee übernahm schließlich die Aufgabe der Repression. Im April 1993 tauchten in der Umgebung von Algier 15 000 Mann des auf Anti-Guerilla-Krieg spezialisierten Armeekorps auf. Dieses Armeekorps, das sich aus Eliteeinheiten der Armee der Gendarmerie und der Polizei zusammensetzt, wird unter das Kommando von General Lamari gestellt und zur Speerspitze des Regimes im Krieg. Seine Stärke wird 1995 auf 60 000 Mann beziffert. Es wird von einer nationalen Sicherheitskoordination (Coordination de la sécurité du territoire), gegründet im März 1995, geführt. Bis Ende 1994 ist seine Aufgabe vor allem die Kontrolle der Städte und insbesondere der Gemeinden von Groß-Algier. Die Hochburgen der FIS werden eingekreist und teilweise zu echten Schlachtfeldern, wo Militär und islamistische bewaffnete Gruppen aufeinanderstoßen.
Nach drei Jahren der Repression kehrt sich das Kräfteverhältnis, das sich bis dahin zugunsten der islamistischen Guerilla neigte, zugunsten der Militärs um, die die Kontrolle über bestimmte große Städte – insbesondere Blida – zurückgewinnen, die die islamistischen Maquisards 1993 zu « befreiten Zonen » erklärt hatten. Um die Rückeroberung zu festigen, stellt das Regime eine Kommunalgarde mit ungefähr 50 000 Mann auf. Diese Kommunalgarde, die in die Fußstapfen des Armeekorps von General Lamari treten soll, arbeitet Hand in Hand mit der Groupe d’intervention et de surveillance (den « Ninjas »). Der relative Sieg der algerischen Militärs verdankt sich zu einem großen Teil der internationalen finanziellen Unterstützung, die ihnen zuteil wurde, wie auch der Umschuldung, die große Investitionen in die Modernisierung der Sicherheitskräfte (Ausstattung der Geheimdienste mit Computern, Kauf von Helikoptern des Typs Écureuil, etc.) ermöglichte. Das Regime, das sich seither regelmäßiger finanzieller Einkünfte sicher weiß, unternimmt sodann eine Privatisierung der Repression: es übergibt den Gruppen von Milizionären, 1997 auf 150 000 Mann geschätzt, die Aufgabe, die islamistischen Maquisards zu bekämpfen.
Aber diese Umkehrung der Lage erklärt sich auch aus der Vervielfachung der islamistischen Akteure. Während der Wahlprozeß die verschiedenen islamistischen Strömungen dazu angehalten hat, sich um die FIS herum zu gruppieren, befördert der Krieg umgekehrt ihre Zersplitterung. Die Unfähigkeit der Islamisten, die Macht zu ergreifen, hat in den Reihen der Guerilla tiefe Gräben aufgerissen. Die AIS – die nichts anderes als eine politische Guerilla ist – vertritt eine « militärisch korrekte » Gewalt (keine Morde von Zivilisten, keine Entführungen von Frauen, kein Töten von Kindern, etc.). Sie greift nur die Sicherheitskräfte an und verurteilt die Strategie der GIA. Im Gegensatz zur AIS behauptet letztere, einen islamischen Staat errichten zu wollen, indem sie nicht die Sicherheitskräfte, sondern die Bevölkerung angreift, die sich ihrer Auffassung nach im Zustand der « Jahiliya », d.h. des Unglaubens befindet. Nach den Ideologen der GIA ist nur die Gewalt dazu angetan, diese verirrten Schäfchen auf den Weg des Jihad, der Vorstufe des islamischen Staates zu führen. Neben diesen Gruppen gibt es noch eine soziale Guerilla, die zu ihrer Bereicherung Erpressung, Vergewaltigung und Mord verübt. Sie wird von bewaffneten Banden geführt, die sich mit echten mafiösen Gangs verbinden.
Die Spaltungen, die in der islamistischen Bewegung zutage treten, kommen dem Regime offensichtlich zupaß. 1991 politisch geschlagen haben sich die Militärs der Gewalt verschrieben, um eine politische Landschaft neu zusammenzusetzen, in der seither jedes Wagnis eines Wechsels ausgeschlossen scheint. Seit der Wahl von Liamine Zeroual zum Präsidenten im November 1995 betrieb das Regime die Reintegration der Parteien der Plattform von Rom (FIS, FLN und FFS) in den Wahlprozeß. Alle, freilich mit Ausnahme der FIS, haben an den Parlamentswahlen im Juni 1997 teilgenommen.
Doch jenseits des offiziellen Diskurses ist augenfällig, daß die islamistische Guerilla wahrlich keinen « Rest-Terrorismus » darstellt. Nachdem sie 1993 mit der Illusion eines Blitzsieges geliebäugelt hatte, hat sie sich nach und nach in der Perspektive eines Abnutzungskrieges eingerichtet und baut beharrlich ihre Netze zur Finanzierung und Versorgung mit Waffen aus. Ihr Eingliederung in die Handelswirtschaft über die Gründung von Import-Export-Firmen verschafft ihr ausreichende Einkünfte, um die Kriegsanstrengungen aufrechterhalten zu können. Trotz der Siege, die das Regime auf der militärischen und politischen Ebene einstreichen konnte, wird es ihm um so schwerer fallen, die Stellungen der Guerilla auszuheben, als diese inzwischen zu einem vollwertigen Akteur in der nationalen Ökonomie geworden ist.
Die Islamisten in der Ökonomie des Krieges
Die Aktionen der bewaffneten islamistischen Gruppen beschränken sich nicht auf den Kampf gegen die Sicherheitskräfte. Hinter den spektakulären Operationen gegen Militärpatrouillen, Polizeispitzel oder unfolgsame Dorfbewohner läuft im Schatten der Medien ein anderer Krieg, der gegen den Produktionsapparat gerichtet ist. Im Denken der GIA erscheint die Zerstörung der Ressourcen des Regimes – eines « gottlosen Regimes in den Händen Ungläubiger » – nicht als tadelnswert. Im Gegenteil: die wirtschaftlichen Schäden, die diese Gewalt verursacht, werden als rechtmäßig betrachtet, denn für jedes öffentliche Unternehmen oder Fahrzeug, das in Rauch aufgeht, werden einige « Juden, Christen oder Renegaten » aus Algerien verjagt. Der Jihad der bewaffneten Gruppen zielt nicht nur auf die Ausschaltung der « Ungläubigen » und « Kommunisten », sondern auch auf die Zerstörung ihrer Güter.
Paradox: die islamistischen bewaffneten Gruppen wählen niemals die für den Staat lebenswichtigen Einrichtungen als Angriffsziel. Der Sektor der Kohlenwasserstoffe, der 95 % der Exporte ausmacht und Algerien circa 12 Milliarden Dollar jährlich einbringt, wird merkwürdigerweise ausgespart. Es stimmt schon, daß die Region der Sahara, die 1995 zum Teil zur « Verbotszone » erklärt wurde, ein für Guerillaaktionen wenig geeignetes Terrain bietet und daß die sehr starke Präsenz der Armee Sabotageaktionen nicht erleichtert. Wie dem auch sei: die Strategie der GIA hat schon mehr als nur einen islamistischen Sympathisanten irritiert. Sie können einfach nicht begreifen, daß die Guerrilla, statt die in höchstem Maße strategischen und verletzlichen Öl- oder Gasleitungen anzugreifen, es vorzieht, ihre Angriffe auf öffentliche Unternehmen zu richten, die verschuldet oder gar bankrott sind und deren Schließung – welch Zufall – der IWF verlangt.
Die Taktik der islamistischen bewaffneten Gruppen geht einher mit einem Phänomen der Privatisierung der exponiertesten Sektoren. So hat die systematische Zerstörung von öffentlichen Fahrzeugen eine rasante Vermehrung von privaten Transportfirmen nach sich gezogen, die gegenwärtig 60 % des Marktes von Groß-Algier ausmachen. Seit einem Dekret von Februar 1987 war es möglich, sich selbständig zu machen, doch erst mit dem Bürgerkrieg setzte eine wahrhaft wilde Privatisierung ein, die die ETUSA (Entreprise publique des transports urbains er suburbains d’Alger; öffentliches Transportunternehmen in Algier) stark beschnitt, mit einem Fahrzeugpark von 250 Bussen von insgesamt 2000. Laut einer Untersuchung des Transportministeriums, finanziert von der Weltbank, besitzen die privaten Transportunternehmen einen Marktanteil von 100 % in Annaba und Setif, 98 % in Constantine, 86 % in Blida und 74 % in Oran.
Die Gewalt der « Emire » hat auch die Modernisierung des Bausektors begünstigt. Die Sabotierung der staatlichen Zimentfabriken führte zur Entstehung neuer privater Unternehmen. Diese Produktionseinheiten, die in den Gemeinden in der Nähe von Groß-Algier (Dellys Ibrahim…) errichtet wurden, sind ausgestattet mit Maschinen aus französischer Produktion, die über die von Algeriern geleiteten Import-Export-Firmen als Zwischenhändler importiert wurden. Dank dieses leistungsfähigen Materials liefern sie der Regierung die nötigen Produkte für die Durchführung ihres ambitiösen Bauprogrammes. Von 1994 bis 1995 sind 180 000 Wohnungen aus dem Boden gestampft worden – ein echter Rekord. Dieser plötzliche Baurausch hat nicht wenige Fragen aufgeworfen. Mahfoud Nahnah, der Vorsitzende der MSP (Mouvement de la société pour la paix), wollte wissen, woher die von diesen Projekten verschlungenen « vier Milliarden Dollar » (2) kamen. In der Tat stützt sich die Wohnungsbaupolitik auf die Unterstützung der Privatunternehmer, insbesondere in den Städten im Osten, von denen man behauptet, sie seien dem Regime wohlgesinnt.
Insgesamt jedenfalls trägt die Sabotagepolitik der islamistischen Kommandos zur Bereicherung dieser neuen ökonomischen Akteure bei. Und was das Regime betrifft, so findet es dabei auch seinen Vorteil: die den öffentlichen, oftmals verschuldeten und unproduktiven Unternehmen zugefügten Schäden entheben es davon, zu einem kostenaufwendigen ökonomischen Instrument greifen zu müssen. Noch besser: sie erleichtert unwillkürlich die Umsetzung des vom IWF auferlegten strukturellen Anpassungsprogrammes. Die Regierung muß nicht auf Massenentlassungen zurückgreifen, mit den daraus resultierenden Risiken von sozialen Konflikten, da doch die bewaffneten Banden die Arbeit an ihrer Stelle verrichten! So gerieten von 1992 bis 1995 45 000 Arbeiter in der Arbeitslosigkeit, infolge der Zerstörung ihrer Fabriken.
Umgekehrt befördert die Situation des Bürgerkrieges neue Formen der Bereicherung zugunsten der « Emire ». Mit dem bloßen Kapital ihres Glaubens in den Kampf, den sie führen, gelingt es ihnen, zumindest den Durchtriebensten unter ihnen, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. Der Jihad der bewaffneten Gruppen ist eine lukrative Unternehmung und mehr noch als Haß oder Rachegelüst erklärt die Gewinnsucht die ständige Erneuerung der Kämpfer trotz der laufenden Verluste. Die Guerilla bietet den jungen Leuten, die von einem allgemeinen Gefühl der « Verwahrlosung » geplagt werden, eine Hoffnung auf ein besseres Leben. Eine Untersuchung des Ministeriums für Jugend und Sport zeigte 1995, daß unter den 18- bis 24-Jährigen ein « harter Kern » von 1 120 000 Jugendlichen « ohne Lösung » hinsichtlich der sozialen Eingliederung blieb.
Die aus dem Schwarzhandel gezogenen Profite werden teilweise in die Ökonomie des Handels reinvestiert, die 1994 auf die Empfehlungen des IWF hin eingerichtet worden war. Die Liberalisierung des Handels hat – wie gesagt – die Gründung einer Vielzahl von Import-Export-Firmen erlaubt, in denen die « Emire » große Summen investieren. Seit 1994 entstanden 15 000 Handelsfirmen und alleine im ersten Dritteljahr 1996 wurden 13 000 Gesuche zur Aufnahme ins Handelsregister gestellt. (3) Dieser Rausch ist leicht zu erklären: es werden keinerlei Auskünfte über die Herkunft der investierten Gelder verlangt.
Die Unmöglichkeit der Eradication (Ausmerzung) der islamistischen bewaffneten Gruppen
Unter diesen Umständen ist allerdings Skepsis angebracht hinsichtlich des Willens der einen wie der anderen, sich für die Wiederherstellung des Friedens einzusetzen. Warum sollten sie einer Situation ein Ende setzen, aus der alle ihren Vorteil ziehen? Während das Regime 1993 dem Bankrott nur knapp entging, verfügt es seit der Umschuldung 1994 und der Liberalisierung des Öl- und Gassektors über eine Devisenrücklage, die 1997 auf fünf Milliarden Dollar geschätzt wurde. Die Sonatrach hat 34 Prospektionsabkommen als Joint-Venture mit mehr als zwanzig internationalen Ölkonzernen abgeschlossen. Algerien, das mit acht neuen Erdölvorkommen an der Spitze der « entdeckenden » Länder firmiert, zieht immer weiter ausländisches Kapital an. Und das trotz eines Bürgerkrieges mit 80 000 Opfern…
Der Extremismus der GIA – « kein Dialog, keine Versöhnung, kein Waffenstillstand » – läßt im Grunde genommen Wasser auf die Mühlen der Befürworter des totalen Krieges fließen. Mit ihrer Unnachgiebigkeit schlüpft diese islamistische Fraktion in die Rolle des « nützlichen » Feindes. Ist der Bürgerkrieg derart zu einem politischen Instrument der Neuverteilung der Reichtümer geworden? Das ist nicht gewiß, aus dem einfachen Grunde, daß der Krieg auch denen zu entgleiten droht, die ihn losgetreten haben: die zunehmende Verselbständigung der bestehenden Kräfte, der Milizen wie der bewaffneten Gruppen, in Beziehung auf ihre jeweiligen Paten, die Militärs und die FIS, läßt eine Verschlimmerung der Lage befürchten. Die Massaker an Zivilisten, die seit einem Jahr die Mitidja in Blut tauchen, illustrieren diesen Prozeß der Privatisierung der Gewalt. Als eine unkontrollierbare Zone aufgrund der sehr starken Präsenz der Islamisten betrachtet, wurde diese Region von den Militärs ganz bewußt « aufgegeben ».
Die Dörfer der Mitidja werden nicht mehr von den Sicherheitskräften geschützt, sondern, wie wir gesehen haben, von Milizen aus Zivilisten, die die Regierung besoldet – ein « Verrat », dessen Bestrafung die islamistischen bewaffneten Gruppen sehr hoch angesetzt haben. So ist ein Teufelskreis entstanden: auf die Gewalt der « Emire » gegen die Zivilisten antwortet seither die Gewalt der Milizionäre gegen die Familien der islamistischen bewaffneten Gruppen, die auch in der Mitidja leben. In ein Räderwerk der Blutrache hineingerissen, emigrieren die Dorfbewohner nach Groß-Algier in der Hoffnung, dort einen gewissen Frieden zu finden.
Es hat sich herausgestellt, daß die Dynamik des Krieges ihre eigenen Akteure gebiert und daß in einem Teil der Jugend die Ausübung der Gewalt zu einem Lebensstil geworden ist, ja ein Mittel zum Überleben. Die letzten Jahre waren von einer erstaunlichen Explosion der Waffenberufe gekennzeichnet – der Sektor, der gegenwärtig die meisten « Arbeitsplätze bereitstellt ». Am Rande der Sicherheitskräfte (Armee, Kommunalgarden, Milizen, Geheimdienste, etc.) und der Guerillaorganisationen (AIS, GIA, FIDA, MEI, LIDJ) hat sich ein bewaffneter Banditismus herausgebildet, der die Schwächung des Staates auszunutzen verstand. Nach fünf Jahren des Konfliktes ist die algerische Gesellschaft von einer tiefgreifenden Militarisierung geprägt. Und das heißt auch, daß die Bedingungen für eine Rückkehr zum zivilen Frieden weit über eine erfolgreiche politische Verhandlung hinausgehen. Liamine Zeroual hat das verstanden und versucht seit seiner Wahl im November 1995, die Guerilla ihrer Legitimität zu berauben, indem er den politischen Ausdruck des Islamismus begünstigt.
Die Wiedereingliederung der Islamisten: die Karte Nahnah
Zu der Zeit, als die Spekulation über einen Sieg der bewaffneten Islamisten sich verbreitet, gründet Cheikh Nahnah zusammen mit fünf weiteren religiösen Persönlichkeiten im Januar 1994 Hamas (Rassemblement islamique républicain). Seine Absicht ist, den Vermittler zwischen dem Regime und der aufgelösten FIS zu spielen und einen politischen Raum zu schaffen, in dem die Konfliktparteien verhandeln können. Er bietet « den bewaffneten Islamisten, die die Waffen niedergelegt haben, den Mitgliedern der FIS und allen aufrichtigen Patrioten » die Hand an. Diese Rolle des interessierten Vermittlers wird Hamas bis zu den Präsidentschaftswahlen am 16. November 1995 unaufhörlich herausstreichen. Damit distanziert sie sich offen von den Parteien der Plattform von Rom (FFS, FIS, FLN), denen in den Augen des Regimes das Manko anhaftet, « die Krise internationalisieren » zu wollen. Hamas, die vom Verschwinden der FIS – unmittelbar nach dem Abbruch des Wahlprozesses aufgelöst – profitiert, wird dank des Zurücktretens der FLN, die sich seither als « konstruktive Opposition » betätigt, zu einem wichtigen Gesprächspartner für das Regime.
Die Ernennung von Liamine Zeroual zum Vorsitzenden des HCS (Haut comité de sécurité) 1994 kündigt den Beginn einer Neuzusammensetzung der politischen Landschaft an. Das Regime, das bis dahin die Unterstützung von nicht-repräsentativen Parteien und Persönlichkeiten der « Eradicateur »-Linie (el Tahadi, RCD, Redha Malek, etc.) (4) genoß und vom Abtrünnigwerden der FLN getroffen wurde, versucht seine Basis zu verbreitern und neue Allianzen zu schließen. In diesem Kontext der Öffnung erscheint Hamas als ein glaubwürdiger Partner. Die Armee sieht in ihr einen Ersatz für die FIS und zugleich ein ausgezeichnetes Instrument, um Druck auf die FLN auszuüben, damit diese in ihren Schoß zurückkehrt. Eine Gelegenheit, die Mahfoud Nahnah, ein gewiefter Taktiker, nicht verstreichen lassen wird.
Als einziger islamistischer Kandidat im Wettbewerb bei den Präsidentschaftswahlen im November 1995 macht er sein Spiel: mit 25 % der Stimmen im Vergleich zu 2,7 % 1991 (auch wenn er annimmt, daß in Wirklichkeit mehr als 40 % der Stimmen auf ihn entfielen) wird er zur zweiten politischen Kraft des Landes. Die Parlamentswahlen am 5. Juni 1997 geben ihm die Gelegenheit, seinen Durchbruch zu bestätigen. Während den offiziellen Resultaten zufolge die RND – die Partei des Präsidenten – 156 Sitze auf sich vereint, attestieren die offiziösen Zahlen der Partei von Mahfoud Nahnah 159 Abgeordnete statt der bekanntgegebenen 69. Obwohl ein sehr hoher Prozentsatz von der Wahl ferngeblieben ist, wird es der MSP (Nachfolgepartei von Hamas) gelingen, einen Teil des Wählerpotentials der FIS zu mobilisieren. Mahfoud Nahnah, den Abassi Madani als « Usurpator » bezeichnete, nimmt gleichwohl eine Schlüsselstellung auf dem algerischen politischen Schachbrett ein.
Doch dieser Erfolg könnte von kurzer Dauer sein. Denn die Situation hat sich beträchtlich verändert. Innerhalb von zwei Jahren hat die Armee die Vorherrschaft auf dem Schlachtfeld zurückgewonnen. Die geschwächte FIS ist nicht mehr unbedingt notwendig. Auf der internationale Ebene ist es den Herrschenden in Algier gelungen, ihre Legitimität zu etablieren und die bedingungslose Unterstützung ihrer ausländischen Partner zu erhalten. Diese großen Veränderungen tragen dazu bei, den Handlungsspielraum von Hamas gegenüber der Regierung zu schmälern. Sie fährt dennoch fort, ihr Projekt eines « republikanischen Islamismus » zu propagieren und ihr Netz in den ökonomischen Sphären auszuspannen.
Mahfoud Nahnah, der wegen seiner Vorliebe für Anzüge aus Alpaga den Spitznamen « Cheikh El Paga » erhielt, hat seinen Einfluß in den Geschäftsmilieus hartnäckig ausgebaut. Über 300 000 Spender – größtenteils Kleinhändler – füllen die Kassen seiner Bewegung. Ihr Kalkül ist simpel: statt dem Gesetz der bewaffneten Gruppen zu unterliegen, die ihnen große Summen als Kriegssteuer abverlangen, scheint es ihnen günstiger, die Rückkehr islamistischer Parteien auf die politische Bühne zu fördern.
Welchen Ausweg aus dem Bürgerkrieg?
Zu diesem Zeitpunkt sind zwei Szenarios vorstellbar. Das erste ist die Fortsetzung des totalen Krieges gegen die islamistischen bewaffneten Gruppen bis zu ihrer « Eradication ». Seit dem von der AIS deklarierten einseitigen Waffenstillstand haben die Militärs, die sich im Armeekorps von Mohammed Lamari versammeln, jeden Gedanken an Verhandlungen aufgegeben. Ihrer Meinung nach kann nur die Politik eines energischen Anti-Guerilla-Kampfes die islamistischen bewaffneten Gruppen zur Aufgabe zwingen. Jede andere Strategie würde als ein Eingeständnis der Schwäche betrachtet. Dieses Räsonnement ist triftig, bis auf ein Detail: die islamistische Guerilla ist eine ständig wiedererstehende Hydra. Jedesmal wenn ein islamistischer Kämpfer unter den Angriffen der Armee fällt, wird er unverzüglich durch einen der zahllosen mittellosen Jugendlichen ersetzt, für die der Krieg die einzige Chance darstellt.
Zweite Hypothese, die die Gunst des Präsidenten und der Geheimdienste von General Smaïn Lamari genießt: allmähliche Absorption der islamistischen Kämpfer in die Strukturen des Staates (Kommunalgarden, Selbstverteidigungsgruppen, etc.). Liamine Zeroual ist der Auffassung, daß es den islamistischen Kämpfern, die dies wollen, ermöglicht werden muß, die Waffen niederzulegen und ins zivile Leben zurückzukehren. Der Erfolg der Verhandlungen mit der AIS zeigt, daß dies unter der Bedingung, daß reelle Perspektiven zur Umkehr angeboten werden, möglich ist. Die Kämpfer, die einmal den Jihad aufgegeben haben, müssen die Wählerschaft der FIS davon überzeugen, daß sie das Ideal des islamischen Staates nicht verraten haben, sondern daß ein solches Projekt nicht notwendigerweise mit Gewalt durchgesetzt werden muß. Daß es also angebracht ist, sich ins System zu integrieren, um den Kampf in der politischen Arena an der Seite der islamistischen Parteien zu führen, die bereits in der Nationalversammlung vertreten sind, wie die Hamas-MSP und die Nahda. Indem der Wählerschaft der FIS ein legaler Rahmen, in dem sie sich wiedererkennen kann, gar eine neue Partei, angeboten würde, würde die Regierung die GIA ihrer wichtigsten Trümpfe berauben. Denn die Unterstützung für die GIA ist eine Unterstützung mangels Alternative, die sich vor allem aus der sozialen und politischen Ablehnung des Regimes durch einen Teil der Algerier erklärt und nicht so sehr durch den Terror, den die Guerilla verübt. Aus all diesen Gründen ist es an der Zeit, diesen Kämpfern der Verzweiflung eine andere Zukunft anzubieten als die der Märtyrer einer verlorenen Sache. Gewiß verschwände die Gewalt nicht schlagartig: solange die Militärs von Algier an ihrer Politik der « Eradication » festhalten, solange die GIA ihre extremistische Linie weiter verfolgt, wird Massaker auf Massaker folgen.
Algerien befindet sich an einer Wegscheide. Das Regime, von den drei Gefahren, die sein Überleben bedrohten, befreit, verfügt heute über politische und ökonomische Mittel, um die Sackgasse zu verlassen. Nichts hindert es daran, eine Übergangsregierung einzusetzen, die sich aus den großen politischen Kräften zusammensetzt auf der Basis eines Programmes, das auf die Wiederherstellung des zivilen Friedens abzielt. Jedenfalls wäre der Sieg der Militärs erst an dem Tag abgeschlossen, an dem die Krise, die aus dem Abbruch des Wahlprozesses 1992 hervorgegangen ist, eine politische Lösung gefunden hätte. Was die Europäische Union betrifft, so muß sie damit Schluß machen, die « Eradication » der bewaffneten Gruppen als eine realistische Option zu betrachten, und die Öffnung des politischen Raumes für alle Tendenzen der algerischen Gesellschaft, einschließlich der Islamisten der FIS, fördern. Wenn dies nicht geschieht, wird sich die Niederlage der islamistischen Partei in den Maquis fortsetzen in der Auslöschung ihrer Wählerschaft und Algerien in einen neuen Trauerzug der Leiden reißen, dessen Ende nicht abzusehen wäre.
(1) Luis Martinez ist Wissenschaftler am Centre d’étude et de recherches internationales und Autor des Buches: La Guerre civile en Algérie (1990-1998), Karthala, 1998.
(2) El Massa, 28.12.1995.
(3) El Watan, 9.7.1996.
(4) Bei den Parlamentswahlen 1991 repräsentierte diese Tendenz weniger als 2 % der Stimmen. El Tahadi ist der neue Name der PAGS (Parti de l’avant-garde socialiste). Sie versammelt die Ex-Kader der algerischen Kommunistischen Partei. Die RCD (Rassemblement pour la culture et la démocratie) wird von Saïd Sadi angeführt. Redha Malek, der der Unterhändler der FLN beim Abkommen von Evian war, war von August bis Dezember 1994 Premierminister.