Die Übergriffe der Milizen
FIDH (Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme), Auszug aus dem Bericht La levée du voile: l’Algérie de l’extrajudiciaire et de la manipulation, 1997
Übersetzung aus dem Französischen: algeria-watch
Vor den Milizen im engeren Sinne müssen wir zuerst auf das Korps der Kommunalgarden zu sprechen kommen, die als kommunale Polizisten präsentiert und insbesondere durch die Regierungserlasse vom 22. September 1993 und 3. August 1996 geregelt werden. Der Kommunalgarde wurde in der Tat die Aufgabe übertragen, an Operationen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, zum Schutz von Personen und Gütern und zur Sicherung öffentlicher Einrichtungen teilzunehmen.
Zudem wurden in den Dörfern auch Selbstverteidigungsgruppen auf spontane oder provozierte Weise geschaffen. Die Machthaber haben entschieden, sie zu legalisieren, indem sie ein Gesetz bezüglich der GLD (groupes de légitime défense; Gruppen der legitimen Verteidigung) vom CNT (Conseil national transitoire; Nationaler Übergangsrat) am 4. Januar 1997 annehmen ließen. Das erklärte Ziel dieses Textes ist insbesondere die bessere Einbindung der Mitglieder dieser Gruppen, die « Freiwillige » sind, um sie unter die Kontrolle von professionellen Sicherheitskräften zu stellen.
Aber einerseits – während die algerischen Machthaber selbst zugeben, daß sie Probleme mit der Ausbildung hochrangiger Polizisten haben – erscheint es besonders gefährlich, Selbstverteidigungsgruppen zu institutionalisieren, deren Mitglieder, wenn sie nicht offiziell entlohnt werden, im übrigen nicht davor zurückschrecken, sich von der Bevölkerung ihren Sold zu holen.
Andererseits ist es merkwürdig, den Generalsekretär des Innenministeriums auf eine Frage zu diesem Punkt antworten zu hören, daß er nicht einmal dazu in der Lage ist, auch nur die ungefähre Zahl der zu den GLD gehörenden Milizen anzugeben, wo doch jede Gründung einer GLD inzwischen dem Wali (Präfekt) zur Bewilligung nach Stellungnahme der Sicherheitskräfte vorgelegt wird. Entweder handelt es sich hierbei um eine Lüge, oder, was noch besorgniserregender wäre, das bedeutet, daß die Regierung entgegen ihren Behauptungen die GLD nicht wirklich kontrolliert.
Es bleibt jedenfalls festzuhalten, daß es, wenn die islamistischen bewaffneten Gruppen (GIA, AIS) schreckliche Massaker verüben, genauso sicher ist, daß die Kommunalgarden, Milizen und anderen « Patrioten » ihrerseits ebenso verurteilenswerte Verbrechen begehen, und daß die Ausrottungsfeldzüge, die der offizielle Diskurs systematisch den Islamisten anlastet, in Wirklichkeit ihnen zuzuschreiben sind.
Zum Beispiel bestätigen mehrere Zeugen die Verhaftung von Kommunalgarden im März 1997, denen vorgeworfen wird, in der Region von Wadi al-Alaïq in der Nähe von Boufarik 17 Frauen und einem Kind die Kehlen durchgeschnitten zu haben. Der Regierung nahestehende Quellen haben diese Tatsache bestätigt, wenn auch mit der Absicht, deren Ausmaß zu schmälern und zu beweisen, daß « solche Entgleisungen » bestraft werden. Mitglieder von Assoziationen haben darauf hingewiesen, daß sich Kommunalgarden und « Patrioten » wegen Machtmißbrauchs in zwei Gefängnissen in Algier befinden. Das ONDH hat das Dossier über fünf Leichen in einer Angelegenheit vorgelegt, in die Mitglieder der Kommunalgarde von Bougara verwickelt sind.
Ein Gründer einer Selbstverteidigungsgruppe faßt die Denkweise prägnant zusammen, die ihn zur Gründung seiner Gruppe getrieben hat: Ihqaq al haq wal intiqam li-aziz (« Gerechtigkeit walten lassen und jemanden, der einem teuer war, rächen »). Die Sprache der Gewalt ist zudem dem Diskurs gewisser Minister eingeschrieben. Der Justizminister M. Mohamed Adami hat APS erklärt: « Die Anwendung des Rahma-Gesetzes (1) hat vielen Reumütigen erlaubt, gegenüber ihrem Volk Sühne zu leisten, denn viele von ihnen haben zu den Waffen gegriffen und gegen ihre alten Kameraden gekämpft, wie sie auch mit den Kenntnissen und Informationen, über die sie verfügten, die Operationen der Geheimdienste effektiv unterstützten. » (El Moudjahid, 28. April 1997)
Ohne die Frage der Reumütigen eingehend untersucht zu haben, kann die Delegation der FIDH nur ihre Besorgnis über die Bestimmungen dieses Gesetzes und ihre Anwendung im Rahmen der allgemeinen Manipulation, die in Algerien herrscht, zum Ausdruck bringen.
Als Schlußfolgerung ergibt sich: die zahlreichen von der Delegation untersuchten Informationen erlauben die Bestätigung des Ausmaßes und des systematischen Charakters der Menschenrechtsverletzungen, die im extralegalen Rahmen begangen werden.
(1) Gesetz über die « Reumütigen », das vor allem erhebliche Strafverkürzungen für Terroristen, die sich freiwillig stellen, vorsieht.