Debatte François Burgat – Luis Martinez

Debatte François Burgat – Luis Martinez

Croissance, Mai 1997 (Das Interview führten Lyes Si Zoubir, Christian Troubé und Sandrine Tolotti)

Übersetzung aus dem Französischen: algeria-watch

Vor den Parlamentswahlen am 5. Juli 1997 in Algerien diskutierten die beiden Algerienexperten François Burgat und Luis Martinez ihre Überlegungen zur Entwicklung der politischen Situation in Algerien und des Kräfteverhältnisses zwischen Regime und Opposition.

Sind die Parlamentswahlen, die in Algerien stattfinden werden, der Ausdruck einer grundlegenden Veränderung der politischen Situation?

François Burgat: Also was mich betrifft, ich weigere mich, meine Analyse der politischen Dynamik in Algerien in die Betrachtungsweise einzufügen, die uns von den algerischen Machthabern aufgenötigt wird, und die besagt, daß sogenannte pluralistische Parlamentswahlen vorgenommen werden, die zur Wiederherstellung des institutionellen Systems beitragen sollten. Ich akzeptiere also diese Logik nicht, und sie aufzugreifen, wenn auch nur in der Reflexion, heißt ihr Vorschub zu leisten. Für eine Wahl in Algerien, die ihres Namens wert wäre, müßte zuerst drei wesentliche Bedingungen erfüllt sein. An erster Stelle, daß die großen politischen Kräfte des Landes daran teilnehmen, einschließlich der FIS. Zweitens, daß das Spiel von Gewinn und Verlust derart ist, daß man eine regulierende Wirkung von der Mobilisierung der Wählerschaft erwarten kann und gegebenenfalls des Sieges oder der Niederlage. Nun wurden aber im Falle Algeriens die Institutionen mittels des letzten Referendums in einer Weise umgebildet, daß das Regime vor allen parlamentarischen Wechselfällen sicher ist. Nach dem Vorbild Marokkos wird das parlamentarische System, das aus den Wahlurnen hervorgeht, « dem Anschein nach » funktionieren, aber in keiner Weise die Struktur des Regimes verändern können. Letzteres könnt sogar eine klare Wahlniederlage überleben, weil seine Grundlagen nicht in Gefahr wären.

Drittens muß man deutlich sagen, daß der Pluralismus in einer stürmischen Umgebung nicht gedeiht, nun macht Algerien allerdings – auch wenn die Generäle an der Macht das nicht hören wollen – eine Zeit des absoluten Terrors durch, der nicht nur von den Aktionen der bewaffneten Gruppen ausgeht, sondern das Resultat einer bewußten Strategie des Regimes ist, das eine politische Auseinandersetzung, die es verloren wußte, auf die Ebene der Repression verlagert hat. Algerien eignet sich also nicht für die freie Äußerung von politischen Meinungen, die sich von der des Regimes unterscheiden. Ich würde daher sagen, daß man nicht gleichzeitig die Butter und das Geld für die Butter haben kann. Die Butter wäre die internationale Glaubwürdigkeit und die Fiktion einer institutionellen Regulierung und das Geld für die Butter läge in der Gewißheit, bei Wahlen nichts zu verlieren zu haben.

Luis Martinez: Für mich ist diese Wahl ganz und gar nicht irrelevant für die Zukunft des Regimes und man kann nicht sagen, daß sie bedeutungslos ist, auch wenn sie Situation der Gewalt nicht angemessen ist und ihre Rolle in der Debatte des Pluralismus nicht erfüllt. Sie kann in der Tat aus analytischer Sicht einen Hinweis auf das Niveau der Mobilisierung der Bevölkerung geben, wobei eine hohe Teilnahme letzterer einen mehr als symbolischen Sieg der Militärmachthaber bedeuten würde. Zum anderen zeigt diese Wahl, daß der Prozeß der Reintegration aller politischer Parteien voranschreitet, selbst wenn es den Anschein einer Unterwerfung macht. Wo sind heute die Parteien, die an den Treffen in Rom teilgenommen haben, um eine legale Opposition, die den Wahlprozeß von 1991 repräsentiert, aufzubauen? Außer der FIS, die weiterhin verboten ist, haben sich alle Parteien wieder auf der von den algerischen Machthabern errichteten politischen Bühne eingefunden. Eines der Ziele dieser Wahl ist daher, unmöglich zu machen, daß eine Koalition wie die von Rom wieder ein glaubwürdiger Wettbewerber werden kann. Und schließlich gehört die Wahl auch zu einem Prozeß, der darauf abzielt, die islamistische Guerilla von ihrer Basis abzuschneiden, indem man Hamas, die Partei von Mahfoud Nahnah, einen Teil der FIS-Wählerschaft auf sich ziehen läßt.

Das würde als bedeuten, daß Hamas inzwischen zu einer glaubwürdigen Alternative für die ehemaligen Wähler der FIS geworden ist?

F.B.: Es ist richtig, daß die Bewegung Hamas, trotz der extremen Ambiguität der Haltung ihrer Führer, gut und gerne einen Teil der islamistischen Wählerschaft mobilisieren kann. Es steht mir also nicht an, den Stein auf diejenigen zu werfen, die sich mit dieser Partei als das kleinere Übel identifizieren. Ihr Führer Mahfoud Nahnah kann daher zur Zeit in Algerien in einer Art Notbehelf existieren. Aber es gibt in der aktuellen Rhetorik dieser Bewegung eine strukturelle Konvergenz mit den Interessen des Regimes. Sie teilt mit dem Regime die feste Überzeugung, daß leere Urnen, nicht-präparierte Urnen, das heißt freie Wahlen, gefährlich sind. Hamas ist eine Bewegung, die mehr für die Glaubwürdigkeit des von den Generälen errichteten Systems getan hat, als jeder Botschafter des Regimes im vergangenen Jahr hätte tun können. Um uns ganz klar auszudrücken, müssen wir in Erinnerung rufen, daß Hamas 1991 keinen einzigen Sitz erhielt und daß sich Mahfoud Nahnah heute gefallen lassen muß, von vielen islamistischen Aktivisten als Agent der Machthaber bezeichnet zu werden. Sogar seine Position innerhalb des internationalen Apparates der Muslimbrüder ist dabei, sich zum Negativen zu kehren.

L.M.: Mir scheint, daß sich Algerien ein Szenario à la Türkei erlauben kann. Das heißt einen Premierminister aus den Reihen von Hamas, ohne daß dieser in irgendeiner Weise die Verfassung ändern oder die Interessen der Armee beeinträchtigen kann. Das würde auch bedeuten, daß es Hamas gelungen ist, die Stimmen der FIS-Wähler auf sich zu ziehen und die Wählerschaft der verbotenen Partei in gewisser Weise weiß zu waschen. Ich komme noch einmal auf die Parlamentswahlen zurück, indem ich damit zum Ausdruck bringe, daß sie einen Sinne haben, denn sie können die Rückgewinnung der lokalen Eliten ermöglichen. Es gibt heute Algerier, die lokale oder regionale Abgeordnete der FIS waren und im Schatten des Bürgerkrieges leben. Hamas ist unzweifelhaft die Partei, die sie weiß waschen und in das politische Spiel zurückführen kann.

Diese Wahl zeigt also gleichermaßen den Aufstieg von Hamas und die Unterwerfung der Opposition unter das algerische Regime?

F.B.: Ich bin gar nicht davon überzeugt, daß die politische Landschaft sich gerade neu zusammensetzt und daß alle großen politischen Kräfte unter das Kaudinische Joch einer Reinstitutionalisierung des Landes gekommen sind, die die FIS außen vor ließe. Zu sagen, daß « alle Parteien in das politische Spiel reintegriert » seien, heißt, der Tatsache wenig Gewicht zu verleihen, daß die FIS die beiden entscheidenden Wahlen Anfang der neunziger Jahre gewonnen hat. Man würde damit doch wohl sagen, daß die FIS verschwunden ist. Gewiß haben das Exil und die Repression aus dieser außerordentlich zusammengewürfelten Front ein zersprengtes Gebilde gemacht, aber ich denke, daß ihr Potential der Mobilisierung und Opposition sehr stark bleibt. Schließlich denke ich, muß man den Umständen Rechnung tragen, unter denen – nach Verzögerungen, zahlreichen Manipulationen und Pressionen – die Oppositionsparteien sich für eine Teilnahme an diesen Wahlen entschieden haben. Die FLN wurde von innen her zerbrochen und die FFS hat in letzter Minute seine Position gewechselt, um nicht von der Spielfläche zu verschwinden.

L.M.: Ich denke, daß dieser Prozeß der Reinstitutionalisierung in vollem Gange ist. Es darf nicht vergessen werden, daß es von 1992 bis 1997 mindesten 50 000 Tote, nach offizösen Zahlen 100 000 Tote, gegeben hat und daß man also nicht räsonnieren kann, als wenn es sich nur um politische Akteure, die sich auf einem gewaltfreien Feld bewegten, handelte. Das algerische islamistische Phänomen hat sich gewandelt in Anbetracht dessen, um was es wirklich bei der Gewalt geht. Es gibt Algerier, die 1991 für die FIS gewählt haben und die heute sagen: « Die einzige Möglichkeit für uns zu überleben besteht entweder darin, in den Maquis zu gehen oder in die Hamas einzutreten, die unseren einzigen Oppositionsweg gegen das Regime darstellt. » Meiner Meinung nach kann man nicht über Algerien räsonnieren, als gäbe es keinen Krieg, und die politische Analyse darf sich nicht nur an den Parteiführern orientieren, sondern auch den lokalen Akteuren. So gesehen ist das Gewicht von Hamas nicht von Mahfoud Nahnah abhängig, sondern von den lokalen Aktivisten, die morgen Abgeordnete oder Bürgermeister sein werden und die Interessen derer, die gestern die FIS gewählt haben, vertreten werden.

Wie wird also das Kräfteverhältnis zwischen Hamas und dem Regime sein?

L.M.: In Algerien zeichnet sich eine Abkühlung der Begeisterung für die FIS ab, die viele nicht mehr als eine politische Alternative betrachten, in Anbetracht der Militarisierung des Regimes. Und ich glaube, es ist diese Situation, von der Hamas meisterlich profitiert. Es ist klar, daß diese Partei vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges aufblüht und ihre Stärke darin liegt, ihr Schicksal mit dem der Militärs zu verknüpfen. Das ist eine Variante dessen, was die FLN zu ihrer Zeit, in den siebziger Jahren, gemacht hat, indem sie den Militärs zu verstehen gab: « Wir kümmern uns um das Lokale und Regionale, und ihr verwaltet die Ressourcen. » Nur gibt es heute in Algerien einen Bürgerkrieg und diese Strategie kann jeden Moment scheitern angesichts der Existenz von bewaffneten Akteuren, zu denen die islamistische Guerilla zählt.

F.B.: Wo kommt man mit dieser Analyse hin? Sie sind dabei, mir zu sagen, daß die Militärs von der Hamas akzeptieren könnten, was sie der FIS verweigerten. Ich bin aber fest davon überzeugt, daß die Hamas ihrer oppositionellen Kraft beraubt und daher ihrer Basis gegenüber diskreditiert wird. Wenn, wie Sie sagen, alles in einem Prozeß der Rekonstruktion unter einem anderen Vorzeichen ist, dann werden wir also in eine Phase der Konfrontation zurückkehren, außer die ganze Rhetorik der islamistischen Mobilisierung würde ihres oppositionellen Gehaltes entleert, der im algerischen Rahmen von wesentlicher Bedeutung ist. Meine Frage ist: Wird morgen Hamas das machen dürfen, wofür Boudiaf gestorben ist? Für mich ist die Antwort negativ. Die Größe der Kröten, die Mahfoud Nahnah wird schlucken müssen, wird Woche um Woche zunehmen.

Wie erklären sie die schrecklichen Massaker an den Dorfbewohnern, die seit dem Beginn des Jahres allem Anschein nach die Tendenz zur Vervielfachung haben?

F.B.: Diese Gewalt ist das Ergebnis einer Konfrontation von drei Akteuren. Zuerst die Armee, die die Repression privatisieren wollte und einen Prozeß der Schaffung von Milizen gefördert hat. Sodann die Milizen, die die physische Eliminierung von Dörfern betrieben haben, aus denen die bewaffneten Gruppen stammen sollen. Die Milizen tauchen so in bestimmten Dörfern auf und ermorden alle Familien der Männer, die in bewaffneten Gruppen sind. Offensichtlich machen die bewaffneten Gruppen dasselbe, denn sie sind unzweifelhaft in der Lage, in die Dörfer zu gehen, in denen Milizen gebildet wurden, und nicht nur die Milizionäre zu ermorden, sondern auch die Familien der Milizionäre. Es gibt noch eine weitere Erklärung, die immer mehr Glaubwürdigkeit gewinnt. Die Armee offeriert Rachefeldzüge an bestimmte Offiziere, deren Familien Opfer von Anschlägen geworden waren. Ich weigere mich also, alle auf eine Stufe zu stellen, denn für mich ist die Initiative zur Radikalisierung des Bürgerkrieges ist vom Regime ausgegangen, die daraus ihre hauptsächliche politische Ressource gemacht hat.

L.M.: Ich meinerseits glaube nicht an die Rationalität der Gewalt. Es gibt in Algerien eine Dynamik des Krieges, eine Dynamik der Gewalt und daher eine Autonomie der Akteure. Ich glaube auch nicht, daß das Regime über die Kapazität verfügt, eine Politik der Massaker im Lande zu planen. Es gibt heute genügend Haß in den Dörfern in den Familien selbst, um sich gegenseitig zu töten. Ich glaube umgekehrt an die Autonomie all derjenigen, die die Gewalt ausüben, sei es die Militärs, die Milizionäre oder die Guerrilla. Und die größte Gefahr, die Algerien droht, wird zunehmend konkreter. Die Verselbständigung der militärischen Akteure oder der militärisch-islamistischen Akteure manifestiert sich in dieser Praxis der Massaker, die die Verantwortung aller – sowohl islamistischen wie militärischen – Führer übersteigt. Und man muß sich fragen, ob es einen politischen oder militärischen Mechanismus gibt, der alle in diese Radikalisierung der Gewalt verstrickten Personen zurückgewinnen, gar weißwaschen könnte. Daraus ergibt sich das Interesse an der Wahl, die jetzt stattfinden wird, und den darauffolgenden Kommunalwahlen.

 

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