Offener Brief an die französischen Eradicateurs
Fatiha Talahite, Mohamed Harbi, Lahouari Addi, Libération, 03.02.1998
Übersetzung aus dem Französischen: Karin Ayche
Algerien wird in einem Konflikt von unerhörter Gewalt verwundet und entstellt. Die Verbrechen, die auf algerischem Boden gegen die Menschheit verübt wurden und werden, haben das Ansehen zerstört, das sich Algerien während seines hundertjährigen Widerstandes gegen die Kolonisation erworben hat. Auf dieses Land, das einst wegen seines unbezähmbaren Unabhängigkeitswillens und des Durstes seiner Einwohner nach Freiheit respektiert wurde, zeigen heute wegen massiver Menschenrechtsverletzungen internationale Organisationen mit dem Finger. Seit einigen Wochen prangern Bernard-Henri Lévy, André Glucksman, Jack Lang und andere – mit vollem Recht – öffentlich die widerwärtigen Verbrechen gegen Frauen, Kinder, alte Menschen an, die dort geschehen. Daß Bernard-Henri Lévy und André Glucksman sich in den Konflikt einmischen, ist zu wünschen; problematisch ist nur, daß sie die Position der algerischen ‘Éradicateurs’ (Ausmerzer) vertreten, was uns einem Ende des Konflikts nicht gerade näherbringt. Die »Éradicateurs » sind eine Minderheitsströmung in Algerien, auch wenn ihre Medienpräsenz sich umgekehrt proportional zu ihrer Verankerung in der Bevölkerung verhält. Ihre Anhänger unterstützen bedingungslos die härteste Fraktion der Armee und bedienen sich sehr geschickt demokratischer Sprache, um in den Pariser Redaktionsräumen, die ihnen als Resonanzboden dienen, gesellschaftsfähig zu erscheinen. Sie schätzen die politische und ideologische Situation Algeriens falsch ein und wollen eine militärische Lösung des Konflikts, ungeachtet der Konsequenzen. Die Frage, die man ihnen immer wieder stellt, bleibt unbeantwortet: Muß die islamistische Wählerschaft vernichtet werden? Sind der ‘Völkermord per Wahldekret’ oder auch die ‘wahltechnische Säuberung’, wie man sie in Algerien nennt, nötig, um das Problem zu lösen? Die Strategie der Verteufelung des Gegners führt uns direkt dorthin, außerdem rechtfertigt sie schlimmste Menschenrechtsverletzungen und andere Rechtsverweigerungen. Wegen des immer ausgedehnteren islamistischen Maquis plädiert die radikale Fraktion des Regimes für die substantielle Verteilung von Waffen und versucht, mithilfe von Informationsmanipulation und Kriegspropaganda einen Teil der Bevölkerung gegen den anderen aufzuhetzen. Die »Éradicateurs » haben in Frankreich, in Prominenten, die über die algerische Situation schlecht informiert sind, ein Netzwerk gefunden, über welches sie ihren Standpunkt propagieren kann.
So sagen B.-H. Lévy und A. Glucksman, es sei erbärmlich zu fragen, « Wer tötet wen? », denn damit würde man den Verbrechern in die Hände spielen. Warum schlagen sie nicht vor, im französischen Rechtssystem Jurastudium und Rechtsanwälte abzuschaffen und Beschuldigte auf einfache Anzeige bei der Polizei hin zu verurteilen? Oder gibt es dort unten, jenseits des Mittelmeers, zwangsläufig ein anderes Rechtssystem als in den europäischen Ländern? Hüben Gerechtigkeit, drüben Polizei! Das erinnert uns an das Eingeborenengesetz während der Kolonialherrschaft, das dem Verwalter einer gemischten Gemeinde das Recht gab, Beschuldigte festzunehmen, zu verurteilen und zu bestrafen. Wer in einem Land ohne Gewaltenteilung, mit geringer Informationsfreiheit und minimalen politischen Freiheiten die sichere Identifizierung von Kriminellen verweigert und den Anschuldigungen der Polizei Glauben schenkt, der leistet schlimmsten Entwicklungen Vorschub. Man kann das Argument von B.-H. Lévy und A. Glucksman auch umdrehen und sagen, es ist erbärmlich, das Konzept einer nationalen oder internationalen Untersuchungskommission a priori abzulehnen, denn damit spielt man objektiv jenen in die Hände, die eben dank ihrer Anonymität Kindern die Gurgel durchschneiden.
Die kategorische Weigerung der algerischen Regierung gegen den Besuch einer internationalen Untersuchungskommission ist besorgniserregend. Was fürchtet sie? Den Verlust ihrer Souveränität, sagt man. Aber ein Staat ist um so souveräner, je mehr er innerhalb und außerhalb seiner Grenzen respektiert wird. Und wie kann man einen Staat respektieren, dessen Bevölkerung in großem Stil schutzlos hingemetzelt wird? Wie kann man einen Staat respektieren, dessen Verbrechen, wie im Gefängnis von Serkadji, ungesühnt bleiben? Inkompetenz der Armee, sagt Lévy; Passivität der Behörden, fügt Glucksman hinzu. Beides spricht nicht für Respekt. Vor einigen Tagen haben die Abgeordneten der Opposition in der Nationalversammlung eine Debatte zum Thema Sicherheitspolitik gefordert. Der Vorsitzender jener Versammlung hat ihnen – allen Ernstes – geantwortet, die Sicherheit der Bevölkerung falle nicht in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments. In einem Land, wo täglich mindestens fünfzig Menschen durch politische Gewalt sterben, ist die Antwort durchaus pikant. Wie aus einem Stück von Alfred Jarry! Die Ablehnung einer internationalen Untersuchungskommission, die Weigerung, den Abgeordneten zu gestatten, über die Sicherheitslage der Bevölkerung zu debattieren, sind Beweis dafür, daß die Regierung etwas verbirgt. In einer Situation, in der die Exekutive Rechtsprechung und Gesetzgebung steuert, in der Journalisten nicht die Möglichkeit haben, ihre Arbeit zu tun, ist Information aus offiziellen Kanälen zwangsläufig mit Vorsicht zu genießen und muß von anderen, unabhängigen Quellen bestätigt werden. Unter diesen Bedingungen ist eine internationale Untersuchung, die die offizielle Version der Tatsachen bestätigt oder widerlegt, unverzichtbar; die algerische Regierung kann sich nicht über die internationale Moral stellen.
Es ist die moralische Pflicht des Intellektuellen, sich einzumischen, aber er darf dies nur dann tun, wenn er Gerechtigkeit und Frieden verteidigt. Ist er jedoch auf der Seite der Henker, aus Naivität oder wenn er von Paris aus Öl ins Feuer gießt, dann verrät er das Ideal, das er zu verteidigen vorgibt. Bevor er Position bezieht, muß er sich gründlich informieren und sich von anderen Positionen absetzen. Wie sieht es also in Algerien aus? Offensichtlich ist die Situation im Landesinnern nicht unter Kontrolle zu bringen und die Sicherheitskräfte sind den – nicht immer politisch motivierten – Milizen deutlich unterlegen. Die massive Privatisierung des Krieges hat der Armee das Waffenmonopol genommen und die Fähigkeit des Staates, für Gerechtigkeit zu sorgen, ausgehöhlt. Auf der anderen Seite verdunkelt die Militarisierung der Information den Konflikt und erlaubt es jedermann, aus irgendeinem Grunde irgendjemanden zu töten. Dank der Undurchsichtigkeit, die die Hardliner des Regimes verfügt haben, gibt der Konflikt sich immer wieder selbst neue Nahrung; er hätte durchaus gute Chancen, zu einem Ende zu kommen, wenn die Presse die Freiheit hätte zu informieren und wenn die Justiz anklagen könnte. Das bedeutet nicht, es gäbe keinen islamistischen Terrorismus. Die Maquis sind aktiv und operieren sowohl in den Städten als auch auf dem Lande. Aber damit dies nicht so bleibt, muß auf eine politische Lösung hingearbeitet und der Terrorismus gleichzeitig mit Mitteln des Rechtsstaats im Licht der Öffentlichkeit bekämpft werden; sonst perpetuiert sich das Verbrechen in der Anonymität.
B.-H. Lévy, A. Glucksman, J. Lang und die anderen wissen, daß das algerische Regime keine Musterdemokratie ist, aber sie haben beschlossen, das kleinere Übel zu wählen und für eine Politik zu stimmen, in der der Zweck die Mittel heiligt. Das wirft elementare Fragen auf: Rechtfertigt der Kampf gegen den Terrorismus die Verletzung der Menschenrechte? Darf man vor all diesem Unrecht die Augen schließen, um das islamistische Unrecht zu bekämpfen? Gibt es ein kleineres Übel, wenn es um die Moral geht? Läßt sich Unrecht hierarchisieren? Wenn ja, nach welchen Kriterien? Algerien sehnt sich nach Frieden, und die Mehrheit seiner Bevölkerung wünscht sich Unabhängigkeit in Freiheit. Jeder stolze und freie Bürger auf dieser Welt tritt mit erhobenem Haupt und ohne jeden Kompromiß für diese Ziele ein. Algerien braucht die Solidarität seiner Mitbürger, um aus der Sackgasse herauszufinden. Algerien hat nichts davon, wenn man es aus Naivität oder aus Berechnung erdrückt. B.-H. Lévy, A. Glucksman etc. sollten sich näher mit dem algerischen Konflikt beschäftigen, mit allen politischen Kräften Kontakt aufnehmen und helfen, den Frieden wiederherzustellen – im Sinne der Gerechtigkeit und der Würde eines jeden Bürgers.
(Fatiha Talahite ist Ökonomin, Mohamed Harbi Historiker, Lahouari Addi Soziologe)