Algerien verdient doch eine Erklärung

Das Militär bestimmt alle Informationen über Algerien. Bis zu dem Punkt, daß man – sogar in Frankreich – den Bannfluch über diejenigen verhängt, welche die vorherrschende Meinung ablehnen.

Algerien verdient doch eine Erklärung

Von Francois Burgat, Rony Brauman, Jocelyne Cesari, Gilbert Grandguillaume und Tassadit Yacine

(Francois Burgat ist Forscher beim CNRS, Rony Braumann ist Vorsitzender von « Ärzte ohne Grenzen », Jocelyne Cesari ist Forscherin beim CNRS-IREMAM, Gilbert Grandguillaume und Tassadit Yacine sind Dozenten beim EHESS.)

Angesichts der Grausamkeit der Gewalt in Algerien genügt es nicht mehr, diese zu bedauern oder sich darüber zu empören, noch die Armee und die Islamisten gleichermaßen zu beschuldigen. Die Toten von Relizane, Rais oder Bentalha verdienen eine politische Erklärung. Diese darf sich nicht auf den Verweis auf die « Schwäche » der Armee beschränken, die nicht in der Lage sei, die « halsabschneidenden islamistischen Banden » aufzuhalten.

Die Verantwortung für die Massaker dem Islam in die Schuhe zu schieben, wie dies gewisse Intellektuelle lautstark tun, bedeutet, die Komplexität der Lage in Algerien auf eine erschreckende Schwarz-Weiß-Malerei zu reduzieren. Wir können es nicht hinnehmen, ipso facto als « Revisionisten », Spießgesellen der Halsabschneider eingestuft zu werden, weil wir diese furchtbar vereinfachende Verzerrung ablehnen. Die Würde und mehr noch das Überleben des algerischen Volkes machen es erforderlich, sich der Illusionen und Verfälschungen zu erwehren.

Daher ist es notwendig, dem Mythos zu entsagen: Dem Mythos desjenigen Algerien, das sich die Franzosen schon seit zu langer Zeit, erträumen, anfangs verblendet von den Verlockungen des kolonialen Abenteuers, dann stolz, frei, unabhängig, sozialistisch und Musterland der Dritten Welt. Wir müssen aufhören zu denken, daß Algerien ein zweites Frankreich sei, auch wenn uns dies die politischen Eliten Algeriens seit 1962 unaufhörlich glauben machen wollen. Letztere, tief geprägt von der französischen Kultur, aber gleichzeitig in einem ambivalenten Verhältnis zu Frankreich, präsentierten diesem ein beruhigendes und gleichmäßiges Bild, das zur Verkennung beitrug, ja sogar geradewegs zum Vergessen eines anderen Algerien führte, eines kommunitaristischen Algerien, dessen soziale Bindungen stark von der Religion geprägt sind – eine Domäne, die zu berühren, sich diese vorgeblich fortschrittlichen und sozialistischen Machthaber übrigens gehütet haben.

Es wurde viel gesprochen über das diplomatische Tête-à-Tête von Frankreich und Algerien. Der Tatsache aber, daß diese scheinbare Nähe eine wirkliche Annäherung an die algerische Gesellschaft unmöglich machte, da die grundlegenden Veränderungen, die in diesem Land in den letzten fünfunddreißig Jahren geschehen sind, verborgen blieben, hat man weniger Beachtung geschenkt. Arabisierung, Urbanisierung und die Verjüngung der Bevölkerung ließen ein Algerien entstehen, das auf dieser Seite des Mittelmeers unbekannt blieb. Ohne diese aufeinanderfolgenden Revolutionen zu berücksichtigen, ist es somit nicht möglich zu verstehen, warum der algerische Konflikt so gewaltsam ist und worum es wirklich geht.

Die Hartnäckigkeit, mit der die politischen und vor allem auch kulturellen Maßstäbe Frankreichs an Algerien angelegt werden, nährt sich aus dieser Verkennung und dient hauptsächlich den algerischen Machthabern, die seit geraumer Zeit verstanden haben, welche politischen Vorteile sich aus dieser Blindheit ziehen lassen. So kam es, daß die französische Regierung « ganz selbstverständlich » die von den algerischen Machthabern seit 1992 eingeschlagenen Richtungen unterstützt hat, auch wenn kleine Meinungsverschiedenheiten aufgetreten sind, die von der « Nicht-Einmischung » zu einem deutlicheren Engagement zugunsten der von Algier eingeschlagenen Richtung der « totalen Sicherheit » (tout sécuritaire) geführt haben, und zu einer vorsichtigen, aber trotz allem wohlwollenden Politik des Abwartens seit den Attentaten in Frankreich von 1995 und 1996.

Eine objektive politische Beurteilung erkennt mehr denn je eine Situation, die weit davon entfernt ist, auf der einen Seite einen Staat, « Bollwerk der Demokratie und der Zivilgesellschaft », und auf der anderen Seite « Terroristen » einander gegenüberzustellen. Es ist an der Zeit, die bedingungslose Unterstützung, die dem algerischen Staat bis jetzt zuteil wird, wenn nicht aufzugeben, so doch wenigstens in Frage zu stellen. Wenn diese Veränderungen zwar in der politischen Sphäre wahrnehmbar sein sollten, so müssen wir doch feststellen, daß die Medien in Frankreich, insbesondere das Fernsehen, monolithisch bleiben. Das Fernsehen arbeitet als eine Bühne für eine verfälschte Sicht der politischen Krise in Algerien. Diese partielle und parteiische Behandlung des Themas « Algerien » erklärt sich aus dieser Erblindung Frankreichs gegenüber Algerien, wird jedoch gleichzeitig zu einem weiteren politischen Hilfsmittel für eine algerische Staatsmacht, deren Anliegen es ist, sich als das letzte Bollwerk gegen den religiösen Fanatismus zu präsentieren.

Über die blinde Übernahme von Bildern, die von offiziellen Stellen in Algerien zur Verfügung gestellten wurden, hinaus haben die französischen Fernsehsender politischen Persönlichkeiten als Sprungbrett gedient, die, indem sie sich dieser künstlichen Nähe zwischen bestimmten frankophonen Eliten und den Milieus der französischen Intellektuellen und Entscheidungsträger bedienen, einen virulenten Anti-Islamismus propagieren. Die einzigen Algerier, die in unseren Fernsehkanälen Bürgerrechte genießen, sind diejenigen, die für die algerische Gesellschaft am wenigsten repräsentativ sind, die aber den Vorteil haben, uns sehr ähnlich zu sein und geschickt auf dieser Klaviatur zu spielen, um uns glauben zu machen, daß sie Demokraten seien, Toleranz und Pluralismus respektieren würden, obgleich ihr politisches Verhalten in ihrem Land diesen Kriterien diametral entgegensteht.

Derartige mediale Operationen befördern ein verfälschtes Bild von Algerien, was heute den politischen Interessen der Mächtigen dient. Die Unterstützung durch Frankreich stellt in der Kommunikationsstrategie der algerischen Machthaber gegenüber anderen Ländern einen wesentlichen Faktor dar. Zu diesem Zweck werden alle Mittel genutzt, nicht nur die Knebelung der algerischen Presse, sondern auch die Weiterverbreitung nach außen von aufeinanderfolgenden Darstellungen der politischen Krise von offizieller Seite: Zunächst ein Staat als Bollwerk, der die Bevölkerung vor den Attentaten der « Terroristen » schützt, dann, seit den Massakern der vergangenen Monate, ein ohnmächtiger Staat. Das Ziel ist in der Tat recht einfach: Es geht darum, die Darstellung der Handlungen des islamistischen Lagers einzig auf die blinde Gewalt gegen unschuldige Bürger zu beschränken unter Einsatz eines ganzen Arsenals von Bildern und Bedeutungen. So entsteht das Bild einer einzig den Islamisten anzulastenden Barbarei, die den unverwüstlichen Archetyp der Bestialität und des Obskurantismus repräsentiert, bis zu dem Punkt, daß es niemandem mehr in den Sinn kommt, daß sich auch Intellektuelle (Forscher, Lehrer, Journalisten) in den Reihen dieser neuen Barbaren befinden könnten, und auch nicht, daß diese Islamisten selber Opfer der Gewalt sind, wie das in Rais, Bentalha und Relizane der Fall war.

Wenn auch die Aussagen verschiedener Akteure, die eine Ausweitung der Manipulation der Gewalt; die Praxis des Regimes, seine eigenen Polizeibeamten, aber auch einfache Bürger zu ermorden; die Bildung krimineller, von den Machthabern finanzierter Banden bezeugen, einen Platz in den Rubriken gewisser französischer Tageszeitungen finden können, und sogar in den Parlamenten des Auslands, so bleibt jedoch die Barriere des französischen Fernsehens nahezu unüberwindbar.

So hat das « Livre blanc sur la répression » (Weißbuch über die Repression), 1995 in der Schweiz erschienen, in Frankreich keinerlei Verbreitung gefunden, weil es den Makel besaß, ein Erzeugnis von Islamisten zu sein. Die Verurteilungen durch Amnesty International oder die Fédération Internationale des Droits de l’Homme von Praktiken des Regimes wie die Anwendung der Folter, Massenverhaftungen und Massenexekutionen haben gewiß dazu beigetragen, das Schwarz-Weiß-Bild der Krise abzuschwächen. Dennoch bleibt festzuhalten, daß die semantische Trommel zur Verteufelung des Islamismus unentwegt weiter gerührt wird. Schlimmer noch, es läßt sich ein Import von Praktiken nach Frankreich feststellen, wie sie in Algerien ausgeübt werden und die darin bestehen, den Bannfluch zu schleudern und öffentlich all jene – humanitäre Organisationen, Journalisten, Forscher, Intellektuelle – zu denunzieren, die den Makel haben, die herrschende Meinung nicht zu vertreten, und, ihrer Arbeit nachzugehen versuchen, indem sie Zweifel und Fragen erheben, die eine sehr komplexe Wirklichkeit umgeben.

Die Parteinahme für die Simplifizierung macht derart jede politische Erklärung der Krise zunichte. Sie verhindert, die wahren Ursachen für diese Gewalt zu sehen, die mit der grundlegenden Trennung einer Regierung und ihrer Bevölkerung verbunden ist und die nicht 1992, sondern in den 1980er Jahren einsetzte. Bei den aktuellen Machtverhältnissen besteht für das Militär keinerlei Veranlassung, aus dem Räderwerk der Gewalt auszusteigen: die Schulden sind bereinigt, die Armee ist fest am Zügel, die AIS (der einzige glaubwürdige islamistische Verhandlungspartner) ist seit Aufruf zum Waffenstillstand im Oktober 1997 neutralisiert.

Dagegen ist es jetzt dringend geboten, die von Algier und seinen Botschaftern, insbesondere wenn diese sich aus der französischen Intelligentsia rekrutieren, verlautbarten Wahrheiten nicht mehr für bare Münze zu nehmen. Das Militärregime hat das Informationsmonopol an sich gerissen, der internationalen Presse den freien Zugang verwehrt. Die Information, die es durchgehen läßt, gehört deshalb in den Bereich der politischen Manipulationen. Das war jüngst der Fall bei den Parlamentswahlen im November 1997. Die seriösen Beobachter wissen, daß alle in den vergangenen zwei Jahren organisierten Wahlen, von den Präsidentschafts- bis zu den Kommunalwahlen, nichts mit freier Konkurrenz zu tun haben und dazu dienen, das Regime zu legitimieren. Doch niemand hat der Tatsache Beachtung geschenkt, daß die massiven Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen im November 1997 verurteilt werden konnten (und sogar französischen Journalisten gezeigt werden konnten), als ob ein plötzlicher Wind der Freiheit über Algier wehte. Wie war dies in einem dermaßen abgeriegelten und kontrollierten politischen Raum möglich?

Die Antwort liegt im Kräfteverhältnis und der Konkurrenz zwischen den Clans an der Macht. Es ist schwierig, die algerische Politik zu begreifen, weil es schwierig ist, die konfliktuelle Solidarität zu erfassen, die die verschiedenen Gruppen und Tendenzen eint, aus denen sich die algerische Macht zusammensetzt, die verschiedene Segmente der Gesellschaft in ihrem Interesse instrumentalisiert, um einen Pseudo-Oppositionsdiskurs erklingen zu lassen, der nur ein einzigen Zweck hat: zu verhindern, daß ein Clan den anderen überwältigt. Wie anders als mit der Absicht, Liamine Zeroual zu schwächen, die genau taxierte Verurteilung der Wahlfälschung erklären, die sehr geschickt von bestimmten Gruppen vorgebracht wurde, die insgeheim mit einem der Clans an der Macht liiert sind, der sich in Streit mit dem Lager des Präsidenten befindet? Weder die verkündete Wahlbeteiligung, noch die Verteilung der Stimmen zwischen den Kandidaten, noch das Gewicht der Stimmen derjenigen, die die Stammwählerschaft von General Zeroual aufblähten, gehören zur klassischen Wahlpraxis. In Algerien sind der militärische Sieg und der politische Sieg weitgehend verschmolzen, und das müßte einmal mit lauter Stimme verkündet werden.

Der Diskurs Algiers ist wirkungsvoll, da er über die Verteufelung des Islamismus läuft, der geradezu zum Synonym für Gewalt und Fanatismus geworden ist. Doch der Islamismus sollte als das betrachtet werden, was er ist: eine politische Bewegung des Widerstands gegen autoritäre Regimes. In Algerien verkörperte er die massive Ablehnung der Militärdiktatur durch weite Teile der Bevölkerung. Aber es ist sehr schwierig, insbesondere für westliche Köpfe, ihn als eine politische Bewegung zu erkennen. Um den Vereinfachungen, die zu Unwahrheiten werden, zu entkommen, müßte eines Tage eingesehen werden, daß die Radikalisierung und die Gewalt auf blockierte und repressive politische Umständen zurückzuführen sind und nicht auf die Besonderheiten des Islam.

 

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