Kein Mitgefühl und keine Reue
Kein Mitgefühl und keine Reue
Frankreichs Algerien-Trauma gärt weiter
Der Mann würde in einen Gruselfilm passen: Paul Aussaresses, 83-jährig, wachsbleich, ein Auge zugenäht, spielt aber bloss die Hauptrolle in einer neuen Debatte um die Folterpraktiken der französischen Armee im Algerienkrieg.
Stephan Brändle, Die Südostschweiz, 10. Mai 2001
Paul Aussaresses’ Buch « Services speciaux, Algérie 1955 – 1957 » (Verlag Perrin) des ehemaligen Geheimdienst-Offiziers wirft ein gleissendes Schlaglicht auf ein Thema, das in Frankreich bisher verdrängt wurde – und wird, wie die Debatte zeigt. Der frühere Geheimdienstoffizier schildert auf krudeste Weise, wie die Spezialeinheiten der Armee algerische FLN-Befreiungskämpfer folterten und oft umbrachten. Aussaresses legte selber Hand an. Brutal und eiskalt. Elektroschock oder « Badewanne »; fingierte Selbstmorde oder summarische Erschiessungen: Nichts erspart Aussaresses den Lesern.
« Das juristische Vorgehen den Opfern überlassen »
Ohne jede Zurückhaltung schildert der greise Militär zum Beispiel, wie sie den FLN-Kämpfer Larbi Ben M’Hidi aufhängten. Den Nachkommen hatte man bisher gesagt, der heutige Volksheld Algeriens sei einem Unfall erlegen. Vielleicht das Grässlichste: Der einstige Widerstandskämpfer unter de Gaulle, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Indochina Sondermissionen wahrnahm und später als Schattenmann der Republik (Geheimdienst in Afrika, Waffenhandel für Staatsfirmen) tätig war, empfindet bis heute absolut kein Mitgefühl oder Reue. Sein einziges Bedauern gilt dem Umstand, dass er Einzelne – wenige – unter der Folter nicht zum Reden gebracht habe.
In Frankreich löste das Buch einen Sturm der Entrüstung aus. Premierminister Lionel Jospin äusserte sich « tief schockiert ». Präsident Jacques Chirac verlangt, dass Aussaresses die Ehrenlegion – die höchste Auszeichnung der Nation – aberkannt werde; als oberster Armeechef fordert Chirac das Verteidigungsministerium zudem auf, eventuell Disziplinarmassnahmen zu erlassen.
Doch dabei bleibt es. Kommunistische Abgeordnete verlangen vergeblich eine Untersuchungskommission, die auch die politischen Verantwortlichkeiten eruieren würde. Aussaresses belastet vor allem zwei sozialistische Minister jener Zeit, Robert Lacoste und François Mitterrand. Der spätere Staatschef war 1957 Justizminister und, so Aussaresses, durch einen Gesandten namens Jean Bérard ständig auf dem Laufenden, was das Verhalten der Armee und der Geheimdienste in Algerien anging.
Rechts wie links wird ähnlich abgewiegelt. Der sozialistische Generalsekretär François Hollande ist gegen eine Untersuchungskommission und will « das juristische Vorgehen den Opfern überlassen » – warum, sagt er nicht. Der gaullistische Abgeordnete Patrick Devédjian widersetzt sich einer Kommission « nicht grundsätzlich », will aber auf jeden Fall vermeiden, dass auf die Armee « als Ganzes » ein schlechtes Licht falle.
Generalamnestie für Vorkommnisse des Kriegs
Nur die französische Menschenrechtsliga und die Menschenrechtsorganisation Amnesty Internatinal prüfen, ob Aussaresses wegen « Verbrechen gegen die Menschheit » verfolgt werden könnte. Dies wäre die einzig noch mögliche Demarche, nachdem Frankreich zu sämtlichen Vorkommnissen des Algerienkriegs mehrere Generalamnestien erlassen hatte. Nach dem ersten Aufschrei der Entrüstung gegen den widerwärtigen « Commandant O. » (so der Spitzname Aussaresses’) schweigen die französischen Medien meistens, wenn es um die Frage der konkreten Vergangenheitsaufarbeitung geht.
Nur einzelne Historiker kritisieren, dass die von Jospin bereits vor Monaten angeordnete Öffnung der Algerien-Archive toter Buchstabe geblieben sei. Falls die Staatssicherheit, nationale Verteidigung oder Privatleben Einzelner betroffen ist – und das ist fast immer der Fall – , können die nationalen Archivare den Zugriff weiterhin verweigern. Die wichtigsten Dokumente bleiben damit unter Verschluss. Noch ist Frankreich in Sachen Algerienkrieg nicht bereit, die ganze Wahrheit zu hören.