Algerien: Zum Hintergrund
PRO ASYL, (Stand: Dezember 98)
Im Lagebericht vom 8. Juli 1998 behauptet das Auswärtige Amt, Algerien habe « trotz der schwierigen inneren Lage den Prozeß der Demokratisierung seit 1994 konsequent fortgeführt. (…) Freilich steht die weitere innenpolitische Entwicklung auch unter dem Vorbehalt einer erfolgreichen Stabilisierung der sozialen Verhältnisse und der nachhaltigen Zerschlagung der terroristischen Strukturen. » (Seite 4)
Hinweise und Zeugenaussagen zur Verwicklung der Armee in den Terror reduzieren sich im Bericht des Auswärtigen Amtes auf folgenden Satz: « Gerüchte, daß die Armee bei terroristischen Anschlägen auf höhere Weisung nicht eingegriffen habe, ließen sich nicht bestätigen, auch wenn sie in Teilen der Bevölkerung große Resonanz fanden. Der Generalstabschef hat diese Gerüchte dementiert; … » (Seite 3)
Die Einziehung von Informationen bei Institutionen des Regimes wurde in den vergangenen Jahren als unproblematisch angesehen. Bereits im Jahre 1997 hatte die Bundesregierung eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag wie folgt beantwortet: « Die Personallage der Botschaft Algier ist äußerst angespannt. Die Vertretung ist krisenbedingt aus Sicherheitsgründen personell extrem ausgedünnt, so daß sie nur noch zur Erhaltung einer Minimalpräsenz absolut unerläßliche Aufgaben erledigen kann. Hinzu kommt, daß ihre wenigen Angehörigen, ebenfalls aus Sicherheitsgründen, entscheidenden Bewegungsbeschränkungen unterliegen, die den konsularischen Dienstbetrieb erheblich beeinträchtigen. (…) Eigene Recherchen von Botschaftsbediensteten ohne unmittelbare Einschaltung algerischer Behörden sind auf absehbare Zeit nicht möglich. »
PRO ASYL kritisiert, daß vor dem Hintergrund dieser – inzwischen nur wenig veränderten Sachlage – im Lagebericht weitgehende Behauptungen über die Lage im ganzen Land aufgestellt werden.
Zum Anteil des Staates an Menschenrechtsverletzungen und zur Verwicklung in den Terror
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen haben des öfteren auf die von staatlicher Seite begangenen massiven Menschenrechtsverletzungen hingewiesen, so etwa amnesty international im November 1996 in einem langen Bericht, Reporters sans Frontiers im März 1997, Human Rights Watch im Juni 1997, die Fédération International des Droits de l’Homme im Juni 1997. Die Medical
Foundation for the Care of Victims of Torture hat im Januar 1998 in einer Vorlage für den britischen Parlamentsausschuß für Menschenrechte berichtet, daß die Organisation in den Jahren 1994 bis 1997 medizinische Gutachten über 45 gefolterte und später geflüchtete algerische Asylbewerber verfaßt hat. Alle Gefolterten gaben an, daß ihre Folterer zu den Sicherheitsdiensten des Regimes gehörten und daß sie in Polizeistationen, Lagern oder Kasernen gefangengehalten worden waren.
Mehrfach haben Deserteure aus den Sicherheitskräften nach ihrer Flucht im Ausland berichtet, bei Massakern eingesetzt worden zu sein, so etwa gegenüber The Observer vom 11. und 18. Januar 1998 und gegenüber The Independent vom 30. Oktober 1997. Umfangreiche Belege finden sich in den von der Organisation algeria watch herausgegebenen 6 Infomappen aus den Jahren 1997 und 1998. (Siehe Link zu algeria watch auf der PRO ASYL-Web-Site unter http://www.proasyl.de oder direkt bei algeria watch Infomappen.)
Bereits seit 1995 gibt es Quellen, so die Pariser Wochenschrift Maghreb Confidentiel vom 28. September 1995, die behaupten, daß die algerischen Geheimdienste seit 1993 die bewaffneten Gruppen unterwandert haben, um in ihnen Spaltungen zu provozieren und diejenigen, die einen politischen Dialog befürworten, dadurch zu neutralisieren, daß sie aufgrund ihrer angeblichen Verantwortung für blindwütige Gewalttaten zu Unpersonen werden.
Auch bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 29. September 1997 haben mehrere Mitglieder der algerischen Delegation in Anwesenheit von Vertretern des Auswärtigen Amtes auf ein Interesse des Regimes am Terror hingewiesen. Louisa Hanoune (Parti des Travailleurs) wies darauf hin, daß in der Region um Blida, die von den Massakern am stärksten betroffen ist, Millionen von Hektar fruchtbaren Ackerlands zur Privatisierung anstehen. Potentielle Käufer könnten vom Machtvakuum in der Region profitieren. Der Staat habe sein Gewaltmonopol bereits aufgegeben, indem er Waffen an Milizverbände verteile. Die Abgeordnete berichtete, sie habe den Präsidenten Zeroual aufgefordert, die Akteure der Massaker zu benennen und einen Untersuchungsausschuß zur Untersuchung der Massaker einzurichten. Eine Reaktion sei nicht gekommen.
Tarik Mira, Abgeordnete der RCD (Rassemblement pour la Culture et la Democratie): Die Regierung habe aus verschiedenen Gründen Interesse am Fortgang des Terrors: Die angespannte Sicherheitslage erleichtere Wahlfälschung. Die Regierung habe unter den gegenwärtigen Umständen freie Hand bei ihren wirtschaftlichen und finanziellen Operationen.
Ahmed Djeddai, Abgeordneter der FFS (Front des Forces Socialistes) erinnerte daran, daß seine Partei eine nationale und internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Aufklärung der Massaker gefordert hat, was aggressiv von der Regierung zurückgewiesen worden sei. Er fragt: « Warum, wenn sie sicher ist, daß die Fundamentalisten für die Massaker verantwortlich sind? » (Zitate aus der Tagungsdokumentation der Friedrich-Ebert-Stiftung)
Erst vor kurzem hat der algerische Menschenrechtsanwalt Abdennour Ali Yahia darauf hingewiesen, daß die algerischen Behörden mitverantwortlich für Greueltaten größten Ausmaßes sind. Dabei hat er sich auf die Massaker auf die Region Relizane im Jahr 1994 sowie die Bildung von Todesschwadronen bezogen. Die Verantwortlichen für die Massaker seien bekannt, aber unbestraft geblieben. Überlebende hätten die Namen der Verantwortlichen genannt, die Justiz bleibe untätig. (Frankfurter Rundschau vom 17. November 1998)
Die deutsche Außenpolitik der Ära Kinkel war von einer einseitigen Bewertung der menschenrechtlichen Lage in Algerien und weitgehender Kooperation mit dem Regime geprägt. Einer der Höhepunkte war ein Blitzbesuch des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, im Dezember 1997, bei dem er sich von algerischen Armeekommandeuren den angeblichen Verlauf von Massakern in der Region Bentalha erklären ließ und nach kurzem Aufenthalt zu der Auffassung kam, er könne nun beurteilen, daß es sich bei dem Vorwürfen über die Inaktivität der Armee um dummes Gerede aus Deutschland handele.
Auch die Ergebnisse der auf Initiative des damaligen Bundesaußenministers Kinkel geführten EU-Troika-Gespräche im Januar 1998 in Algier waren von dieser einseitigen Perspektive geprägt. Besprochen wurden « mögliche gemeinsame Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrors » – als könne es mit der selbst in Terror verwickelten algerischen Regierung eine gemeinsame Definition des Terrors geben. Zwar forderte der Rat der EU-Außenminister in der Folge das algerische Regime zu mehr Offenheit auf. Es blieb jedoch bei der unkritischen Haltung gegenüber dem algerischen Regime. Am 21. Oktober 1998 – also nach der letzten Bundestagswahl – war der damals noch im Amt befindliche Staatsminister im Auswärtigen Amt an Gesprächen der EU-Troika (Österreich, Deutschland, Großbritannien) mit dem algerischen Außenminister Ahmed Attaf in Wien beteiligt. Weitere Teilnehmer: EU-Kommissar Manuel Marin, der österreichische Außenminister Wolfgang Schüssel und der britische Außenstaatssekretär Derek Fatchett. In Agenturmeldungen hieß es, der algerische Außenminister habe angedeutet, daß man sich künftig nicht mehr hinter dem Prinzip der Nichteinmischung verstecken werde. Und neben einem Bekenntnis zum gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus wurde diesmal die Aufnahme von Assoziierungsgesprächen mit Algerien angekündigt.
In welchem Rahmen stehen diese Assoziierungsverhandlungen?
Am 17. Juli 1995 und am 26. Februar 1996 hat die EU mit Tunesien und Marokko neue unbefristete Assoziierungsabkommen geschlossen, die alte Kooperationsabkommen aus dem 70er Jahren ersetzen. Algerien blieb aufgrund der unsicheren innenpolitischen Lage zunächst von solchen Vertragsverhandlungen ausgeschlossen. Der Rat hat am 10. Juni 1996 der Europäischen Kommission das Mandat zur Aushandlung eines entsprechenden Abkommens erteilt.
Die entsprechenden Assoziierungsabkommen ordnen sich ein in die Mittelmeerpolitik der EU, deren Grundsätze in der Deklaration von Barcelona aus dem November 1995 niedergelegt sind. Diese Deklaration verkündet eine künftige « Europa-Mittelmeer-Partnerschaft ». Bereits in Kapitel 1 nennt sie als erstes Prinzip einer politischen und sicherheitspolitischen Partnerschaft die Beachtung der Menschenrechte und der demokratischen Normen.
MdB Christoph Zöpel, Vorsitzender des Gesprächskreises Nah-und Mittelost der SPD-Bundestagsfraktion, hat bei der oben erwähnten Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung darauf hingewiesen, daß sich die algerische Regierung mit ihrer Unterschrift unter die Barcelona-Deklaration verpflichtet habe, mit den anderen Signatarstaaten über Fragen der Sicherheit, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Menschenrechte zu sprechen. Als einen Verstoß gegen die Barcelona-Deklaration bezeichnete Zöpel den Hinweis der algerischen Regierung, die Sicherheitslage im Lande sei eine inneralgerische Angelegenheit. Trotz dieser Einsicht konstatierte Zöpel unmittelbar anschließend, Algerien habe im Gegenzug das Recht, Aufklärung über mögliche Aktivitäten algerischer Terroristen in Europa zu erhalten – als gebe es eine gemeinsame Definition des Terrors mit dem algerischen Regime. Bei derselben Tagung betonte Zöpel, Sozialdemokraten seien im algerischen Konflikt Partei: « Sozialdemokraten sind für einen säkularistischen, laizistischen Staat. » Ob dies eine dauerhafte Parteinahme für das algerische Regime als Garant eines säkularistischen und laizistischen Staates einschließt, muß in der außenpolitischen Abstimmung innerhalb der Regierungskoalition künftig wohl ausgelotet werden.
Deutsche, europäische und internationale Wirtschaftsinteressen in Algerien
Beherrschend ist das Interesse der südeuropäischen Staaten an der Nutzung der Erdgasvorkommen in Südalgerien. Anfang 1997 wurde eine Erdgaspipeline in Betrieb genommen, die über Marokko nach Spanien und Portugal verläuft und algerisches Erdgas in das europäische Netz eingespeist. Zusammen mit der zweiten älteren Pipeline über Tunesien nach Italien und Slowenien machen die algerischen Erdgasexporte einen beträchtlichen Teil der Staatseinnahmen aus. Deutschen Firmen wirken in Konsortien insbesondere im Bereich der Prospektion von neuen Erdöl- und Erdgasfeldern und bei der Errichtung von Förder- und Verarbeitungsanlagen mit. Messer Griesheim hält eine 60%ige Beteiligung an einem Erdgas-Industrieanlagen-Projekt im Rahmen eines Joint Ventures. Die Unternehmen MAN und Fritz Werner planen angeblich Vorhaben im Bereich des Transportwesens und der Haushaltsgeräteproduktion. Als gemeinschaftliches Organ, das Kontaktmöglichkeiten für Projekte und Liefergeschäfte biete, so Wirtschaftsinformationsdienste, gründeten interessierte Kreise ein deutsch-algerisches Wirtschaftsforum, dessen Träger der Bundesverband der Deutschen Industrie sowie ein « Nah- und Mittelost-Verein » sind.
Peter Dingens, Ministerialdirigent und Beauftragter für den Bereich Nah- und Mittelost im Auswärtigen Amt beschrieb die Rolle der wirtschaftlichen Aspekte in den deutsch-algerischen Beziehungen bei der o.g. Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung folgendermaßen: Algerien habe Deutschland nach der Unabhängigkeit als Partner gesucht, um gegenüber seinen traditionellen Beziehungen zu Frankreich zu differenzieren. Ein Großteil der Industriekapazität Algeriens sei mit Hilfe deutscher Unternehmen aufgebaut worden. Die Sicherheitslage schrecke z.Z. investitionsbereite Unternehmer aus Deutschland ab. Die Bundesregierung sehe ihre Aufgabe darin, diese investitionsbereiten Unternehmer zu unterstützen. In der Frage der algerischen Flüchtlinge in Deutschland betonte er, « daß die Bundesregierung mit der algerischen Regierung zusammen eine Lösung für dieses Problem finden » müsse.
Algeriens Wirtschaft ist durchaus nicht einseitig auf Europa fixiert. Algerien stieg in den Jahren 1994 bis 1997 zum drittwichtigsten Importland der USA auf. Auch die Präsenz us-amerikanischer Ölkonzerne ist beträchtlich. Kanadische, britische, australische, argentinische, brasilianische, koreanische und südafrikanische Firmen sind ebenfalls im Ölbusiness engagiert.
Der Kasseler Professor für Politikwissenschaft Werner Ruf: « Die offensichtliche Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols kontrastiert merkwürdig mit der außerordentlichen Fähigkeit desselben Staates, die Tausende von Kilometern von Pipelines zu schützen, die das Land in Richtung Küste, aber auch nach Europa über Tunesien und Marokko durchziehen. In den mehr als 6 Jahren, die der Konflikt währt, mit seinen inzwischen wohl über 130.000 Toten, wurde auf die Lebensader des Regimes nicht ein Anschlag verübt. »
Ausführliche Informationen zur Ökonomie Algeriens enthält Prof. Rufs Artikel « Ökonomie und Politik – Wie ein Regime den Zusammenbruch des Staates überlebt », aus dem dieses Zitat stammt. Der Text ist zuerst im Sommer 1998 in der Zeitschrit inamo erschienen. (Er kann auch von der Web-Site der Arbeitsgemeinschaft für Wehrdienstverweigerung, Gewaltfreiheit und Flüchtlingsbetreuung ZOOM abgerufen werden.)
Die Behandlung der algerischen Flüchtlinge durch die Innenministerkonferenz – organisierte Unzuständigkeit
Vor dem Hintergrund der Fakten zur menschenrechtlichen Lage in Algerien hat sich die Innenministerkonferenz (IMK) zuletzt im Februar 1998 der Verhängung eines Abschiebungsstops für algerische Flüchtlinge widersetzt. Statt dessen wurde vereinbart, daß es vor jeder Abschiebung nach Algerien eine nochmalige sorgfältige Prüfung des Einzelfalles geben solle. Eine gesetzliche Grundlage hierfür gibt es nicht. Ruth Jüttner, Referat für politische Flüchtlinge bei amnesty international, bezeichnet in ihrem Artikel « Die Abschiebung der Verantwortung » (erschienen in der Zeitschrift inamo Nr. 14/15, Sommer/Herbst 1998) diesen Beschluß der IMK als eine Mogelpackung und beschreibt die Praxis: « In einigen Bundesländern sind es die algerischen Flüchtlinge selbst, die diese besondere Prüfung hinsichtlich der Abschiebungshindernisse beantragen müssen. Sollte das Bundesamt in gewohnter Manier diesen Antrag ablehnen, werden die Akten dem Innenministerium zur Prüfung vorgelegt.
In der Praxis bedeutet diese Vorgehensweise, daß die Akten bei den Innenministerien liegenbleiben (…). Eine behördeninterne Vorgehensweise haben u.a. die Länder Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Bayern gewählt: Hier legen die Ausländerbehörden die Akten dem Innenministerium vor, dieses wiederum leitet sie an das Bundesamt weiter. Weder der betroffene Flüchtling noch sein Rechtsanwalt werden über das Prüfungsverfahren bzw. dessen Ergebnis informiert. Im Fall eines algerischen Flüchtlings aus Oran hat das Bundesamt diese sog. ‘sorgfältige Einzelfallprüfung’ innerhalb von drei Tages durchgeführt. In einem einseitigen, handschriftlichen Fax teilte das Bundesamt lapidar mit, daß keine Abschiebehindernisse vorliegen, der Flüchtling könne gefahrlos nach Algerien zurückkehren. » Noch auf den damaligen Bundesinnenminister Kanther gemünzt war Jüttners Folgerung: « Hier wäre nun der Bundesinnenminister gefordert: Als oberster Dienstherr kann er das Bundesamt anweisen, algerischen Flüchtlingen wegen der Gefahr für Leib und Leben Schutz vor Abschiebung zu gewähren. » Statt einer solchen Weisung schob Kanther jedoch die Verantwortung an die Länderinnenministerien zurück: Sie sollten vor einer Weiterleitung an das Bundesamt selbst ausführlich begründen, warum eine erneute Prüfung durch das Bundesamt überhaupt gerechtfertigt sei.
gez. Bernd Mesovic
Rechtspolitischer Referent