Neuer Elan und grosse Projekte in Oran
Gespräch mit dem Wali in Algeriens zweitgrösster Stadt
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 8. Juni 2001
Das Projekt des algerischen Präsidenten Bouteflika, die Nation zu versöhnen, scheint misslungen zu sein. Die Unterdrückung des Berberaufstands erinnert fatal an Praktiken seiner Vorgänger. Doch in einzelnen Bereichen hat Bouteflika offenbar eine glücklichere Hand gehabt. So hat er kompetente, pragmatische Walis (Präfekten) eingesetzt.
stf. Es gibt ein Algerien, das sich im Kreis dreht, das nicht aus seiner Dauerkrise herauszufinden scheint, ein blockiertes, zerrissenes Land. Und es gibt ein anderes Algerien, wo immer wieder kleine Zeichen von Hoffnung aufleuchten, wo unspektakuläre, aber zukunftsträchtige Veränderungen spürbar werden.
Gewiss: Algerien braucht dringend eine gute Presse. Man bemüht sich mit spürbarem Eifer um Journalisten in der Hoffnung, ein anderes Bild des Landes präsentieren zu können. So wird denn auch der Journalist aus der Schweiz, ohne dies gewünscht zu haben, direkt vom Flugfeld Orans in den «Salon d’honneur» geleitet, wo er in einem voluminösen Fauteuil Platz nehmen darf. Dort wird ihm eröffnet, dass er während seines ganzen Aufenthalts in Oran Gast der Wilaya, der Präfektur, sein werde und dass ihm für Besichtigungen ein Fahrzeug mit Chauffeur zur Verfügung stehe. Mit den zwei Sicherheitsagenten, die ihn, nicht anders als in Algier, auf Schritt und Tritt begleiten, hatte er gerechnet, nicht hingegen mit einem Presseattaché, der seine Anwesenheit sogar bei Interviews für unabdingbar hält. Doch schulterzuckend nimmt man in Algerien Dinge in Kauf, die man andernorts als inakzeptabel zurückweisen würde, und versucht, das Beste aus der Situation zu machen.
Stadtentwicklungsprobleme
Der Wali von Oran, Mustafa Kouadri, erweist sich als redegewandter und charmanter Gesprächspartner. In ausgezeichnetem Französisch beantwortet der Magistrat die Fragen; von der in maghrebinischen Amtsstuben weitverbreiteten floskelhaften, hölzernen Amtssprache, die mehr verschleiert denn erklärt, ist kaum etwas zu spüren. Bestehende Missstände und Probleme werden im Prinzip anerkannt und nicht durch rhetorisches Feuerwerk weggezaubert. Es scheint in der Tat, als habe hier eine neue Generation von Magistraten Einzug gehalten; kompetente, pragmatische Macher, die durchaus in der Lage sein könnten, in diesem riesigen Land die längst fälligen Reformen durchzuführen. Das Gespräch mit dem Wali, der nun seit zwei Jahren im Amt ist, dreht sich anfänglich um Probleme der Stadtentwicklung. Auch Oran leide, wie die andern grossen Zentren Algeriens, unter einem unaufhörlichen Zustrom der Landbevölkerung.
Die Stadt zähle gegenwärtig rund 900 000 Einwohner, die Agglomeration etwa anderthalb Millionen, erklärt Kouadri. Dies führe vor allem in den Randzonen der Stadt zu einer unkontrollierten, anarchischen Bebauung, die aus urbanistischer Sicht unerwünscht sei. Die Zuwanderer vom Land drängten aber auch in die historische Altstadt, wo relativ günstiger Wohnraum zur Verfügung stehe. Gewisse Quartiere der Altstadt befänden sich gegenwärtig in einem prekären Zustand. Um diese Phänomene in den Griff zu bekommen, sei ein Zonenplan mit klaren Bauvorschriften erlassen worden. Die Umsetzung laufe erst langsam an, doch erste Resultate, meint der Wali, seien schon sichtbar. Wenig Konkretes ist über die lokale Ausprägung der Wohnungsnot, eines der zentralen Alltagsprobleme in Algerien, zu erfahren. Auch Oran leide unter diesem Phänomen, doch deutlich weniger als etwa die Hauptstadt, sagt der Wali.
Wir wollen Näheres erfahren über die wirtschaftliche Lage der Region Oran. Hat die petrochemische Industrie von Arsew, rund 40 Kilometer östlich von Oran gelegen, die Region vor schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen bewahrt? Der Industriekomplex von Arsew habe, im Gegensatz etwa zur Schwerindustrie, die wirtschaftliche Umstrukturierung der letzten Jahre in der Tat recht gut überstanden, erläutert Kouadri. Doch in den beiden anderen Industriezonen von Oran, in Es-Senia und Hassi Amer, seien die Auswirkungen der neuen Wirtschaftspolitik sehr wohl spürbar, wenn auch weniger als in anderen Städten. Am stärksten habe die Bauwirtschaft unter der Restrukturierung gelitten; dort seien am meisten Arbeitsplätze verloren gegangen.
Hohe Arbeitslosigkeit
Kouadri betont allerdings, dass die Arbeitslosen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen würden. Sie hätten Anrecht auf eine Arbeitslosenunterstützung, und es werde immer versucht, langjährige Arbeitnehmer in anderen Betrieben unterzubringen. Die Arbeitslosenziffern sind allerdings auch in der Wilaya von Oran dramatisch: Zwischen 27 und 28 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sollen gegenwärtig arbeitslos sein. Diese Zahlen müsse man allerdings mit Vorsicht geniessen, erklärt der Wali. Es handle sich dabei um die Gesamtzahl der Stellensuchenden. Erfahrungsgemäss hätten viele der in den offiziellen Statistiken registrierten Personen bereits eine Stelle angenommen oder seien im informellen Sektor tätig; einem Bereich, den der Staat in Zukunft besser überwachen wolle. Mustafa Kouadri anerkennt dabei durchaus, dass die erschreckend hohe Arbeitslosigkeit eine gewaltige Herausforderung für Algerien sei.
Ein Phänomen, für das Oran immer besonders bekannt war, soll auf jeden Fall deutlich abgenommen haben: der «Trabendo», der Schmuggel von Konsumgütern europäischer oder asiatischer Herkunft. Noch vor wenigen Jahren sei dieser viel umfangreicher gewesen, betont der Wali. In diesem Zusammenhang wollen wir wissen, wie sich denn die Schliessung der Grenze zu Marokko auf die Wirtschaft der Region Oran auswirke. Doch dazu will sich der Präfekt kategorisch nicht äussern. Derartige Fragen mit aussenpolitischen Dimensionen könnten nur in Algier beantwortet werden, stellt der Wali höflich, aber entschieden klar. Die algerische Realität hat uns eingeholt.
Viel Potenzial und zögernde Investoren
Man sei in Oran sehr interessiert an europäischen Investoren und versuche Hindernisse zu beseitigen, betont der Wali. Er räumt allerdings sogleich ein, dass sich die Investoren noch rar machten. Was sind denn für einen Schweizer Investor die Vorteile eines Projekts in Oran? Algerien sei ein Land mit einem riesigen Potenzial, gewissermassen ein jungfräuliches Land, das Investoren viel zu bieten habe, sei es für Projekte in der Landwirtschaft, in der Chemie oder im Tourismus, lautet die reichlich allgemein gehaltene Antwort des Wali. Heute sei bei den Behörden ein echter Wille vorhanden, ausländische Investoren in ihren Projekten tatkräftig zu begleiten und zu unterstützen, unabhängig davon, ob es sich um Direktinvestitionen oder um ausländische Beteiligungen an Projekten handle. Der Terrorismus stelle kein grösseres Problem mehr dar, schon gar nicht in städtischen Zentren wie Oran. Die Sicherheitsfrage erachtet der Wali für ausländische Investoren im Wesentlichen als gelöst.
Die Region von Oran mit dem petrochemischen Industriekomplex von Arsew und einem der weltgrössten Methangas-Häfen soll, so versichern zuverlässige Informanten, mit einer Reihe von schwerwiegenden ökologischen Problemen konfrontiert sein. Zur Versorgung des Industriekomplexes mit den dazu notwendigen gewaltigen Mengen an Kühl- und anderem Brauchwasser habe man in den siebziger Jahren, statt Meerwasser zu entsalzen, Fluss- und Quellwasser aus der weiteren Region zugeführt. Dabei seien Quadratkilometer besten Landwirtschaftslandes zerstört worden. Ohne im Detail auf den Fall der Industrieanlage von Arsew einzugehen – derartige Projekte seien nicht ohne schmerzliche Eingriffe zu realisieren, hält er lakonisch fest -, skizziert der Wali einige grosse Projekte in seiner Präfektur, welche die Umweltsituation verbessern sollen. Zum einen soll noch in diesem Jahr das Kanalisationssystem von Oran mit einer Ringleitung versehen werden, welche die Abwässer der Stadt aufnimmt. Weiter sind zwei grosse Kläranlagen geplant, welche die heutigen ungenügenden oder gar funktionsuntüchtigen Anlagen ersetzen sollen. Die gereinigten Abwässer sollen nicht wie bis anhin ins Meer geleitet werden, sondern zur Bewässerung in der Landwirtschaft dienen. Schliesslich würden die grossen Unternehmen der Region, erläutert der Wali weiter, schon bald verpflichtet werden, sich ans Kanalisationsnetz anzuschliessen oder aber eigene Kläranlagen zu errichten.
Probleme gibt es gegenwärtig auch mit der Trinkwasserversorgung von Oran. Der Präfekt schreibt sie in erster Linie einer seit 15 Jahre andauernden Trockenheit zu. Dazu kämen ein veraltetes Leitungssystem sowie zu wenig Speicherseen. Die Behörden nähmen diese Probleme sehr ernst und hätten die notwendigen Massnahmen ergriffen, erklärt der Präfekt. Unter anderem solle schon bald Wasser aus rund 150 Kilometer Entfernung nach Oran geleitet werden, um dem chronischen Wassermangel im Hochsommer ein Ende zu setzen. «In weniger als drei Jahren», erklärt der Präfekt mit Nachdruck, «wird Oran keine Trinkwasserprobleme mehr haben.» Und er berichtet von weiteren Projekten, die in nächster Zeit mit ausländischer Beteiligung in Angriff genommen werden sollen: ein Kongresszentrum, ein neues Spital und ein Fünfsternhotel.
Die Ausführungen des Präfekten bleiben in mancher Hinsicht vage. Die Prognosen bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung wirken etwas gar optimistisch, und bei den Projekten zur Behebung der Umweltprobleme handelt es sich wohl um rein technokratische Lösungsversuche, die andernorts neue Probleme schaffen dürften. Der Eindruck bleibt immerhin, dass hier ein hoher staatlicher Funktionär zumindest über ein geschärftes Problembewusstsein verfügt, was weder in Algerien noch andernorts im Maghreb vorausgesetzt werden darf.