Algeria-Watch: Text
Offener Brief an die französische Regierung
Außenminister Védrine und das Blutbad in Algerien
Erschienen in Frankfurter Rundschau vom 14. Februar 2001 in leicht gekürzter Form unter dem Titel: Ausgemachte Komplizenschaft.
Ein Besuch des französischen Außenministers in Algerien ist für den 13. Februar vorgesehen. Zwar wird es dabei wahrscheinlich vor allem um internationale Fragen gehen. Vor dem aktuellen Hintergrund aber erhält diese Visite eine ganz besondere Bedeutung. Unmittelbar auf die Aufenthalte zweier anderer französischer Minister – der Staatsministerin für Tourismus und des Innenministers – folgend, wirft dieser Besuch zahlreiche Fragen auf.
Algerien ist seit über neun Jahren Schauplatz eines grauenvollen Krieges und massiver Menschenrechtsverletzungen: Tausende von Menschen wurden entführt und gelten seither als verschwunden; Folter wird von den Sicherheitskräften als systematische Praxis eingesetzt; Massaker im großen Ausmaß, offiziell bewaffneten islamistischen Gruppen zugeschrieben, werden an der Zivilbevölkerung verübt. Dieser Krieg hat Schätzungen zufolge 200 000 Menschenleben gefordert, und die Zahl der Verschwundenen beläuft sich auf 10 000 bis 20 000. Etwa eine halbe Million Menschen sind aus dem Land geflohen. Die massive inländische Fluchtbewegung aufgrund der Sicherheitslage und der Zwangsvertreibungen betrifft eine noch größere Bevölkerungszahl.
Zahlreiche Zeugnisse lieferten Belege dafür, daß ein Großteil dieser Menschenrechtsverletzungen von Sicherheitskräften verübt wurde. Darüber hinaus wird weder die Zivilbevölkerung geschützt, noch werden die Verantwortlichen für die Verbrechen verfolgt. Und eine ernsthafte gerichtliche Untersuchung ist bislang noch nie angestrengt worden.
Immer mehr Anhaltspunkte bestätigen die These, daß die höchsten Ebenen des Staatsapparates in die Massaker und das Verschwindenlassen verstrickt sind. Zwei kürzlich in Frankreich erschienene Bücher erheben schwerwiegende Anschuldigungen gegenüber der algerischen Militärführung. Nesroulah Yous, ein Überlebender eines der grausamsten Gemetzel im Sommer 1997, dem 400 Menschen zum Opfer fielen, ist der Verfasser von Qui a tué à Bentalha? (Wer tötete in Bentalha?). Er beschreibt die Umstände dieses Mordens in allen Einzelheiten. Obwohl sich Militäreinheiten in unmittelbarer Nähe befanden, griffen diese nicht ein, um die Angreifer an ihrem Tun zu hindern und die Bevölkerung zu schützen. Es gibt viele Hinweise dafür, daß dieses Massaker ohne die aktive Verwicklung von Teilen der Sicherheitskräfte nicht hätte stattfinden können.
Das zweite Buch La sale guerre (Der schmutzige Krieg) stammt von Habib Souaidia, einem ehemaligen Offizier der Spezialkräfte, der von 1992 bis 1995 an der Terrorismusbekämpfung beteiligt war. Dieses Zeugnis enthält konkrete und eindeutige Beweise für diese aktive Beteiligung der Sicherheitskräfte. Der Autor beschreibt die Methoden der Armee bei einem Vorgehen, das sich als eine perfekte Strategie des Terrors entpuppt: Massenverhaftungen, Durchkämmungsoperationen, Folterungen, extralegale Hinrichtungen von mutmaßlichen Islamisten sowie von einfachen Bürgern und Massaker an Dorfbewohnern, die anschließend den bewaffneten Gruppen zugeschrieben werden…
Durch diese Zeugnisse wird die lange vermutete Verstrickung der Militärführung in Verbrechen gegen die Menschheit und die Unterhaltung des islamistischen Terrors so nachdrücklich belegt, daß damit die Forderung nach der Entsendung einer internationalen Untersuchungskommission, die seit Jahren von der internationalen Gemeinschaft abgelehnt wird, nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Es wäre Selbstbetrug, die durch so vieler Zeugnisse gesammelten Tatsachen unter dem Vorwand, sie stellten keine rechtskräftigen Beweise dar, nicht anerkennen zu wollen.
Wie sollten denn auch solche Beweise geliefert werden, wenn verlässliche Untersuchungen gar nicht möglich sind? Und wie sollte eine unabhängige und unparteiische Untersuchung unter Bedingungen durchgeführt werden, in denen Recht und Gesetz mißachtet werden? Diesbezüglich ist Algerien keine Ausnahme. Und es müssen die gleichen Prinzipien des internationalen Rechts angewandt werden wie im Zusammenhang mit anderen Diktaturen (Chile, Argentinien, El Salvador, Guatemala, etc.)
Wie im Falle jener Länder sind Demokratie und Rechtsstaat auch in Algerien nur möglich unter der Voraussetzung einer politischen Lösung des Konfliktes, und zwar durch einen von klaren Regeln bestimmten Dialog, der keine der politischen Strömungen ausschließt, die den Einsatz von Gewalt ablehnen. Die verschiedenen Anstrengungen des algerischen Staates, deren jüngste die « zivile Eintracht » ist, kommen dieser Notwendigkeit nicht nach und tragen daher eher dazu bei, Undurchsichtigkeit und Konfusion zu vergrößern, Spannungen zu verschärfen, das Ausmaß der Gewalt zu erhöhen und die Straflosigkeit festzuschreiben.
Dieser extrem verschärften Situation sind die üblichen zurückhaltenden Verurteilungen der Gewalt und die allgemeinen Deklarationen über die Einhaltung der Menschenrechte längst nicht mehr angemessen. Vor dem jetzigen Hintergrund darf man sich nicht mit « vorsichtigem diplomatischen Druck » begnügen: Das Blutbad muß umgehend beendet werden. Und die Verantwortlichen, wer sie auch immer seien, müssen strafrechtlich belangt werden.
Hat die französische Regierung nicht schon viel zu lange die algerische Politik unterstützt, eine Politik, die unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung in Wirklichkeit nichts anderes darstellt als die politische und physische Ausmerzung jeglicher Opposition, was faktisch einer Massenvernichtung der Zivilbevölkerung gleichkommt? Frankreich kommt eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Kriegsmaschinerie in Algerien zu. Dem französischen Einsatz für Abbau und Umschuldung der Auslandsschulden gegenüber dem IWF und den Clubs von Paris und Rom 1994 ist es maßgeblich zu verdanken, daß politische Auflagen vermieden und so der « totale Krieg » finanziert werden konnten. Frankreich hat zudem hochentwickelte Waffensysteme an Algerien geliefert und algerische Offiziere in elektronischer Kriegführung sowie Elitetruppen für schnelle Eingriffe ausgebildet, die – so berichtet Habib Souaidia – an den grauenhaftesten Übergriffen und Massentötungen teilnahmen.
Darüber hinaus macht die im Januar erfolgte Unterzeichnung einer Konvention zur Terrorismusbekämpfung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Algerien noch vor dem Abschluß der Verhandlungen über einen Assoziationsvertrag, der die Einhaltung der Menschenrechte und die Förderung demokratischer Prinzipien beinhaltet, deutlich, daß Algerien im Widerspruch zu den Grundsätzen der Erklärung von Barcelona immer noch eine Vorzugsbehandlung genießt.
Während in Frankreich endlich eine breite öffentliche Debatte über die systematische Folter während des algerischen Befreiungskrieges begonnen hat, welche die Verantwortung der damaligen französischen politischen Führung, die den Einsatz der Folter mit der « Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung » rechtfertigte, aufgezeigt hat, rechtfertigt heute die selbe politische Klasse die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen auf algerischem Boden.
Der französische Staat und die französische Diplomatie haben bis heute eine aktive und tatkräftige Rolle gespielt, um eine Verurteilung Algeriens und die Entsendung von Sonderberichterstattern zu verhindern. Die Eröffnung der nächsten Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen steht unmittelbar bevor. Angesichts des Umfangs und der Schwere der vorliegenden Tatsachen müßte Algerien nicht nur streng verurteilt, sondern müßten zudem Berichterstatter für Menschenrechte der UNO umgehend entsandt werden.
Die beiden Bücher (erschienen im renommierten Verlag La Découverte, Paris) sind Elemente einer erdrückenden Aktenlast, die sich aus einer Vielzahl seit Jahren gesammelten, gut dokumentierten Zeugnissen und Berichten zusammensetzt. Auch wenn hier nur die Europa direkt betreffenden Fälle genannt werden, so ist die Verstrickung der algerischen Sicherheitsdienste durch Zeugnisse und Analysen doch hinreichend belegt (Entführung der französischen Konsulatsangestellten in Algier; Ermordung der Mönche des Klosters Tibehirine, der sieben italienischen Seeleute, des Bischofs von Oran Mgr. Claverie; Enthüllungen der britischen Justiz über die Verstrickung des algerischen Geheimdienstes in terroristische Operationen in Europa; umstrittene Prozesse von mutmaßlichen islamistischen Terroristen in Frankreich, usw.), um Fragen über die Passivität und das Schweigen der EU-Mitgliedsstaaten aufkommen zu lassen.
Die Reise des französischen Außenministers im Vorfeld der Sitzung der Menschenrechtskommission läuft Gefahr, ein Regime, das für die schlimmsten Verbrechen verantwortlich ist, zu legitimieren und all jene mundtot zu machen, die dafür kämpfen, dass die Wahrheit ans Licht kommt und in Algerien Frieden und Gerechtigkeit wieder hergestellt werden.
Während die algerischen Machthaber gegen jede Einmischung laut protestieren, wenn von ihnen die Einhaltung ihrer Verpflichtungen bezüglich der Achtung der Menschenrechte eingefordert wird, scheuen sie nicht im geringsten davor zurück, die Hilfe und Unterstützung ihrer ausländischen Partner in Anspruch zu nehmen, um ihre Politik der Ausrottung und der Verweigerung elementarster Rechte durchzusetzen.
Wir appellieren mit allem Nachdruck an die französische Regierung, auch um ihr zu sagen, daß es viele Menschen gibt in Algerien, Frankreich und Europa, die davon überzeugt sind, daß ihre Algerienpolitik nicht mehr nur einfach als normale Beziehung zwischen zwei Staaten gelten kann, sondern als ausgemachte Komplizenschaft bei Verbrechen gegen die Menschheit.
Übersetzung: algeria-watch (www.algeria-watch.org)
Die Unterschriften werden der Menschenrechtskommission der UNO Ende März überreicht, um die Forderung nach der Entsendung einer internationalen Untersuchungskommission in Sachen Menschenrechtsverletzungen (insbesondere Massaker) zu bekräftigen.
Bitte verbreitern, die Unterschriften werden bei algeria-watch gesammelt: Ich unterzeichne
Französische Fassung des offenen Briefes und Unterschriftensammlung
Unter den ErstunterzeichnerInnen:
ErstunterzeichnerInnen: Pierre Bourdieu (Professor für Soziologie), François Gèze (Verleger, La Découverte), Alain Joxe (Politologe), Jeanne Kervyn (Soziologin); Gema Martin-Munoz (Professorin in Politikwissenschaften), Salima Mellah (Journalistin); Véronique Nahoum-Grappe (Anthropologin), Werner Ruf (Professor für Politikwissenschaften), Fatiha Talahite (Ökonomin), Brahim Taouti (Rechtsanwalt), Pierre Vidal-Naquet (Historiker)