Wer tötet wen in Algerien?

Wer tötet wen in Algerien?

Diskussion über schwer zugängliche Konfliktgebiete in Genf

Neue Zürcher Zeitung AUSLAND Dienstag, 19.05.1998

Wok. An einem vor kurzem in Genf abgehaltenen Symposium zum Thema Menschenrechte, Hilfsaktionen und Journalismus in schwer zugänglichen Konfliktgebieten ist das Fallbeispiel Algerien ausführlich zur Sprache gekommen. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Internationalen Zentrum für humanitäre Berichterstattung (ICHR), einer unabhängigen Organisation, die im Umfeld der Uno und der unzähligen in Genf domizilierten Nichtregierungsorganisationen eine Koordinationsfunktion ausübt.

Einer der wenigen in Algier stationierten ausländischen Korrespondenten, der Spanier Marc Margindeas, schilderte eindrücklich die Schwierigkeiten einer unabhängigen Berichterstattung. Für die algerische Regierung seien ausländische Journalisten ein Thema der nationalen Sicherheit. Aus diesem Grund sei es beinahe unmöglich, sich im Lande ohne Sicherheitseskorte zu bewegen. Dies habe zur Folge, dass wirklich offene Informationsgespräche kaum möglich seien. Im allgegenwärtigen Klima der Unsicherheit und des diffusen Terrors äussere kaum jemand seine Meinung im Beisein von Vertretern der staatlichen Sicherheitskräfte. Als Beweis für die effiziente Kontrolle der nach aussen gelangenden Informationen nannte Margindeas das Beispiel der Massaker westlich von Algier während des Ramadan. Trotz Hunderten von Todesopfern seien nur sehr wenig Bilder dieser grauenhaften Schlächtereien an die Aussenwelt gelangt. Der Präsident von ICHR, Edward Girardet, bemerkte zu Recht, dass im Vergleich mit andern schwer zugänglichen Konfliktgebieten die in Algerien stattfindenden Grausamkeiten wegen der mangelhaften Berichterstattung kaum zur Kenntnis genommen werden.

Anders beschrieb die algerische Journalistin Dhaka Dredi die Situation. Die Berichterstattung über Massaker bezeichnete sie als Routine. Normalerweise habe sie keine Schwierigkeiten, nach den schrecklichen Schlächtereien mit überlebenden Dorfbewohnern zu sprechen. Ihre Berichterstattung unterliege staatlicher Zensur, und wie alle andern Journalisten in Algerien auferlege sie sich auch eine gewisse Selbstzensur. Dennoch seien in den algerischen Medien immer noch wahrheitsgemässe Berichte zu lesen. Besonders das staatliche Fernsehen zeige in letzter Zeit eine erstaunliche Offenheit, etwa mit Diskussionsrunden zum Thema, ob Ärzte berechtigt seien, verwundete Terroristen zu pflegen. Die Situation sei aber insofern schizophren, so Dredi, als die Bevölkerung ihren eigenen Journalisten längst nicht mehr glaube und für Nachrichten über ihr Land auf ausländische TV-Stationen umschalte.

Der algerische Menschenrechtsanwalt Mohammed Tahri wies darauf hin, dass seit Ausbruch der Gewalttätigkeiten in Algerien 58 Journalisten ermordet wurden. In den meisten Fällen sei die Urheberschaft unklar. Ohne direkt das Regime anzuklagen, betonte der Anwalt dennoch, dass die Politik dahin gehe, über sämtliche Untaten den Schleier der Anonymität zu senken. So seien zahlreiche Untersuchungen über Morde an Journalisten und Menschenrechtsaktivisten verschleppt oder gar nicht erst aufgenommen worden.

Einige Erregung entstand im Saal, als verschiedene Vertreter aus dem Umfeld des Front Islamique du Salut (FIS) den Medien Fehlinformation vorwarfen. Das Problem sei, so lautete einer der Vorwürfe, dass sowohl ausländische wie frankophone algerische Journalisten in den Slums und im Hinterland Algiers sich wie im Ausland bewegten und keine Ahnung von den tatsächlichen Verhältnissen hätten. Darum werde automatisch die Schuld an allen Morden radikalen Islamisten in die Schuhe geschoben. Tatsache sei aber, dass in vielen Fällen Angehörige der Sicherheitskräfte unschuldige Dorfbewohner niedermetzelten. In der folgenden, äusserst engagiert und leidenschaftlich geführten Diskussion ergab sich der Konsens, dass die Forderung nach einer internationalen Kommission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in Algerien trotz der ablehnenden Haltung der Regierung endlich erfüllt werden müsse.