Mehrfrontenkampf des algerischen Regimes

Mehrfrontenkampf des algerischen Regimes

Neue Unruhen in der Kabylei – Zeitungsstreik in Algier

NZZ, 29. Mai 2001

Algeriens Präsident Bouteflika hat den Anstiftern der Unruhen in der Region Kabylei harte Strafen angedroht. Einmal mehr waren dort am Wochenende bei Unruhen Personen ums Leben gekommen. Die privaten Zeitungen sind am Montag nicht erschienen – aus Protest gegen schärfere Strafen für die Verleumdung staatlicher Amtsträger.

Präsident Bouteflika hat am Sonntag in Algier den Anstiftern der Unruhen in der Kabylei mit scharfen Strafen gedroht. Da er damit nicht nur die Provokateure und Todesschützen der Gendarmerie meinte, sondern auch die berberischen Demonstranten, wird diese Ankündigung kaum zur Beruhigung der Lage beitragen. Bouteflika erklärte, die Strafverfolgung werde auf den Bericht der von ihm einberufenen Nationalen Untersuchungskommission abstellen. Die Kommission wird vom berberischen Juristen Mohand Issad geleitet, aber Sprecher der Kabylen haben bereits erklärt, dass sie nicht mit ihr zusammenarbeiten würden. Nach der weitgehend friedlichen Grossdemonstration mit einer halben Million Teilnehmern vor einer Woche in der Hauptstadt der Grossen Kabylei, Tizi Ouzou, ist es gegen Ende der Woche in mehreren Städten der Kabylei zu neuen Zusammenstössen zwischen jugendlichen Demonstranten und der Gendarmerie gekommen. Mindestens sechs neue Todesopfer, unter ihnen auch ein Gendarm, wurden gezählt. Das Innenministerium gibt die Zahl der Toten seit dem Ausbruch der Unruhen Mitte April inzwischen mit 51, diejenige der Verwundeten mit 1300 an. In den Zeitungen ist dagegen von bis zu 80 Toten die Rede.

Marginalisierte Berberparteien

Die Grossdemonstration war von neu gebildeten Quartier- und Dorfkomitees, die sich mit Hilfe einer Lehrergewerkschaft zu einer « Koordination » zusammengeschlossen hatten und den Abzug der Gendarmerie aus der ganzen Region fordern, organisiert worden. Die beiden Berberparteien, das Rassemblement pour la culture et la démocratie (RCD) und der Front des forces socialistes, sind damit marginalisiert worden. Das RCD verliess Anfang Mai mit seinen zwei Ministern die Regierungskoalition, um nicht alle Glaubwürdigkeit unter seinen Anhängern zu verlieren. Der FFS richtete einen unrealistischen Appell an die Machthaber für einen « demokratischen Wandel », um Präsenz zu markieren. Die international bekannte RCD-Abgeordnete Khalida Messaoudi, die sich für Frauenrechte eingesetzt hatte, gab ihren Posten als Beraterin des Präsidenten – vorwiegend eine Albi-Funktion – auf. Sie will sich ganz aus der Politik zurückziehen, nachdem sie in Tizi Ouzou von jugendlichen Demonstranten tätlich angegriffen worden war.
Eine Delegation des Europäischen Parlaments zu Besuch in Algier hat in der vergangenen Woche den Aufruhr in der Kabylei als gewohnten kulturellen Protest der Berber missdeutet und damit ganz im Sinne des Regimes reagiert, welches diese und ähnliche Interventionen als ausländische Einmischung und als Anschlag gegen die nationale Einheit verurteilen konnte. Die Europäische Union muss aber noch in diesem Jahr klarer zur Situation der Menschenrechte in Algerien Stellung nehmen, wenn die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens fällig wird.

Wechselnde Allianzen

Die mehr oder weniger unabhängigen privaten Zeitungen von Algier sind am Montag nicht erschienen – aus Protest gegen die neuen Bestimmungen im Strafgesetz, welche die Verleumdung von staatlichen Institutionen, Beamten und Würdenträgern mit hohen Gefängnisstrafen und unerschwinglichen Geldbussen ahnden. Unliebsame Journalisten und Zeitungen könnten damit leicht zum Schweigen gebracht werden. Ein Krisenkomitee der Zeitungsherausgeber hat zugleich in mehreren Städten, auch in der Kabylei, Protestversammlungen organisiert. Die Strafbestimmungen waren am 16. Mai vom Parlament gebilligt worden, mit den Stimmen des Rassemblement national démocratique und der ehemaligen Einheitspartei, des Front de libération nationale (FLN). Alle anderen Parteien stimmten dagegen, einschliesslich die gemässigten Islamisten, weil das willkürliche Verleumdungsdelikt nicht nur Artikel und Karikaturen erfasst, sondern auch subversive Predigten in den Moscheen. Gegen die anstehende Erziehungsreform kämpft umgekehrt eine Allianz von FLN-Nationalisten und Islamisten, da sie ihnen zu westlich-modern ist.