Erinnerung ohne Reue
Massenmord und Folter – die späte Debatte über die Verbrechen im Algerienkrieg spaltet Frankreich
Von Jacqueline Hénard, Die Zeit, 50/2000
Marcel Bigeard ist ein Haudegen, der die Welt nicht als Tourist kennen gelernt hat: Widerstandskämpfer aufseiten de Gaulles, nach 1945 dreimal in Indochina, lange in Algerien, später in Schwarzafrika. Wenn der General a. D. Bigeard den Mund aufmacht, sucht er nicht nach höflichen Wortverkleidungen: Die Folter im Algerienkrieg sei « ein notwendiges Übel » gewesen. Es gab einen Befehl, dem musste gehorcht werden, basta. Für Männer wie Jacques Massu, seinen Vorgesetzten von damals, der jetzt öffentlich sein schlechtes Gewissen ausgebreitet hat, empfindet Bigeard nur gereizte Verachtung: « Diese Leute sollen sich ruhig ein bisschen auskotzen. »
Seit einem halben Jahr wächst in Frankreich eine Debatte über Massu, Bigeard und die Foltermethoden der französischen Armee in Algerien heran. Ausgelöst hat sie ein kleiner Bericht in Le Monde über eine Frau mit dem Decknamen « Lila ». 1957, während der Schlacht von Algier, war sie Mitglied eines Kommandos der Befreiungsbewegung FLN. Ende September nahm das französische Militär die damals 20-jährige Frau fest. Drei Monate lang wurde Lila im Hauptquartier der 10. Fallschirmjägerdivision gefoltert, bis ein Militärarzt sie fand und sie, entsetzt über ihre Verwundungen, sofort ins Krankenhaus transportieren ließ.
40 Jahre lang hat Lila ihrem französischen Retter danken wollen. Sie hat den Arzt, von dem sie nur den Namen wusste, über seinen Tod hinaus gesucht, wie Le Monde wenig später herausfand: Er war 1997 in Südfrankreich gestorben.
Die beschuldigten Generäle hingegen sind noch am Leben. Mit Fernseh- und Zeitungsinterviews sind sie seit dem Tag, an dem der erste Artikel erschien, wie die Gespenster einer verdrängten Vergangenheit in die mediale Mitte der französischen Gesellschaft zurückgekehrt. Reulos-unerschüttert der 84-jährige Bigeard, grüblerisch der 92-jährige Massu: Er frage sich immer noch, wer eigentlich die Order zum Aufbau von Sondereinheiten zur systematischen Folterung von allen verdächtigen Algeriern gegeben habe – Algier oder Paris, Zivil- oder Militärkommando. An eine gewisse Lila kann er sich übrigens nicht erinnern. Ganz wie Bigeard.
Die Grausamkeiten des französischen Kolonialregimes, die mörderische Rache der Algerier: neu ist das nicht. Dennoch lösten Lilas Geschichte und die Geständnisse der Generäle erst einmal eine öffentliche Polemik um längst bekannte Tatsachen aus: über die Gestapo-ähnlichen Methoden der Besatzer (Elektroschocks, Vergewaltigungen, Untertauchen in Fäkalienbrühe) wie die Bombenanschläge und Attentate der Besetzten. Die Erinnerung ist gespalten, nicht nur zwischen Franzosen und Algeriern, sondern auch unter den Franzosen selbst. Hart auf hart treffen die Geschichtsbilder aufeinander, Erinnerung steht gegen Erinnerung, und immer spielt aktuelles politisches Kalkül hinein.
Warum drängt ausgerechnet die kommunistische Partei Frankreichs so hartnäckig auf die historische Wahrheit, als ob ihr herausragendes Erbe die demokratische Aufklärung sei? Warum fordert sie als Einzige einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss? Aus Verzweiflung, weil sie kein Programm mehr hat und bei den nächsten Wahlen auf die Stimmen dankbarer Kinder von algerischen Einwanderern spekuliert?
Der hilfreichste Beitrag zu dieser Frage kam vom Schriftsteller Jean-Marie Rouart: Er könne sich nicht gegen die Kommunisten ereifern, schrieb er in einer Tribüne für die konservative Tageszeitung Le Figaro, da sie in diesem Fall einfach Recht hätten. Frankreich könne sich nicht immerzu als Hüter der universellen Menschenrechte aufspielen, im Fall Pinochet und Milocevic laut eine Aufarbeitung durch die Jutiz fordern, aber seiner eigenen Generalität das öffentliche Geständnis schwerster Verstöße gegen die Menschenrechte durchgehen lassen: etwa das von General Paul Aussaresses, zeitweilig Geheimdienstchef in Algier, der in einem Zeitungsinterview freimütig erzählte, er habe persönlich und ohne jedes Verfahren 24 Menschen ermordet.
Ein Teil der französischen Gesellschaft beginnt erst jetzt, die Verstrickung ihres Staates und seiner politischen Eliten im Algerienkrieg in allen ihren Dimensionen zu begreifen. Sicher, französische Schulbücher erwähnen die Folter in den Kasernen, aber sie sprechen im selben Atemzug von den Erfolgen der Armee – als lasse sich das eine gegen das andere aufwiegen. Manch pensionierter Offizier hat sich die erlebten Gräuel schon vor Jahren in seinen Memoiren von der Seele geschrieben, ohne dass es einen öffentlichen Aufschrei gegeben hätte. Doch die offizielle Antwort auf Fragen oder Kritik lautete stets: Alle diese unangenehmen Vorfälle fielen unter die Amnestieklausel der Verträge von Evian, mit denen Frankreich und die FLN am 19. März 1962 die Gründung eines algerischen Staats besiegelt hätten. Punkt, aus. Inzwischen aber fragen sich immer mehr Franzosen, ob die systematische Folter der Armee in Algerien nicht doch ein « Verbrechen gegen die Menschlichkeit » im Sinne des Kriegsvölkerrechts war, das vor Gericht aufgearbeitet werden könnte – und müsste.
Der jüngste Anschub für diesen Bewusstseinswandel reicht drei Jahre zurück. Damals stand der einstige Präfekt von Bordeaux, Maurice Papon, wegen Beihilfe zur Ermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg vor Gericht. Papon war der Archetypus des hohen Beamten, dessen Karriere trotz seiner erwiesenen Kollaboration mit den Nationalsozialisten nach Kriegsende bruchlos weiterging – etwa als Polizeipräfekt von Paris, wo er am 17. Oktober 1961 das Massaker gegen algerische Demonstranten zu verantworten hatte. 11 538 Menschen, so die offizielle Zahl, wurden in jener Nacht verhaftet, verprügelt und teilweise tagelang in einem Sportstadion festgehalten. Am nächsten Morgen trieben Leichen in der Seine. Bis zu 300 Algerier, so wird geschätzt, sind damals von der Polizei ermordet worden.
Die französischen Zeitungen haben dem Papon-Prozess monatelang zu jedem Verhandlungstag umfangreiche Reportagen und didaktische Artikel zur Zeitgeschichte gewidmet. Wenn die Vorkommnisse im Gerichtssaal nichts hergaben – etwa während Papons Lungenentzündung -, wichen sie auch schon mal auf Randgebiete aus. So hat eine ganze Generation von Lesern, die nach dem Krieg geboren sind, das Vichy-Regime und die Entkolonialisierung Algeriens am konkreten Fall Papon als eng verquickte Geschichte kennen gelernt.
Wie sollen sie nun die Reaktion des sozialistischen Premierministers Lionel Jospin begreifen? Im Juni 1999 hatte er ein Gesetz der Nationalversammlung gutgeheißen, wonach der Einsatz der Armee in Algerien fortan auch offiziell als « Krieg » bezeichnet werden soll – statt wie bisher als « Maßnahme zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit ». Jetzt aber wirkt Jospin, der doch immer wieder die Rehabilitation der Politik durch die Moral gepredigt hat, auf einmal erstaunlich zaghaft: keine Rede von offizieller Distanzierung von der staatlich sanktionierten Folter.
Eine Entschuldigung der Franzosen ist nicht zu erwarten
Zu groß ist die Gefahr, dass eine öffentliche Buße für die Untaten der Vergangenheit peinliche Konsequenzen für die Gegenwart hätte. Die Sozialisten waren tief in den Aufbau des Foltersystems in Algerien verstrickt – im entscheidenden Moment, während der Schlacht von Algier 1957, war der Sozialist Guy Mollet Regierungschef. Ein anderer Parteigenosse, der später zu höchsten Ämtern aufstieg, war kurz zuvor als Innenminister für die Polizei verantwortlich – François Mitterrand. Kein Wunder, wenn Jospin hilflos von der Notwendigkeit « objektiver Erklärungs- und Verständnisarbeit » spricht und gelobt, es werde künftig « besseren Zugang zu den Archiven für Historiker » geben.
Diese späte Einsicht Jospins hinkt der Wirklichkeit hinterher. Denn längst hat die französische Geschichtsforschung angefangen, die Tabuzonen der französisch-algerischen Beziehungen zu untersuchen. Dieser Tage veröffentlicht eine junge Historikerin, Raphaelle Branche, die Ergebnisse mehrjähriger Recherchen – auch in den bislang verriegelten Archiven des Verteidigungsministeriums – über Folter in Algerien. Eine andere gründliche Arbeit über das nicht minder brisante Thema der Deserteure steht kurz vor dem Abschluss.
Unter den Akademikern, die sich mit den französisch-algerischen Beziehungen beschäftigen, ist der Bewusstseinswandel schon vollzogen, der in der Politik noch auf sich warten lässt. Bei Kolloquien zum Algerienkrieg sitzen französische und algerische Historiker nebeneinander. Gerade hat das renommierte Pariser Institut für Zeitgeschichte zum zweiten Mal in fünf Jahren eine große, mehrtägige Konferenz mit gemischten Podien und gemischtem Publikum ausgerichtet.
Eine einseitige Reuebekundung des französischen Staats allerdings, wie sie die Kommunisten und eine Reihe von französischen Intellektuellen fordern, wird von vielen Kommentatoren strikt abgelehnt. Eine offizielle Entschuldigung, sagen sie, würde nur jene politische Geburtslegende legitimieren, wonach das sozialistische Regime des unabhängigen Algerien die zwangsläufige Folge einer brutalen Kolonialherrschaft gewesen sei. Schlimmer noch: Sie könnte missbraucht werden, um den Bürgerkrieg der algerischen Führung gegen die eigene Bevölkerung zu rechtfertigen. Und dann sind da noch die französischen Kinder algerischer Einwanderer, deren schwierige Integration mit einem solchen Bekenntnis nicht leichter gemacht würde.
Hunderttausende sind es, die mit dieser schwierigen doppelten Identität leben. Ihre Väter sind trotz Krieg und nationaler Unabhängigkeit als Wanderarbeiter in das Wirtschaftswunderland Frankreich gezogen und dort geblieben, ganz unten in der Gesellschaft. Für die Heimat der Fantasie, das gelobte neue Algerien, haben die Familien jahrelang Revolutionssteuern an den örtlichen FLN-Vertreter gezahlt. Aber warum sollte den Kindern die Orientierung als französische Staatsbürger eigentlich schwerer fallen, wenn ihr Staat jetzt das Unrecht der Folter an den Vätern eingesteht?
(c) DIE ZEIT 50/2000