Behält Algeriens Militär die Fäden in der Hand?
Interview mit Professor Werner Ruf, Junge Welt, 13. April 1999
(Der 61jährige lehrt an der Universität Gesamthochschule Kassel mit dem Schwerpunkt internationale Beziehungen. Der Politikwissenschaftler ist Autor zahlreicher Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und des Systems der Vereinten Nationen, ferner Autor mehrerer Aufsätze und Bücher zu Nordafrika. 1997 ist das Buch »Die algerische Tragödie« im agenda- Verlag, Münster, erschienen)
F: Am Donnerstag werden in Algerien – mitten im Krieg mit schätzungsweise 80 000 bis 150 000 Toten seit 1992 und mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise – Präsidentschaftswahlen abgehalten. Abdelaziz Bouteflika, ehemals Außenminister unter Boumedienne, gilt als Wunschkandidat des Militärs. Er hat sich, wie fast alle Kandidaten, für einen Dialog mit den gemäßigten Islamisten ausgesprochen. Andere sind sogar für eine Wiederzulassung der FIS eingetreten. Geben solche Signale Hoffnung auf Frieden?
Darauf deutet nichts hin, denn wie auch immer der Präsident heißen wird, er wird abhängig sein von dem, was man in Algerien die »reale Macht« nennt, die sich zusammensetzt aus der Staatsbürokratie und dem Militär. Der Krieg dient mehreren Interessen. Das Militär und der Clan an der Macht brauchen ihn, um sich nach außen zu legitimieren. Die Banditen der GIA, die Todesschwadrone, die die Barone des Regimes befehligen oder steuern und die rund 200 000 vom Militär bewaffneten und teilweise zu Banditen verkommenen Selbstverteidigungsmilizionäre brauchen den Krieg als Geldquelle und Geld-Waschanlage.
Auch die Äußerungen von Bouteflika lassen nicht auf Veränderungen hoffen, denn die Islamisten, die er offenbar mit den gemäßigten meint, sitzen seit Jahren im Kabinett. Wenn das Regime wirklich mit Islamisten über eine friedliche Lösung des Konflikts verhandeln wollte, müßte es sich an die FIS (Front islamique du salut) wenden. Also was soll das Angebot? Wenn man in dem Klischee denkt, daß das algerische Regime alles dran setzt, den Islamismus zu bekämpfen, vergißt man, daß die Regierungen und das Militär immer mit jenen Islamisten paktiert haben, die sich mit den Brotkrumen zufrieden gaben, die ihnen das Regime hinwarf.
Die Ex-Hamas von Mahfoudh Nahnah, die heutige MSP, hat niemals die reale Macht beansprucht, sie hat nie gestört. Dafür durfte sie sich wählen lassen, dafür durften ihre sieben Minister in der Zeroual-Regierung sitzen. Islamisten wie die FIS dagegen wurden verboten. Damit ist nicht gesagt, daß die Islamisten, aus welcher Partei oder Richtung sie auch immer stammen, per se demokratisch wären. Aber die FIS erhielt bei den Parlamentswahlen 1991 die meisten Stimmen. Das Regime reagierte darauf nicht mit einer politischen Auseinandersetzung, sondern mit dem Putsch.
F: Jetzt, vor der Wahl am Donnerstag, hat das Militär angekündigt, jedes Ergebnis zu respektieren. Wie glaubwürdig ist dieses Versprechen?
Letztlich wird die Haltung des Militärs davon abhängen, für wie gefährlich ein neuer Präsident für die »reale Macht« eingeschätzt wird. Denn seit die FIS verboten ist, toleriert das Militär die Wahlergebnisse, weil keine andere Partei die »reale Macht« jemals so herausgefordert hat wie die FIS. Man kann sicher sein, daß im Vorfeld der Wahlen mit den Kandidaten Bedingungen ausgehandelt worden sind, damit diese das gewünschte Ergebnis liefern. Das Militär wird die Fäden in der Hand behalten.
F: Von anfangs etwa 40 Präsidentschaftskandidaten sind heute sieben übrig geblieben. Die restlichen scheiterten an der Verfassung und am Wahlgesetz. Die Kandidaten mußten beispielsweise mindestens 75 000 Unterstützer nachweisen, was etwa Louisa Hanoune von der trotzkistischen »Partie des Travailleurs« (PT), einer vehementen Verfechterin eines Dialoges mit der FIS und Kritikerin des Regimes, nicht gelang. Mahfoudh Nahnah konnte seine aktive Teilnahme am Unabhängigkeitskampf nicht belegen. Wurden diese Restriktionen mit dem Ziel in Kraft gesetzt, potentielle Herausforderer des Regimes vorab kaltzustellen?
Eindeutig ja. Es geht darum, die alte Garde, diejenigen, die immer im Dunstkreis der Macht standen, den Algeriern als einzige zu präsentieren, die überhaupt für eine Wahl in Frage kommen. Bei Louisa Hanoune sagte man, sie habe die 75 000 Unterschriften nicht zusammengebracht, aber das ist doch sehr merkwürdig, weil die PT bei den Parlamentswahlen 1997 vier Sitze errang. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß die Unterschriftenlisten manipuliert wurden, zumal nicht nur in Algerien Unterschriften gesammelt wurden, sondern auch von den in Frankreich lebenden Algeriern, unter denen die PT eine relativ breite Basis hat.
F: Die Verfassung von 1996 gibt dem Präsidenten uneingeschränkte Vollmachten. Können Wahlen in Algerien etwas ändern, solange diese Verfassung gilt?
Ganz klar: Nein. Der Präsident kann am Parlament vorbei Gesetze erlassen, er kontrolliert die Justiz. Die Verfassung ist sehr genau auf die Bedürfnisse des Clans an der Macht abgestimmt, dem damit ein Instrument gegeben wurde, das ihm die Macht weiter sichert. Gesetze können nur geändert werden, wenn jeweils zwei Drittel der Abgeordneten im Parlament und in der zweiten Kammer zustimmen. In der Kammer bestimmt jedoch der Präsident ein Drittel der Sitze persönlich, so daß spätestens hier die präsidiale Mehrheit gesichert ist.
Interview: Tina Ladleif