Nach 40 Jahren: Frankreich gesteht den Algerienkrieg
Späte Entschleierung
Nach 40 Jahren: Frankreich gesteht den Algerienkrieg
Von Rudolf Walther, Frankfurter Rundschau, 14.6.99
Die Sprache von Regierungen und Diplomaten ist unerschütterlich und zäh, in Kriegsfragen obendrein unerbittlich und verschleiernd. Das französische Beispiel belegt dies auf gespenstische Weise. Am 1. November 1954 – in der Nacht von Allerheiligen – explodierten in ganz Algerien etwa zwanzig Sprengsätze. Das Datum gilt als Beginn des militärisch geführten algerischen Befreiungskampfs gegen die Kolonialherrschaft Frankreichs.
Zu diesem Zeitpunkt waren etwa 57 000 französische Soldaten in Algerien stationiert. Innerhalb von vier Wochen wuchs deren Zahl auf 83 000. Fünfzehn Monate später waren es bereits 500 000 Mann. Bis zur Unabhängigkeit des Landes am 1. Juli 1962 verbrachten rund 1,7 Millionen Wehrdienstpflichtige Teile ihrer 27 Monate dauernden Dienstzeit in Algerien – fast 25 000 von ihnen starben, 60 000 wurden verletzt und verstümmelt.
Die Sprache des offiziellen Frankreich weigerte sich bis in diese Tage, diese geradezu bilderbuchmäßige Eskalation des kolonialen Konflikts zum richtigen Krieg einzugestehen. Statt dessen sprach man verschleiernd von « antiterroristischen Kampfmaßnahmen », « Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung », von « Operationen gegen Rebellen » oder, besonders verlogen, von « Befriedungsoperationen ». Faktisch führte die französische Armee, durchdrungen von ihrer Ideologie der « mission civilisatrice » (zivilisatorische Sendung ») einen Krieg gegen die algerische Befreiungsbewegung (FLN), aber auch gegen das algerische Volk. Noch Und François Mitterrand befand schlicht, « Algerien ist Frankreich. Von Flandern bis zum Kongo herrscht das Gesetz: eine Nation, ein Parlament. »
Die französische Armee hatte in Algerien umfassende Sondervollmachten, am 7. Januar 1957 übertrug man ihr die « Polizeigewalt » – die sie zur Errichtung von Lagern und zur Folterung von Zivilisten nützte, um aus diesen die Namen von Untergrundkämpfern herauszupressen. Zur psychologischen Kriegsführung gegen die Bevölkerung bediente sich die Armee der SAS (« Sections administratives spéciales »), den außerhalb legaler Kontrolle operierenden « administrativen Sondereinheiten ». 1958 – der Krieg dauerte schon vier Jahre lang – drängte General De Gaulle zurück an die Macht und versprach « den Moslems » (um das Wort Algerier, die es semantisch nicht geben durfte, zu umgehen) Selbstbestimmung, « gleiche Rechte und Pflichten als Franzosen », Frieden und Gerechtigkeit. Er sprach nicht von « Krieg », sondern vom « Bruderkampf », von « kolonialer Strafaktion », « Offensivoperationen » sowie « Kampfzonen » und dankte « der Armee, die hier ein großartiges Werk der Verständigung und Befriedung vollbringt ».
Über 40 Jahre lang blieb es für das offizielle Frankreich bei dieser Sprachregelung, obwohl der allgemeine Sprachgebrauch und selbst jener der Schulbücher die vernebelnde Redeweise bereits in den 70er Jahren aufgaben. Offiziell durfte der Krieg nach wie vor keiner gewesen sein.
Erst jetzt beschloß die französische Nationalversammlung « einstimmig » ein Gesetz, in dem erstmals in einem offiziellen Dokument von « Algerienkrieg » gesprochen wird. In der Sache werden durch das Gesetz die Veteranen des Algerienkriegs mit ehemaligen Teilnehmern an anderen Kriegen gleichgestellt. Faktisch genossen die Veteranen des Kriegs in Algerien freilich schon bisher gleiche Rechte wie alle anderen Veteranen. Aber die Lobby der Algerienfranzosen (« pieds-noirs ») vermochte die Lebenslüge vom Nichtkrieg bislang erfolgreich als offizielle Sprachregelung aufrechtzuerhalten. Die französischen Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) wurden 1996 als Kriegsveteranen anerkannt. Ganz so lange mußten die Soldaten des Algerienkriegs nicht warten.
Zwar dauerte es nicht so lange, bis man sich in Frankreich mit dem Algerienkrieg auseinandersetzte wie im Falle des Vichy-Regimes, in dem man sich wörtlich an De Gaulles Diktum hielt (« Vichy existiert nicht ») und damit zur Tagesordnung überging. Fortan galt in den meisten französischen Familien die Devise, « am Tisch redet man darüber nicht ». Der Prozeß gegen den hohen Beamten und Minister Maurice Papon, der nacheinander unter Pétain, De Gaulle und Giscard d’Estaing Karriere gemacht hatte und noch von Mitterrand – so gut es eben ging – gedeckt wurde, brachte « Vichy » und « Algerien » wieder ins Gespräch. Einige Abgeordnete, die selbst zum Wehrdienst nach Algerien eingezogen worden waren und dort plötzlich merkten, daß sie « lernten, wirklich zu töten » (so der Sozialist Jacques Floch), lancierten das neue Gesetz ohne national beschönigende Terminologie.
Le monde widmete dem Gesetz am Wochenende den Leitartikel, der das folgende Fazit zieht: « Diese symbolische Geste war unvermeidlich, um damit beginnen zu können, daß sich die verschiedenen Erinnerungen an den Algerienkrieg in ein gemeinsames Gedächtnis einschreiben können: die Erinnerungen der Wehrpflichtigen, der Algerienfranzosen (pieds-noirs), der ehemaligen harkis (algerische Soldaten in der französischen Armee, Anm. d. Aut.) und der Algerier selbst. »