Nach dem Fanatismus schürt jetzt Armut die Gewalt

Nach dem Fanatismus schürt jetzt Armut die Gewalt

Mordwelle in Algerien vor Beginn des Ramadan / Bewaffnete Islamisten werben Nachwuchs

Axel Veiel (Madrid) Frankfurter Rundschau, 27. Oktober 2000

Erstmals seit 14 Jahren gibt Algeriens populärster Rai-Sänger Khaled wieder ein Konzert in der Heimat. Sein Auftritt ist ein weiteres Signal für die Rückkehr des Landes zur Normalität nach Jahren des Blutvergießens. Doch es fehlt nicht an Warnungen, die Ruhe könne von kurzer Dauer sein. Vor dem Ende November beginnenden Fastenmonat Ramadan haben Mörderbanden außerhalb Algiers seit Anfang Oktober mehr als 130 Menschen umgebracht. Die durch das Amnestieangebot für reumütige Terroristen enttäuschte Armee habe sich vorschnell in den Kasernen zurückgezogen, heißt es in Algier. Für Verärgerung unter den Uniformierten sorgte offenbar, dass anders als im « Gesetz zur zivilen Eintracht » vorgesehen, nicht nur unbedeutende Mitläufer straffrei ausgingen. Zahlreiche Mörder oder Vergewaltiger dürften sich ebenfalls dem Zugriff der Justiz entzogen haben. Von 5500 bewaffneten Islamisten, die sich nach offiziellen Angaben den Behörden gestellt haben, wurden jedenfalls nur 350 gerichtlich belangt. Die übrigen wurden auf Bewährung freigelassen, was aus Sicht des Militärs einer De-facto-Amnestie gleichkommt.

Nicht gerade motivationsfördernd mag auf die Uniformierten auch gewirkt haben, dass die bewaffneten Islamisten die Zeit staatlicher Zurückhaltung nutzen konnten, um sich neu zu formieren und Nachwuchs anzuwerben. Vor allem im Umland der Hauptstadt Algier scheint ihnen das gelungen zu sein. Die Tätigkeit der beiden aktivsten Terrorgruppen, der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA) Antar Zouabris und der Salafistengruppe für Predigt und Gefecht (GSPC) Hassan Hattabs, konzentriert sich dort zur Zeit auf vier Gebiete: auf die etwa 100 Kilometer östlich von Algier liegende Kabylei, die Gegend von Medea 70 Kilometer südlich der Hauptstadt sowie auf die Regionen Tipaza und Ain Defla, 70 beziehungsweise 120 Kilometer westlich von Algier. Während in den großen Städten des Landes die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt wurden, scheinen die Militärs nicht sonderlich bemüht, den Bewohnern abgelegener Ortschaften den gleichen Schutz zukommen zu lassen. Vor Beginn des Fastenmonats Ramadan, der den vorgeblich Allah und dem Koran verpflichteten Gewalttätern in den vergangenen Jahren immer wieder Anlass zu besonderer Grausamkeit geboten hatte, haben zahlreiche Bauern die Konsequenzen gezogen. Zu hunderten kehrten sie ihren Feldern den Rücken und suchten Zuflucht in Algier oder auch Oran.

Die wachsende Verarmung der Bevölkerung trägt das Ihre dazu bei, dass sich Überfälle und Massaker wieder mehren. Wo es früher allein ums Töten ging, geht es jetzt auch um die Beute. Zunehmend gehen die Täter dazu über, ihre Opfer auszurauben. Nach Überfällen auf Schäfer treiben die Angreifer die fremde Herde in den eigenen Pferch. Die Ursachen der Gewalt, die einst vor allem religiös verblendeten Fanatikern angelastet worden war, sind damit vielfältiger geworden. Wo Blut fließt, sind nicht selten auch Mafiabanden und andere Kriminelle am Werk. Hinter einem Überfall auf einen Polizisten mag der Versuch stecken, sich die Waffen des Uniformträgers anzueignen. Der algerische Journalist Lakhdar Benchiba sieht in der Verarmung seiner Landsleute eine « soziale Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann ». Knapp ein Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist arbeitslos. Im Lande fehlen zwei Millionen Wohnungen. Angesichts wachsender wirtschaftlicher Not wurde in der algerischen Presse bereits darüber spekuliert, ob nicht reumütige und straffrei ausgegangene Terroristen, von der Rückkehr ins bürgerliche Leben enttäuscht, wieder in den Untergrund abgetaucht sein könnten. Die Zeitung El Watan berichtete sogar von einem konkreten Fall. Ein Dutzend Nutznießer der Amnestie aus den Reihen der Islamischen Armee des Heils (AIS) hätten wieder zu den Waffen gegriffen, schrieb das Blatt.

[ document info ] Copyright © Frankfurter Rundschau 2000 Dokument erstellt am 26.10.2000 um 21:05:38 Uhr Erscheinungsdatum 27.10.2000