Mörderische Sippenhaft

Der Spiegel veröffentlichte diese Woche neue Enthüllungen über die Verwicklungen der algerischen Armee in Gewalttaten. Es folgen einige Auszüge aus dem Artikel.

Mörderische Sippenhaft

Der Spiegel 3/1998

Ein Hauptmann des algerischen Sicherheitsdienstes erhebt schwere Anschuldigungen gegen die Armee: Sie habe anfangs die radikalsten Fundamentalisten, die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) gefördert und den Terror absichtlich auf die Zivilbevölkerung gelenkt.

Den ersten Anstoß für mich, meine privilegierte Stellung als Hauptmann aufzugeben und zu desertieren, geben die Geschehnisse von Bachadjarah. In diesem Vorort von Algier fanden die entsetzten Einwohner eines Morgens im Mai 1994 auf den Gehwegen ein Dutzend Leichen – allesamt harmlose, kleine Leute aus dem Viertel.

Ich war dabei, als ein verstörter Leutnant aus Bachadjarah seinem Vorgesetzten im Verteidigungsministerium den Massenmord meldete. Der fragte zuerst: « Was sagen denn die Leute auf der Straße dazu? » – « Sie verdächtigen den Sicherheitsdienst », antwortete der Leutnant. Der Chef beruhigte ihn: « Ach was, da ist nichts dran. Sag ihnen, es war eine Abrechnung unter Terroristen. »

Kaum hatte der Soldat den Raum verlassen, brach der Offizier in lautes Gelächter aus und sagte anerkennend: « Baschir und seine Leute haben gute Arbeit geleistet. Ich muß ihn gleich anrufen und ihm gratulieren. »

« Baschir » – das ist der Deckname für den Geheimdienstoffizier Othmane Tartag, einen Oberst. Seine Kommandazentrale befand sich in einer Kaserne hoch über Algier. Seine Spezialität bestand in der Vollstreckung einer Art mörderischer Sippenhaft – er ließ die Angehörigen untergetauchter Islamisten umbringen.

Seine Männer schwärmten nachts aus, nicht in Uniform, sondern gekleidet in die « Kaschabia », das lange Gewand der Frommen. Sie klopften an die Tür der Familie, die sie sich vorgenommen hatten, und flüsterten: « Öffnet, wir sind Brüder der Mudschahidin. » Dann drangen sie in die Wohnung ein und vollbrachten ihr blutiges Werk.

Kurz nach dem Gemetzel von Bachadjarah mordete Baschirs Kommando im Vorort Eucalyptus weiter. Es gab noch viele solcher Überfälle; ich selbst habe die Killertrupps ausrücken sehen und bin bereit, vor jedem internationalen Untersuchungskomitee auszusagen.

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Staatspräsident Liamine Zeroual, der im November 1995 mit 61% der Stimmen gewählt wurde, weil das verzweifelte Volk ihm vertraute, ist in Wirklichkeit ein Strohmann von Generälen, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Zeroual, selbst ein ehemaliger General, hat Angst vor diesen wahren Machthabern. Er ist zwar ihr Kamerad, aber auch ihre Geisel; schließlich wurde sein Vorgänger Mohammed Boudiaf, der sich aus der Abhängigkeit von der Armee lösen wollte, 1992 von einem Leutnant unter bis heute nicht geklärten Umständen erschossen.

Die Armee braucht den Haß gegen die Islamisten und die Angst vor ihnen, um ihre eigen Macht zu sichern. Gleichzeitig helfen ihr die Massaker, Zwietracht zwischen den rivalisierenden Fundamentalisten zu säen. So unglaublich das klingen mag: Die mörderische Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) ist teilweise ein Geschöpf der Militärs, über das die Zauberlehrlinge inzwischen allerdings jede Kontrolle verloren haben.

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Um diese [islamistischen] Gruppen zu unterwandern und gegeneinander auszuspielen, half das Militär bei dem Aufbau einer neuen Organisation – eben des GIA, der zum Sammelbecken der Härtesten und Übelsten des Landes werden sollte: Ehemalige Afghanistan-Freiwillige, vornehmlich aber Schwerverbrecher, darunter bereits zum Tode verurteilte Mörder, schlossen sich den GIA-Einheiten unter einem jeweils selbsternannten « Emir » an.

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Oftmals ereignen sich die nächtlichen Massenmorde, in deren Verlauf ganze Dörfer ausgelöscht werden, in der Nähe von Militärstützpunkten, ohne daß Soldaten den Opfern zu Hilfe eilten. Das ist ein Indiz dafür, daß die Armee den GIA gewähren läßt. Das Militär verschafft sich so die Rechtfertigung für blutige Racheakte und profitiert von der generellen Panikstimmung.

Anfangs richteten sich die Anschläge der Fundamentalisten fast ausschließlich gegen Angehörige der Sicherheitskräfte und Repräsentanten des Staats – das entsprach noch der Logik eines klassischen Untergrundkriegs gegen die Herrschenden. Das Militär wünschte aber, daß sich der Terror gegen das ganze Volk richtete – das verschaffte ihm Legitimation und erhöhte die Überlebenschancen des Regimes.

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So zogen sie das ganze Volk in ihren schmutzigen Krieg mit hinein, es durfte keine Unbeteiligten mehr geben, die Algerier sollten zu Geiseln des Regimes werden – und sie wählten ja dann auch brav die Parteigänger des Präsidenten ins Parlament, in den Senat und in die Rathäuser.

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Die Forderung des früheren Premiers Redha Malek – « die Angst muß ins andere Lager wechseln » – hat sich auf schreckliche Weise erfüllt. Militär und Polizei morden in den als « heiß » geltenden Vierteln Verwandte von Verdächtigen, damit die Nachbarschaft dem flüchtigen Bruder oder Sohn keinen Unterschlupf mehr gewährt. So soll die Basis der Terroristen zerstört, das Volk von den Partisanen der Islamisten getrennt werden.

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Weil ihnen Gerichtsverfahren zu umständlich und zu halbherzig erscheinen, üben Polizei und Militär gern Selbstjustiz. Sie verhaften, verhören, foltern verdächtige Zivilisten und bringen sie im Zweifel um. Exekutionen sind an der Tagesordnung. Horden von Soldaten und Polizisten organisieren wahre Raubzüge, ohne Bestrafung zu riskieren: Sie erpressen Schutzgelder, sie errichten Straßensperren, um Bürger auszuplündern. Oder sie massakrieren angebliche Terroristen, nur um sich Schmuck und Bargeld der Getöteten anzueignen.