Risse in der algerischen Scheindemokratie
Rätseln über die Gründe für Präsident Zerouals Amtsmüdigkeit
Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.98
Der algerische Präsident Zeroual hat für Anfang nächsten Jahres vorzeitige Präsidentenwahlen in Aussicht gestellt. Die Gründe für die Amtsmüdigkeit sind nicht eindeutig. Vieles spricht dafür, dass die eigentlichen Machthaber, die Generäle der Armeeführung, Zeroual nicht mehr zutrauten, die algerische Scheindemokratie vor dem Zusammenbruch zu retten.
ach. Der algerische Präsident Zeroual hat mit seiner Ankündigung, er werde vorzeitig aus dem Amt scheiden und spätestens Ende Juni 1999 einem gewählten Nachfolger Platz machen, eine Welle von Spekulationen über seine wahren Rücktrittsgründe ausgelöst. Niemand mochte dem von ihm selbst genannten Beweggrund – es sei Zeit, dem in einer Demokratie so wichtigen Prinzip der «alternance», der Auswechslung des Führungspersonals, Nachdruck zu verschaffen – Glauben schenken. Selbst der Generalstabschef Lamari, der in der Armeezeitung «Al-Djeïch» die Rücktrittsankündigung Zerouals als Beweis für den Patriotismus des Staatspräsidenten würdigte, konnte die Zweifler nicht überzeugen.
Eine Serie von Skandalen
Im Ausland wie in Algerien selber sitzt das Misstrauen gegenüber der algerischen Marionettendemokratie, hinter deren Vorhang die Armeeführung die Fäden zieht, zu tief, als dass man nicht nach den Hintergründen von Zerouals überraschender Rücktrittsankündigung fragen würde. Warum soll ausgerechnet jetzt ein Wechsel im höchsten Staatsamt stattfinden, und nicht erst, wenn Zerouals Mandat im Jahre 2000 regulär abläuft? Algerische Staatschefs treten nicht einfach zurück, wie ein Blick in die jüngste Geschichte zeigt. Der Tod setzte der Herrschaft zweier Präsidenten ein ungewolltes, vorzeitiges Ende. Im Fall von Boumediène war es ein natürlicher Tod, bei Boudiaf ein gewaltsamer. Die andern Staatschefs – Ben Bella, Bendjedid und Ali Kafi – wurden von der Armeeführung abgesetzt. Warum sollte es bei Zeroual anders sein? Einen Hinweis auf die Vorgänge hinter den Kulissen der algerischen Scheindemokratie liefert die Serie ungewöhnlicher Enthüllungen, die seit ein paar Monaten die Leser des «Watan» und anderer algerischer Blätter in Atem halten. Sie betreffen unter anderen den pensionierten General Mohammed Betchine, der im Range eines «Ministre-conseiller» der engste Mitarbeiter von Präsident Zeroual ist und in der Hierarchie des Staates den zweiten Rang belegt, sowie Justizminister Adami.
Machtmissbrauch und Willkür
Am vergangenen 8. Juli veröffentlichten die Zeitungen «Al-Watan» und «Al-Kabar» einen offenen Brief des Wissenschafters Ali Bensaâd, der bis 1995 am Institut für Geowissenschaften an der Universität Constantine unterrichtet hatte, dann aber ins Exil nach Tunesien und nach Deutschland ging. Einen Tag zuvor, am 7. Juli, hatte das Strafgericht von Constantine Bensaâd wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und wegen mehrfachen Mordes in einem Abwesenheitsverfahren zum Tod verurteilt. In seinem offenen Brief wies Bensaâd nach, dass er sich als Universitätslehrer offen gegen den islamistischen Terror gewandt und selber zur Zielscheibe eines Attentats geworden war, dass die vom Gericht gegen ihn erhobenen Vorwürfe jeglicher Grundlage entbehrten und dass diese einem von General Betchine inspirierten Manöver entsprangen, um ihn, Bensaâd, «aus dem Verkehr zu ziehen». Der Universitätsdozent hatte es nämlich 1995 gewagt, im Rahmen einer öffentlichen Wahlveranstaltung den aus Constantine stammenden Betchine zu kritisieren. Daraufhin setzte eine systematische Einschüchterungskampagne ein, die schliesslich im falschen Todesurteil vom vergangenen Juli gipfelte. Tatsächlich konnte Bensaâd die ihm zur Last gelegten Terrortaten gar nicht verübt haben, da er zum fraglichen Zeitpunkt im Ausland weilte. So gross war der Aufschrei im In- und Ausland nach diesem offensichtlichen Missbrauch der Justiz, dass sich der Justizminister genötigt sah, das Oberste Gericht einzuschalten, welches das Urteil an die untere Instanz zur Kassation zurückwies.
Von Amtsmissbrauch und Behördenwillkür handelt auch das Schreiben einer Gruppe von Richtern, das der «Watan» ohne Nennung ihrer Namen dieser Tage veröffentlicht hat. Die Richter bezichtigen darin ihren obersten Vorgesetzten, Justizminister Adami, als Generalstaatsanwalt von Sidi Bel Abbès den Direktor eines Untersuchungsgefängnisses angewiesen zu haben, eine Gefangene, auf die er, Adami, ein Auge geworfen hatte, vorzeitig freizulassen. Für seine Kühnheit, die Anweisung in schriftlicher Form zu verlangen, habe der Gefängnisdirektor später, als Adami Minister geworden sei, mit einer Strafversetzung bezahlen müssen. Ähnlich sei es dem Beamten ergangen, der im Auftrag des Ministeriums eine Untersuchung über Adamis Fehlverhalten durchgeführt habe.
Auf der Suche nach einem Nachfolger
Präsident Zeroual ist das Treiben seiner engsten Mitarbeiter sicher nicht verborgen geblieben, selbst wenn einige Affären erst nach seiner Ankündigung, er werde vorzeitig aus dem Amt scheiden, bekanntgeworden sind. Anscheinend war er weder willens noch in der Lage, den Augiasstall auszumisten. Das kostete ihn die Sympathien der Armeeführung, ohne deren Billigung die ungewöhnliche Serie von Enthüllungen der letzten Zeit wohl kaum erfolgt wäre. In dieser Situation zog es Zeroual vor, das Handtuch zu werfen. Die Armeeführung steht nun vor dem Problem, einen Nachfolger für Zeroual zu finden, der ihre Interessen wahrt, dem es gleichzeitig aber besser als dem jetzigen Präsidenten gelingt, diese Machtposition in einen Mantel von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu hüllen.