Algerien: Blutbad ohne Ende?

Algerien: Blutbad ohne Ende?

Werner Ruf* , erschienen in iz3w in einer etwas geänderten Fassung, September 2001

Siebeneinhalb Jahre (Nov. 1954 – März 1962) dauerte der Algerienkrieg, der nahezu eine Million Menschenleben forderte und schließlich dem Land die Unabhängigkeit von Frankreich brachte. Seit fast zehn Jahren (Januar 1992) dauert nun der Bürgerkrieg, den manche den Zweiten Algerienkrieg nennen. Seine Bilanz: Annähernd 200 000 Tote (1), mehr als 10 000 Verschwundene, zigtausende von Flüchtlingen im eigenen Lande – von den unzähligen trau-matisierten Opfern, die die Massaker überlebten oder der systematisierten Folter der « Sicher-heitskräfte » entkamen, ganz zu schweigen. Erst die Unruhen in der Kabylei, die am 18. April brachten den Konflikt wieder auf die Titelseiten der Zeitungen. Und das vorschnell angebotene Erklärungsmuster war das des seit ende des Ost-West-Konflikts so beliebten « ethno-nationalen Konflikts ». Und in der Tat: Die Kabylen sind mit sieben Millionen Menschen (etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung) die zahlenmäßig stärkste der vier Berbergruppen (2) Algeriens. Immer wieder hatten sie die gleichberechtigte Anerkennung ihrer Sprache, des tamazight, neben dem arabischen und Formen kultureller Autonomie gefordert.

Der Funke, der die Unruhen auslöste, war die Ermordung eines Gymnasiasten auf einer Poli-zeistation – in Algerien fast eine Alltäglichkeit. Protestdemonstrationen schlugen um in ge-waltsame Angriffe gegen Einrichtungen des Staates, vor allem Gendarmerieposten. Die Gen-darmerie reagierte mit äußerster Brutalität, schoss scharf, es gab zahlreiche Tote und Ver-wundete (3). Die Demonstrationen breiteten sich wie ein Lauffeuer zunächst auf die ganze Kabylei aus. Sehr schnell zeigte sich aber, dass der Konflikt kein « ethnischer », sondern ein politischer und vor allem sozialer ist: Nicht nur griffen die Unruhen schnell auf die anderen Landesteile über, sie breiteten sich auch weit darüber hinaus in Ostalgerien aus. Und in Städten der arabischsprachigen Region skandierten die Jugendlichen « Wir sind alle Kabylen ». Die Wut, die sich hier artikulierte, resultiert au dem sozialen Elend, der Perspektivlosigkeit der Jugend in einem reichen Land, dessen Menschen immer ärmer werden, weder Arbeit noch Wohnungen finden. Und auf der Großdemonstration in Algier am 14. Juni, bei der die Polizei scharf schoss (Bilanz mindestens vier Tote und 364 Verletzte, über 50 « Verschwundene »), riefen die Demonstranten Slogans wie « Regierung – Mörder » und « Militär – Terroristen ». Da half es wenig, dass die Machthaber versuchten, den Konflikt zu ethnisieren, indem sie Fuß-ball-Rowdies mobilisierten, die Steine werfend « Tod den Kabylen » schrieen. Eine Ethnisie-rung des Konflikts dürfte zumindest Teilen der Clique an der Macht recht gelegen gekommen sein: der Volkszorn gegen das Regime hätte umgelenkt werden können in blutige innere Aus-einandersetzungen zwischen zwei Volksgruppen, die Repression hätte im Ausland als Wah-rung der nationalen Einheit präsentiert werden können. Denn: Die seit fast zehn Jahren dau-ernde Gewalt in Algerien ist für das Regime funktional.

Sofort nach dem Militärputsch des 11. Januar, mit dem die ersten demokratischen Parlamentswahlen abgebrochen, die Verfassung außer Kraft gesetzt und der gewählte Staatspräsident abgesetzt wurden, schritt das System zur Verhaftung von rd. 20 000 bis 30 000 Mitglieder und Anhängern der Islamischen Heilsfront FIS, jener Partei, die mit überwältigender Mehrheit die Wahlen gewonnen hätte und zu diesem Zeitpunkt noch legal existierte. Teile dieser Partei organisierten den bewaffneten Widerstand, der wiederum die Verhängung und permanente Verlängerung des Ausnahmezustands rechtfertigte. 1993 nahm die Gewalt neue Dimensionen an: Auf der Bildfläche erschienen jetzt die sog. Bewaffneten Islamischen Grup-pen GIA, die sich vom militärischen Arm der FIS abgespalten hatten, oft auch Banden von aus der Kriminalität hervorgegangenen Jugendlicher waren. Ohne Zweifel gab es terroristische Aktionen seitens der islamistischen Guerilla. Der bewaffnete Arm der FIS, die « Armee des Islamischen Heils » (AIS) erklärte im Oktober 1997 einen einseitigen Waffenstillstand. Welche Bedingungen zwischen den Generälen und dieser wichtigsten Gruppierung ausgehandelt wurden, ist bis heute unklar.

Bleiben die GIA, die untereinander, wenn überhaupt, allenfalls lose verbunden sind, ja sich zum Teil gegenseitig bekriegen. Vor allem zwischen ihnen und der AIS gab es zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen. Diese Banden, die sich islamistisch nennen, agieren mit äußerster Brutalität, sie alimentieren sich aus Raub und Erpressung, Verlautbarungen mit politischen Zielvorstellungen gibt es nicht. Bald nach ihrem Erscheinen mehrten sich Anzeichen, dass Teile dieser Banden vom militärischen Sicherheitsdienst unterwandert und gesteuert sein könnten. Diese Indizien verdichteten sich anlässlich der großen Massaker des Jahres 1997, als in unmittelbarer Nähe von Gendarmerie-Posten und Kasernen in stundenlangen Schlächtereien Hunderte von Menschen umgebracht wurden. Warum sollten die Islamisten in den Vororten von Algier jene Menschen umbringen, die bis zu 90% FIS gewählt haben? Diese schrecklichen Vermutungen wurden inzwischen durch detaillierte Augenzeugenberichte über die Beteiligung von Armee und Sicherheitskräften an Massakern und Terrorakten belegt (4).

Bleibt die Frage nach der Rationalität solchen Vorgehens: Die Fortdauer der Gewalt legitimiert scheinbar die Politik der Militärs, « den Terrorismus zu terrorisieren ». Vor allem aber: Ausnahmezustand und Terror verhindern jede demokratisch-öffentliche Kontrolle der mafio-tischen ökonomischen Machenschaften der Machthaber. Algerien muss 80% seiner Grund-nahrungsmittel und fast sämtliche Medikamente importieren. Importlizenzen besitzen nur wenige, mit den Machthaber eng verbundene Personen. Die Beschaffung von Auslandskredi-ten für die Importe zu überhöhten Zinsen und Vermittlungsgebühren ermöglicht gewaltige Provisionen, die künstliche Verknappung von Lebensmitteln und Medikamenten gigantische Preissteigerungen und entsprechende Profite. Mit dem Anstieg des Ölpreises, an den auch der Erdgaspreis gekoppelt ist, wurde Algerien in letzter Zeit trotz außerordentlich hoher Ausland-schulden wieder einigermaßen liquide: Die Beschaffung von Waffen und Ausrüstung für die Armee ist ein für Schmiergeldzahlungen besonders attraktiver Markt, und die durch die mo-mentane relative Liquidität angeregte Investitionslust des Auslands ermöglicht – wie schon in den 70er und 80er Jahren – erhebliche « Provisionen » bei der Auftragsvergabe.

Schmiergeldzahlungen riesigen Ausmaßes dürften erst recht fließen aufgrund der vom IWF durchgesetzten Strukturanpassungsmaßnahmen: Algerien muss seine Wirtschaft privatisieren. So wurde in den letzten beiden Jahren eine Vielzahl von joint ventures gegründet, in denen der gesamte Reigen der international agierenden Öl- und Chemie-Multis vertreten sind. Die algerische Kapitalbeteiligung an diesen privatisierten Betrieben ist zugleich eine attraktive Form der Geldwäsche für illegal erworbene Vermögen. Nicht zuletzt ermöglichen die Entscheidungen darüber, welche ausländischen Bieter den Zuschlag für die Übernahmen der Filetstücke der staatlichen Erdölfirma SONATRACH erhalten, welcher Konzern neue Prospektions- oder Förderkonzessionen erhält, wiederum beträchtliche « Provisionen ». Und diese fließen folgerichtig in die Taschen der wenigen « Entscheider » an der Spitze des Regimes. Nicht die von den Militärs behauptete Rettung der Demokratie vor einem islamistischen Totalitarismus waren die Motive für den Putsch, sondern die Tatsache, dass die islamische Heilsfront FIS aufgrund ihres Wahlsieges auch die reale Macht beansprucht hätte. Dies hätte die Offenlegung des Filzes aus Korruption, Wirtschaftskriminalität und vor allem die Rückkehr des Militärs in die Kasernen bedeutet. Das wäre für Algerien ein wirklich revolutionärer Vor-ganggewesen, stellten doch das Militär und in diesem der militärische Sicherheitsdienst seit der Unabhängigkeit die reale Macht hinter einer zivil verkleideten Fassade dar (5).

Und auch das im Westen (und vor allem in Frankreich) gepflegte Klischee, in diesem Konflikt ginge es um die Alternative zwischen islamistischem Totalitarismus und säkularem (also doch zumindest zivilisiertem und darum tendenziell demokratischem?) Staat hält näherem Hinsehen nicht stand: In keinem nordafrikanischen Land spielt die Islamisierung in der Öffentlichkeit eine so wichtige rolle wie in Algerien. Die Diskriminierungen, denen das algerische Familienrecht die Frauen unterwirft, sind krasser als in der Islamischen Republik Iran. Seit dem Putsch sind islamistische Parteien wie insbesondere das Mouvement de la Société pour la Paix (MSP, vormals hamas), an der Fassaden-Regierung beteiligt, hinter der sich die reale Macht verbirgt. Den säkularen Touch lieferte bis zu den Unruhen in der Kabylei das Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD), das zwar bei den Parlamentswahlen vor zehn Jahren keinen Sitz erobert hätte, aber in Frankreich große Beachtung findet.

Der gewaltsame Jugendprotest in der Kabylei und im Rest des Landes hat gezeigt, dass ein Punkt erreicht ist, an dem der Staatsterror gegen die eigene Bevölkerung seine Wirkung zu verlieren beginnt. Nichts drückte dies deutlicher aus als eines der großen Transparente auf der Demonstration in Tizi Ouzou, der Hauptstadt der Kabylei: « Ihr könnt uns nicht töten, wir sind schon tot! » Es ist diese Verzweiflung, die durchaus vergleichbar erscheint mit der neuen inti-fada in Palästina. Eine Verzweiflung, die Gewalt und Protest erzeugt und in der das eigene, nicht mehr lebenswerte Leben zur selbstzerstörerischen Waffe werden kann. Der Unterschied zu Palästina ist allerdings, dass in Algerien die eigene Armee, eine Wehrpflichtarmee, auf Brüder und Schwestern, Mütter und Väter schießen soll. Die Armeeführung scheint sich mit ihrer Politik in eine Situation manövriert zu haben, die ihre bisher noch vorhandene und durch Monopolisierung der ökonomischen Pfründen gesicherte Geschlossenheit zerbrechen lassen könnte (6).

Das Dilemma erscheint perfekt: In der Armee, bisher zusammengehalten von militärisch-nationalistischer Disziplin und der Verteilung wirtschaftlicher Pfründen zeigen sich erste Ris-se. Der vom Militär eingesetzte und dann plebiszitierte Präsident Bouteflika ist nur noch Objekt von Spekulationen, die zwischen Rücktritt und Absetzung schwanken. Das Gewaltmonopol hat der Staat aufgegeben, indem er rd. 200 0000 « Patrioten » bewaffnete, die ihre Dörfer vor den « Terroristen » selbst schützen sollen, zunehmend aber zu Raubzügen und zu Selbstjustiz übergehen. Der Westen hat bisher bedingungslos das Regime unterstützt. Die USA aufgrund der Interessen US-basierter Ölkonzerne, Frankreich aus Sorge um seine aus der Kolonialzeit übernommene (letztlich bescheidene) ökonomische vor allem aber (durch die Arabisierung bröckelnde) kulturelle Präsenz. Und die EU folgt in innereuropäischer Arbeitsteilung der französischen Politik. Die Fortsetzung der bedingungslosen Unterstützung der Militärjunta, die nach Belieben ihre mehr oder minder zivilen Gallionsfiguren auswechselt, läuft Gefahr binnen kurzem vor den Toren Europas ein Chaos entstehen zu lassen, das von Niemandem mehr kontrollierbar ist.

Der einzige Ausweg wäre die von Menschenrechtsorganisationen seit langem geforderte Durchsetzung der Entsendung einer internationalen Untersuchungskommission, um die Verantwortlichkeiten für Massenmord und Menschenrechtsverletzungen in Algerien zu untersuchen, und – vor allem – die Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dies impliziert die Zulassung aller politischen Kräfte, auch der FIS oder ihrer Nachfolgeorganisation(en), wie sie von der vor allem in der Kabylei verankerten « Front der sozialistischen Kräfte » (FFS) gefordert wird, die in der ersten Runde der durch den Putsch abgebrochenen Wahlen immer-hin 26 Direktmandate errungen hat (7). Diese Position, die auch von der (trotzkistischen) Arbeiterpartei (PT) unterstützt wird, greift damit Prinzipien auf, wie sie1995 in der « Charta von Rom » niedergelegt worden waren, als sich FIS, die frühere Staatspartei FLN, FFS, PT, « gemäßigte » islamistische Parteien und die algerische Menschenrechtsliga unter Vermittlung der katholischen Laienbruderschaft von St. Egidio auf ein Programm zur Beendigung der Krise geeinigt hatten. Dies war ein Konsens nahezu aller politischen Kräfte des Landes. Nur die Militärs und die völlig unbedeutenden (orthodoxen) Kommunisten und das RCD, die beide in der ersten Runde der Wahlen keinen Sitz errangen, hatten nicht teilgenommen.

Nach wie vor erscheinen diese Grundsätze als der einzige Ausweg aus der algerischen Krise, die nur politisch zu lösen ist. In fast zehn Jahren haben die Militärs bewiesen, dass sie über kein Konzept zur Befriedung des Landes verfügen. Da jede politische Lösung ihren Rückzug in die Kasernen zur Folge hätte, können sie daran auch kein Interesse haben. Nur politischer und vor allem wirtschaftlicher Druck von außen könnte sie dazu bewegen. Um das Versinken des Landes in ein unregierbares Chaos zu verhindern, wäre eine radikale Umkehr der westlichen Politik vonnöten, die kurzfristig nur an der Sicherheit der Erdgaszufuhr und der Übernahme der Filetstücke des algerischen Kohlenwasserstoffsektors interessiert scheint. Dabei liegt die Wiederherstellung demokratisch legitimierter Staatlichkeit und rechtsstaatlicher Verhältnisse letztlich gerade im Interesse des Westens und der großen ökonomischen Akteure.

 


* Autor der Buches Die algerische Tragödie. Vom Zerbrechen des Staates einer zerrissenen Gesellschaft, Müns-ter 1997

(1) Auf 150 000 Tote schätzte der hervorragend informierte Michael Stone (The Agony of Algeria , London 1997) die Zahl der Opfer schon 1997 noch vor den großen Massakern an der Zivilbevölkerung. Stone ist Leiter der Forschungsabteilung der privaten Sicherheitsfirma Control Risks Information Services

(2) Der Begriff Berber ist abgeleitet vom griechischen barbar und bedeutet zunächst « Menschen, die nicht unsere Sprache sprechen ». Die anderen drei Gruppen sind die Chaouia im Aures-Gebirge, die Mzabi im Süden und die auf mehrere Sahara-Anrainer-Staaten verteilten Tuareg.

(3) S. den erschütternden Bericht von Salima Mellah und Nasreddine Yacine: « Ein Gendarm spuckte auf den Toten », Frankfurter Rundschau, Dokumentation, 5. Juli 2001, S. 7.

(4) Yous, Nesroullah: Qui a tué à Bentalha, Paris 2000, und : Souaidia, Habib : La sale guerre, Paris 2001.

(5) Nur mit Hilfe der Armee und deren Generalsstabschef Boumedienne gelangte der erste Präsident, Ahmed Ben Bella, an die Macht, bis er am 19. Juni 1965 von dem zum Verteidigungsminister avancierten Bouemdienne gestürzt wurde. Auch sein Nachfolger, Chadli Bendjedid, war Offizier und wurde vom Militär in der Einheitspartei FLN durchgesetzt.

(6) Etwas ausführlichere Überlegungen hierzu s. in: Ruf, Werner: Algerien vor dem Staatszerfall; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8/2001.

(7) S. hierzu das Memorandumg der FFS vom 12. Mai 2001  » Pour une transition démocratique  » in : algeria-watch, Infomappe 17, Berlin, Juli 2001, S. 28 -30.