Ein Viertel unter dem Terror
Hamid Larbi, in: Reporters sans frontières, Le Drame algérien, Paris 1995, 54-56
« Früher steckten wir im Elend, heute ist es immer noch so, aber wir haben zusätzlich das Blut und diesen alltäglichen Terror, der uns nicht verlassen will. »Der etwas ältere Mann erzählt in Einzelheiten, wie das populare Viertel, in dem er aufgewachsen ist und immer noch lebt, nach und nach in einem unbeschreiblichen Terror versank. Heute sehnt er sich nach seinen belebten Straßen, seinen Aufläufen von vier bis fünf Personen, die stundenlang über die Welt « lästern », vom Staatspräsidenten bis zum Händler an der Ecke, der sich immer anschickte, ein Paar Dinar mehr zu verlangen als die anderen.Abgesehen von den unvermeidlichen Streitigkeiten unter den Kindern und gelegentlichen kleinen Nachbarschaftsproblemen ging das Leben so dahin. Das heißt schlecht. Aber ohne Angst.Hinter den brüchigen Mauern verbargen sich die Leiden und die Wut, die mit der unerträglichen Enge und der Unmöglichkeit ein dezentes Leben führen zu können, verbunden waren. Die jungen Menschen, Mädchen wie Jungs, waren in einer Sackgasse. Das Leben bot keinerlei Versprechen. Das Jenseits war vielleicht sicherer. Das Viertel begann, wie viele andere, aus der Anonymität zu treten mit den « Ereignissen » von Oktober 1988. Es gab nicht viel zu zerstören oder in Brand zu setzen, aber es wurde gemacht mit dem Spott kleiner Strolche, die den Großen einen bösen Streich spielen. Gewiß waren die darauffolgenden Tage ernüchternd, da man drei Kilometer hinunterlaufen mußte, um Lebensmittel und sanitäre Produkte zu kaufen: « Sie » hatten die Filiale der Galeries in Brand gesetzt.
Die Oktober-Sehnsüchte
Der Oktober ’88 hatte die Sehnsucht genährt, daß die Veränderung von den popularen Vierteln kommen könnte. Kein Jugendlicher des Viertels ist während der Revolten gestorben, aber mehrere wurden festgenommen und verhört. Dann hat diese Wut in der FIS ein Ventil gefunden und das Viertel fing an zu tanzen, sich zu bewegen und sich mit Lärm und Feurigkeit zu füllen. Die Jugend begann zu glauben, daß ein gerechter Staat kein Traum sei und sie trugen in Massen den Kamis und den Bart. Sie machten sich auch daran, die Moscheen wieder zu besetzen und die Lektüre wieder zu erlernen.Im Viertel geschahen die ersten Konflikte in der Moschee, in der die schon alten Aktivisten « FM » (frères musulmans) bald die Kontrolle verlieren werden. Die ungehaltenen jungen Menschen, die den Führern der FIS einen rasanten Rhythmus von Forderungen auferlegen werden, konnten sich nicht mit der besonnenen Wahl der « Etappen » der FM begnügen. « Die Gerechtigkeit, und schnell, der Islam ist die Lösung »: die « FM » werden monatelang widerstehen. Selbst Ali Benhadj kam, um die beiden Gruppen zu versöhnen. Er wurde mit Respekt gehört. Aber einige Tage später haben die jungen Leute der FIS endgültig die Kontrolle über die Moschee erlangt.Erster Sieg und erster Drang zur Veränderung. Die Armen und Bedürftigen wurden gezählt und die islamistischen jungen Frauen haben sich darum gekümmert, ihnen diskret und regelmäßig Proviantkörbe zukommen zu lassen. Medizinische Beratungen wurden organisiert. Der Staat, der in allem versagt hatte außer in der Repression, wurde auf dem Terrain durch einen außergewöhnlichen karitativen Aktivismus ersetzt. Die FIS siegte in den Kommunalwahlen von Juni 1990. Es war die Euphorie: die Dinge würden sich endlich ändern. Aber sehr schnell stellte man fest, daß die FLN in den Kommunen nur Probleme und sehr wenig Mittel hinterlassen hatte. Wut und Frustration.Der Streik von Juni 1991 führte erneut zur Mobilisierung des Viertels. Abstieg ins Zentrum von Algier und schlaflose Nächte auf den öffentlichen Plätzen. Am 4. Juni werden die Plätze mit Gewalt geräumt. Die Stunde der Massenverhaftungen und Feuersalven hatte geschlagen. Zahlreiche junge Männer wurden in Lager verschickt. Der Haß auf den flic (Polizist), der für kurze Zeit verblaßt war, erwachte mit einem Schlag. Manche Jugendliche sind verschwunden. Das Untergrundleben begann. Aber die meisten sind mobilisiert geblieben, um zu verhindern, daß die « Verräter » an den inhaftierten Shuyukh die Kontrolle über die FIS übernehmen. Schließlich beruhigten sich die Dinge etwas. Man näherte sich den Parlamentswahlen. Abdelkader Hachani führte das Ruder und ließ die Spannung über die Teilnahme der FIS andauern. Schließlich nahm sie daran teil. Im Viertel hat die FIS klar gesiegt. Zum Zeitpunkt der Auszählung der Wahlzettel erschall es wie eine Litanei: « FIS, FIS, FIS… ». So sehr, daß, als man zum ersten Mal « FLN » hörte, alle in Lachen ausbrachen und geklatscht haben. Die FIS hatte gewonnen. Das Viertel würde verlieren.Chadli « wird zurückgetreten ». Boudiaf wird ans Steuer gerufen. Hachani wird ins Gefängnis gesteckt. Das Viertel ist in Aufruhr. Wieder die Razzien und die Lager. Wenn möglich verbringen die jungen Leute die Nacht anderswo. Die Moscheen entflammen sich und werden zum Ausgangspunkt unerlaubter Demonstrationen. Man beginnt das Prasseln der Kugeln kennenzulernen. Der erste Tote ist ein Jugendlicher von 13 Jahren. Getötet durch einen Querschläger. Andere Opfer werden folgen, bei einem Todesspiel, in dem die Jugendlichen mit Sticheleien und Beschimpfungen die Sicherheitskräfte herausfordern. Die ersten Attentate beginnen. Die Moschee wird den Alten überlassen. Es war die Zeit der Flugblätter. Chebouti, den die Jugendlichen mit dem Titel « General » versahen, rief zum Jihad und forderte die Polizisten auf, die Uniform unverzüglich abzulegen. Die ersten bewaffneten Gruppen haben sich gebildet. Die Repression verschärfte sich. Polizisten wurden erschlagen. « Denunzianten » auch.
Geschichten des Grauens
Im Viertel hat sich ein echter Bürgerkrieg eingestellt. Viele junge Leute sind flics und werden zu Feinden ihrer früheren Freunde, mit denen sie in Schule und Moschee gingen und in derselben Mannschaft begeistert Fußball spielten. Die Angst hat sich eingenistet. Das ganze Viertel wird von den Polizisten als terroristisch eingestuft. Und bei jedem Einfall schleppen sie junge Männer ab. Die, die zurückkehren, erzählen von dem Grauen: Hunger, Folter, « Chiffon« , Eisenstange… Manche schwören, daß sie sich in Zukunft lieber das Leben nehmen, als sich schnappen zu lassen. Unter der Folter haben junge Menschen, die nichts getan haben, gestanden, den bewaffneten Gruppen anzugehören und irgendwelche Personen denunziert. Nur damit es aufhört. Jedesmal, wenn ein Jugendlicher verschleppt wird, halten sich die anderen des Viertels den Bauch: welche Namen wird er ausspucken, wenn er auspackt unter dem schlagkräftigen Nachdruck der Polizisten, die zur Routine verwandelt haben, was der Staat nie zugegeben hat?Die Liste der Gesuchten wurde länger und ihre Wohnungen wurden regelmäßig und unter Anwendung von Gewalt aufgesucht. Kollektive Verantwortung. Die gesamte Familie ist terroristisch, weil der Sohn einer ist. Das gesamte Viertel ist terroristisch, weil es Terrorismus gibt. Das geht so seit drei Jahren. Die Alten haben sich noch mehr gekrümmt. Die jungen Männer, die sich in ihrer Mehrheit nicht den bewaffneten Gruppen angeschlossen haben, versuchen, den Polizisten nicht in die Hände zu fallen. Mal wieder verbringen diejenigen, die die Möglichkeit haben, die Nächte bei Verwandten, die in annehmlicheren Orten wohnen. Am Tage kommen sie ins Viertel zurück, so sagen sie, damit die « Verräter » sehen, daß wir immer noch da sind und uns nicht den « anderen » angeschlossen haben. In einigen Familien gibt es keine jungen Männer mehr. Sie wurden alle vom Krieg hinweggerafft.
Die Bilanz ist furchtbar für ein armes Viertel, das eines Tages die Sehnsucht gehegt hatte, daß ein Staat der Gerechtigkeit nicht dem Reich der Träume angehört. Viel zu viele Tote in diesem Bürgerkrieg, unter der Jugend eines Viertels, in dem man nur die Wahl hatte, zwischen den kleinen Jobs als Wiederverkäufer von Kleinkram oder flic zu werden. Die Überlebenden sagen fatalistisch, daß sie sich damit begnügen zu warten, bis sie an der Reihe sind. Und um dieses fürchterliche Grauen zu bekämpfen, das sie bei jedem Alarm ergreift, sagen sie sich, daß der Zeitpunkt des Todes von Gott bestimmt wird und daß es nichts nützt, ihn verschieben zu wollen. « Von Gott kommen wir, zu Gott kehren wir zurück. » Das wird gesagt, wenn man vom Tod eines Menschen erfährt. Es sind die letzen « Hoffnungszeichen » einer popularen Jugend, die geglaubt hatte, die bestehende Ordnung stürzen zu können.