Der Islamismus gegen die Intellektuellen?
François Burgat, Algérie: l’islamisme contre les intellectuels?, in: ders., L’islamisme en face, Paris 1995, 155-75.
Im Maghreb blieben bis Anfang der neunziger Jahre die Gewalterscheinungen, die mit dem Aufstieg des Islamismus verbundenen sind, vereinzelt. Nicht daß der Islamismus – wie jede andere politische Mobilisierung – diese schreckliche Abkürzung immer und überall vermieden hätte. Aber er hatte daraus keineswegs seine bevorzugte Aktionsform gemacht. In Algerien mußte erst eine furchtbare Repressionskampagne Anfang des Jahres 1992 kommen, als Antwort auf den Wahlsieg der Islamischen Rettungsfront (FIS), damit dieses Gleichgewicht auseinanderbrach. Das Inventar der „islamischen“ Gewalttaten, die seither den algerischen Schauplatz überströmen, haben nichtsdestotrotz selten die erforderliche Vorsicht und Klarheit erfahren.
Die Anwendung der Gewalt durch das islamistische Lager darf nicht, hier nicht mehr als anderswo, verkannt oder unterschätzt werden. Der gemäßigte Teil der FIS schloß sich unleugbar Anfang 1992 der Logik des bewaffneten Kampfes an, die er lange im Kreise seiner radikalen Fraktion bekämpft hatte. Sicherlich sind die islamistischen Waffen nicht nur gegen diejenigen gerichtet worden, die sich der gleichen Mittel bedienten: sie trafen auch zahlreiche Ziele, die dem unmittelbaren Gebrauch der Gewalt fernstanden. Also geht es weniger darum, die Existenz eines „islamischen“ Gewaltpotentials zu diskutieren, als die Umstände, die ihm erlaubten, monatelang den nahezu gänzlichen politischen Ausdruck der islamistischen Strömung und vor allem die vollständige Repräsentation der algerischen Krise in den Medien zu monopolisieren.
Die Islamisten – so haben uns in der Tat, die durch die Medien gepuschten Analytiker lange erklärt – hätten beschlossen, ein Land „seiner Hirne“ zu berauben, in dem unter den ohnmächtigen Augen der Bevölkerung „das Lager der Terroristen und das der Militärs“ sich bekämpfen. War dies wirklich so? Und wenn diese Operation der „Enthirnung“ stattgefunden haben sollte, wer waren tatsächlich die Täter und wer die Opfer?
Ein dreifacher Riß
Die algerische Krise ist der Ausdruck eines dreifachen Risses, ähnlich dem, der die gesamte arabische Welt durchzieht. Dieser Riß ist in erster Linie politisch: er ist das Ergebnis eines relativ banalen Nachfolgekrieges zwischen einem Regime, das sich weigert einzugestehen, daß es seine populare Basis verloren hat, und einer Opposition, die zweimal die Gelegenheit hatte festzustellen, daß sie in der Mehrheit war und daher guten Grund hat, auf die Behandlung, die ihr widerfährt, zu reagieren.
Zumindest teilweise deckt sich dieser politische Riß mit einer ökonomischen Spaltung: die soziale Basis der Opposition hat weniger als andere von dem profitiert, was von der Ölrente für Ausbildung und Beruf abfiel. Der Bruch ist schließlich kulturell. Die politischen und ökonomischen Eliten des Regimes oder der laizistischen Opposition entwickeln sich naturgemäß ungezwungener innerhalb der Kategorien der westlichen Kultur als innerhalb der Kategorien der arabisch-muslimischen Kultur. Die französische Präsenz hat bekanntlich paradoxerweise dazu beigetragen, letztere in der ersten Generation der nationalistischen Eliten zu marginalisieren und zu diskreditieren. Aber dieser kulturelle Riß durchzieht weniger die Gesellschaft als jedes der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt. Die Bezugnahme auf zwei undurchlässige Schichten erlaubt also nicht, der Spannung zwischen den beiden Zugehörigkeiten Rechnung zu tragen. Zwar kann die Dualität des Bezugssystems, wenn sie anerkannt wird, zur Quelle des Reichtums werden, doch hingegen Spannungen und sogar Schizophrenien hervorrufen, wenn eine der beiden Zugehörigkeiten erstickt, oder umgekehrt aufgezwungen, oder der freie Fluß zwischen beiden gehemmt wird.
Der Nachfolgekrieg und die soziale Revolte decken sich dennoch mit einer Konfrontation zwischen zwei kulturellen Zugehörigkeiten, einem brudermörderischen Wettkampf zwischen zwei Bezugswelten, die als konkurrierend wahrgenommen werden. Der Historiker Mohammed Harbi hat dieser spezifisch maghrebinischen Realität Ausdruck verliehen:
Ein Teil der Algerier – genauer gesagt diejenigen, die die Sprecher und Führer des Nationalismus waren – ist tief geprägt von der französischen Kultur. Diese frankophone politische Elite hat die Idee einer algerischen Nation geschmiedet, unabhängig von jedem authentischen historischen Bezug, im Gleichklang mit der Idee der französischen Nation. […] Untergründig, ohne daß sie es wahrnahm, existierte ein anderes Algerien, kommunitaristisch, mit sozialen Bindungen, die stark von der Religion geprägt waren, und dessen Verhältnis zu Frankreich unzweideutig war.1
Die Dividenden dieses dreifachen Bruchs wird die FIS bei zwei Gelegenheiten, im Juni 1990 und im Dezember 1991, für sich ummünzen: es ist ihr zunächst gelungen, den popularen Willen, ein verbrauchtes und korruptes Regime abzusägen, zum Ausdruck zu bringen und die politischen Ambitionen der vom System Ausgeschlossenen aufzugreifen. Es ist ihr sodann gelungen, die Betroffenheit der sozialen Gruppen auszudrücken, die destabilisiert waren durch einen Staat, der nach dem Zusammenbruch des Erdölmarktes und dem Scheitern der Industrialisierung „von oben“, sich wirtschaftlich brutal der Verantwortung entzogen hatte.2 Ihr ist es schließlich gelungen, – eine „positive“ Ressource, die viele Beobachter ihr so lange Zeit nicht zuschrieben – die letzte und wichtigste der politischen Ressourcen, die der FLN jemals zur Verfügung stand, auf sich zu übertragen: den Nationalismus. Zunächst auf positive Weise, aufgrund des Wesens ihres Diskurses, der auf der kulturellen und ideologischen Ebene die nationalistische Dynamik fortsetzt, die die FLN zu ihrer Zeit auf der politischen wie auch ökonomischen Ebene formuliert und gefördert hatte. Aber auch auf negative Weise durch den verdrehten Effekt der zunehmenden Identifikation der politischen Kräfte, die ein anderes Vokabular als das ihrige gebrauchen, mit der Welt der Frankophonie (im weiteren Sinne mit Frankreich selbst) und mit einer gewissen sozialen Elite, die gleich zweifach verurteilt wird wegen ihrer ökonomischen Privilegien und ihrer kulturellen oder politischen Nähe zur alten Kolonialmacht.
In dem unerbittlichen Unternehmen, die laizistischen Kräfte der Glaubwürdigkeit zu berauben, spielt Frankreich, Medien und politische Klasse vereinigt, paradoxerweise eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Gekreuzt mit dem Diskurs der FIS, der die „Partei Frankreichs“ angreift, hat der französische Eifer, das „demokratische Lager“ zu verteidigen, zweifelsohne dazu beigetragen, eben dieses zur gleichen Zeit zu disqualifizieren, wie seinen Gegner aufzuwerten, indem letzterem die Möglichkeit geboten wurde, jede französische Medienattacke in positive Dividenden umzumünzen. Höchste Paradoxie: die FLN hat sich in ihrem Kampf gegen die FIS ständig in der Lage befunden, den Diskurs der französischen Medien zu paraphrasieren (besonders beim Thema der politischen Gewalt), womit ebenso viele Breschen in eine historische Legitimität geschlagen wurden, die die FLN genau auf die Fähigkeit, die symbolische Distanz zum Kolonisatoren auszuspielen, gegründet hatte. Dieses mediale Paradox, verheerend seit den ersten Anfängen der pluralistischen Erfahrung ab 1989, wurde bis zum Extrem getrieben – wird man das nie zur Genüge sagen? – durch die politische und mediale Unterstützung, die der Okzident im allgemeinen und Frankreich im besonderen sodann dem Regime angedeihen ließen, das aus der Annullierung der ersten Runde der Parlamentswahlen vom Dezember 1991 hervorging.
Das Volk wechseln!
Als den Militärs im Dezember 1991 dünkte, daß das algerische Volk „falsch gewählt“ hatte, wollten die Opfer dieser unverschämten Wahl keine andere Lösung in Betracht ziehen, als gewissermaßen „das Volk zu wechseln“.3 Während am Tage nach der Wahl die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) mutig die Fortführung der Wahlen verlangt, fordert die Versammlung für Kultur und Demokratie (RCD), die gewiß nichts zu verlieren hat,4 offen den Abbruch der Wahlen. Sie erklärt sich willens, „das Land zu paralysieren“ und „alle Übertretungen zu verantworten“. Ein „Nationales Komitee für die Rettung Algeriens“ wird gegründet; die Wochenzeitung Algérie-Actualité glaubt, ihm die Unterstützung von sechzig Assoziationen und in noch hypothetischerer Weise diejenige von „drei Millionen Mitgliedern der UGTA5“ zuschreiben zu können.
Die FIS ihrerseits akzeptiert die Perspektive der Zusammenarbeit mit Chadli und ruft ihre Anhänger zur „Mäßigung“ und „Versöhnung“6 auf, auch wenn es ihr nicht gelingt, einige unter ihnen davon abzuhalten, mit der Ankündigung der Ausarbeitung eines Regierungsprogramms, das diese beiden Anliegen nicht deutlich ausdrückt, einen härteren Ton anzuschlagen.
Von Gerüchten bis zu Anspielungen glaubt man in Algier in der Tat immer weniger an die Fortführung des Wahlprozesses. Am 2. Januar demonstrieren 300 000 Gegner der FIS für „die Rettung der Demokratie“, und die Gründung von „Komitees zur Verteidigung der republikanischen Institutionen“ wird angekündigt. Hocine Ait-Ahmed, der Führer der FFS, der kurz das Wort ergriffen hat, wurde bejubelt, und jeder hofft auf eine Gegen-Mobilisierung der Wähler aus dem sogenannten „demokratischen“ Lager. Der Anteil der Nichtwähler (41 %) regt manche Beobachter dazu an, über eine mögliche Gegen-Mehrheit zu spekulieren. Auf eine pragmatischere oder zynischere Weise ziehen andere einen zweiten „richterlichen“ Entscheid in Betracht, bei dem der Verfassungsrat, dem mehr als 300 Nichtigkeitsbeschwerden vorgelegt wurden, davon allein 174 von der FLN7, veranlassen würde, der FIS ihre Mehrheit zu entziehen. Wiederum andere bereiten insgeheim eine noch radikalere Lösung vor. In Algier beendet am Abend des 11. Januar eine kurze Sendung des nationalen Fernsehens die Ungewißheit.
Präsident Chadli Benjedid, der die in seinen Weg gelegten „Hindernisse“ anführt, kündigt in ihr seinen Rücktritt an. Ende der Legalität. Der Hohe Sicherheitsrat8 tritt auf die Bühne, dann das Hohe Staatskomitee, das die Gesamtheit der dem Staatschef von der Verfassung verliehenen Befugnisse ausübt.
Nachdem sie den Inhalt der Urnen konfisziert haben, veranlassen daraufhin die „Retter der Demokratie“ die Verkündung der Auflösung der Partei, die die Unverschämtheit besessen hatte, die Mehrheit zu erhalten. Parallel dazu sorgen sie für die Verschickung der Sieger des ersten Wahlgangs und fast zwanzigtausend ihrer Wähler, um in der Sonne der Internierungslager der Südsahara zu dörren. Gleichzeitig, um ihre politische Nacktheit zu kaschieren, kreieren sie Ersatz-Parlamente (den Nationalen Konsultativrat, später den Nationalen Übergangsrat, Kommunalvertretungen) und ersetzen die in den beiden ersten freien Wahlen der Geschichte des Landes Gewählten mit von ihnen selbst ernannten „Repräsentanten“.
Nachdem Protesterklärungen und Appelle an die internationale Solidarität ohne Echo verhallt sind, nimmt die islamistische Antwort die Form von Attentaten auf zunächst militärische, sodann politische Vollstrecker der erfolgenden Strategie der „Ausmerzung“ (stratégie éradicatrice) an. Die ersten Opfer der aufkommenden „islamischen“ Gewalt sind Angehörige zuerst der Sicherheitskräfte, dann der durch das Regime anstelle der gewählten Versammlungen eingesetzten Instanzen. Zu den Angriffen bekennt sich nach und nach eine Bewaffnete Islamische Bewegung (Mouvement islamique armé, MIA).9
Selbst wenn, wie wir sehen werden, über diese Schwelle hinaus die eindeutige Zuschreibung der Verantwortlichkeit spekulativ zu werden beginnt, wird zu diesen ersten Opfern eine andere Kategorie politischer Akteure hinzukommen: keineswegs „die Journalisten“, „die Intellektuellen“ oder „die Schriftsteller“, sondern diejenigen der Journalisten, Intellektuellen und Schriftsteller, die, nachdem einmal die Informationsmöglichkeiten des islamistischen Lagers vollständig vernichtet sind,10 die Aufgabe übernehmen werden, die ideologische Deckung der Repression zu produzieren und dabei vor den Augen der Weltöffentlichkeit die „éradicatrice“-Option und die Herrschaft ihrer Anhänger zu rechtfertigen.
Von einem Extremismus zum anderen
Allerdings traten im islamistischen Lager schon vor dem Abbruch der Wahlen Anhänger der bewaffneten Aktion hervor. Die algerische islamistische Bewegung von Mustapha Bouyali war in den achtziger Jahren die Vorläuferin dieser in der FIS seit ihrer Gründung vorhandenen Tendenz. Seit November 1991 erschienen bewaffnete Gruppen am Rande der Strömung der Anhänger von Abassi Madani, die den bewaffneten Kampf ablehnten. Diese letztere Tendenz hatte jedenfalls nicht nur die ersten Repressionswellen überlebt, sondern die Führung über die Bewegung durchgesetzt, anläßlich des Kongresses von Batna im Juli 1991, der unmittelbar nach der Verhaftung von Madani und Benhadj stattfand.11Da innerhalb der FIS die bewaffnete Option überstimmt worden war, hatten manche Mitglieder der Front beschlossen, sie noch vor den Parlamentswahlen zu verlassen,12 und der radikale Flügel der islamistischen Bewegung hatte erwartungsgemäß abgelehnt, sich ihr anzuschließen.
Nach dem Abbruch der Wahlen haben sich folglich die ersten bewaffneten Gruppen um diejenigen herum gebildet, die seit langem aus dem bewaffneten Kampf und dem Mißtrauen gegenüber dem Wahlprozeß ihr politisches Credo gemacht hatten. Die Überlebenden der Maquis von Mustapha Bouyali, denen sich die „Afghanen“13 anschlossen, erhielten die Unterstützung der Gegner von Madani, die beim Kongreß von Batna in der Minderheit waren. Die Auflösung der FIS im März 1992 und die Ausweitung der Repression werden ihnen nach und nach die Verbindung mit denjenigen einbringen, die ihre Gefährten, die zu Dutzenden fallen, rächen wollen oder einfach erkennen, daß ihr Überleben im Raum der städtischen Legalität nicht mehr sicher ist. Die Überbietungen – Morde an Angehörigen der Länder, denen eine Unterstützung des Regimes angelastet wird, sodann der Persönlichkeiten oder einfacher Bürger, die bloß als dem islamistischen Lager nicht zugehörig betrachtet werden – gehen ab September 1993 aus einem Nebel (nébuleuse) hervor, den man schrittweise als die Groupes islamiques armés (Bewaffnete Islamische Gruppen) identifizieren wird. Die Identität der GIA14 wird lange über die Ablehnung der Leadership der FIS definiert werden. Die der FIS treuen bewaffneten Gruppen werden wiederum sich mehr oder weniger eng zusammenschließen in der Mouvement islamique armé (Bewaffnete Islamische Bewegung; in mehrere Regionen unterteilt), die ab Juni 1994 zur Armée islamique du salut (Islamische Rettungsarmee) wird.15 So vergrößern sich die Ränge der Mudjahidin, die von der Notwendigkeit überzeugt sind, den politischen Sieg, um den sie mit dem Abbruch der Wahl betrogen wurden, zu jedem Preis und – für manche – mit allen Mitteln zu erringen.
Die Bedingungen, unter denen ab September 1993 die Drohungen der GIA gegen Ausländer umgesetzt zu werden beginnen, wobei auch die im Rahmen der ökonomischen Zusammenarbeit Tätigen, Mitglieder religiöser Gemeinschaften oder ganz einfache Überlebende der alten französischen Präsenz betroffen sind, müssen allerdings mit der größten Sorgfalt untersucht werden. Diese Episode gehört in jeder Hinsicht zu den dunkelsten – in jedem Sinn des Wortes – Seiten des „zweiten Algerienkrieges“. Von der FIS regelmäßig und von der GIA16 mindestens einmal verurteilt, werden die Sinnlosesten dieser Morde, die Schäbigsten dieser Inszenierungen und Bekennerschreiben sich in der Tat als äußerst nützlich für das Regime erweisen, dessen internationale Legitimität sich mehr und mehr auf die „Barbarei“ reduziert, auf die seine politischen Herausforderer zu drängen – oder wenigstens, daß sie mit ihr identifiziert werden – ihm gelingen wird. Diese Ambiguität wird den Beobachtern beständig entgehen.
Die Rechte des nicht-bärtigen Menschen
Kann man, um das Feuer der Gewalt zu löschen, die „schlechten“ Flammen isolieren und die „guten“, mit denen man sich abfinden könnte, schüren? Dies ist das seltsame Verfahren, das die französischen Medien und französische politische Klasse lange zu bevorzugen schienen.
In den Medien wird das Monopol der Repräsentation der algerischen Bevölkerung sehr schnell von den Vertretern der alleinigen Rhetorik der Ausmerzung besetzt werden. Das Leseraster der Gewalt, das sich somit aufdrängt, wird dadurch ungeheuer verstümmelt: in Algerien existiert ein „Terrorismus“, der die Demokratie bedroht. Glücklicherweise halten die Armee aus ihren Kasernen heraus, die „Demokraten“, meistenteils Kabylen, „von den Bergen herab“ und überall sonst „die Intellektuellen“ und „die Frauen“ Wache, weshalb die Integristen sich anschicken, sie zu ermorden.
Die Mobilisierungen der laizistischen Assoziationen stellten allerdings in Wirklichkeit keines der von den beiden Wahlen bestätigten Gleichgewichte wieder her und konnten umso weniger zum glaubwürdigen Ausdruck einer zivilen Gesellschaft, die ihnen weitgehend fremd war, hochstilisiert werden. Die wenigen leeren Kürzel, die von einem kleinen Dutzend Spezialisten der politischen Kommunikation geschwenkt werden, werden indes in Frankreich über einen medialen Raum verfügen, der umgekehrt proportional zu der Realität ihrer sozialen Verankerung in Algerien ist. Bei einem allzugroßen Teil der französischen Intelligentsia wird die Desinformation derart dauerhaft verheerende Wirkungen zeitigen, und der von den algerischen Geheimdiensten entfachte psychologische Krieg gewaltige Erfolge davontragen.
Die Mobilisierungsfähigkeit der Union générale des travailleurs algériens (UGTA, deren Vorstand der ehemaligen kommunistischen PAGS nahestand) konnte sich 1992 nicht ernsthaft messen mit der Zahl der Mitglieder, die sie vier Jahre zuvor hatte als Einheitsgewerkschaft eines nicht-pluralistischen politischen Systems. Es hat sich herausgestellt, ohne den guten Glauben einer Mehrheit unter ihnen in Zweifel zu stellen, daß gewisse feministische Assoziationen von ihrem ursprünglichen Weg abgebracht wurden, durch die militärische Obrigkeit, um die Dividenden der westlichen Emotion auf diesem Gebiet zu ihren Gunsten zu vereinnahmen. All diejenigen unter ihnen, die sich weigerten, sich dem Diskurs des Regimes anzugleichen, werden in der Tat erleben, wie ihnen die Ausdrucksmittel verweigert werden, während die Scheinwerfer der nationalen Presse diejenigen emporheben, deren Kampf sich mit der „Ausmerzer“-Linie identifiziert. Die Strategie zumindest eines Teiles dieser selbsternannten „zivilen Gesellschaft“ bestand mithin darin, sich derjenigen des Militärregimes anzunähern bis hin zur totalen Identifikation.
Während langer Monate wird ein doppelter Korporatismus die Proteste der Intellektuellen fast ausnahmslos einzig auf die Verteidigung ihresgleichen, soweit es sich nicht um Islamisten handelt, eingrenzen. Es war allerdings schwer zu vergessen, daß die Wahlkampagnen von Juni 1990 und Herbst 1991 nicht mit der Kalaschnikov ausgetragen wurden; daß die „guten“ Intellektuellen vom RCD und vom ehemaligen PAGS und jene feministischen Aktivistinnen, die später die französischen Medien monopolisieren sollten, rundweg die Gelegenheit hatten, sich in völliger Freiheit auszudrücken. Aber siehe da – darin zeigt sich das ganze Problem -, sie hatten ebenso das Vergnügen, dabei festzustellen, daß ihre Fähigkeit zur Kommunikation mit ihrer eigenen Gesellschaft nahe Null war. Die Kandidatin zur Abgeordneten Khalida Messaoudi (seitdem vom Regime zur Abgeordneten ernannt) hatte im Dezember 1991 weniger als 1% der abgegebenen Stimmen erhalten. Während der RCD weniger als 3% erhielt. Und der PAGS, der vorgab, die „drei Millionen Mitglieder der UGTA“ hinter sich zu haben, noch viel weniger. Wenn die FFS von Ait-Ahmed viel besser wegkam, geschah dies vor allem in der Kabylei auf der Basis der Reflexe der ethnischen und regionalistischen Solidaritäten, die zu verurteilen, insbesondere in Jugoslawien der gute Ton verlangt. Und man muß wirklich naiv oder bösen Willens sein, um diese kabylische Wahl als eine Absage an das islamistische Lager oder als eine besondere Begeisterung für die Demokratie zu interpretieren.
Wenn man sich an die gemeinhin gebräuchlichen Begriffe und den Geist der entsprechenden Definitionen hält, existiert die Zivilgesellschaft allerdings sehr wohl auf algerischem Boden. Sie ist dort sogar entwickelter, aktiver und autonomer in Bezug auf den Staat als man im allgemeinen denkt, davon abgesehen indessen, daß es die gewichtigen Vereinsnetze sind… – die islamistischen nämlich -, die sie repräsentieren. Die weitere Entwicklung wird es zeigen.
Die Tücken der Desinformation
„All die, die französisch denken“ in Algerien, waren sie wirklich allein deswegen „verurteilt, zu sterben“ unter den Schlägen der islamistischen Gewalt? Eine recht grobe Formulierung, die uns lange Bernard-Henry Lévy zu den Hauptsendezeiten eingehämmert hat. Darin fehlte allerdings ein wesentlicher Verweis.
Im algerischen Beben sind wahrlich etliche Intellektuelle ermordet worden, von denen ein Großteil niemals eine andere Waffe geführt hat als ihre Feder. Als Rachid Mimouni im Mai 1994 ein Dutzend von ihnen auflistet,17 sind sie gleichwohl bereits viel zahlreicher: mehrere Hunderte, am Gipfel ihrer Karriere oder frisch aus den Universitäten entlassen, am Morgen an ihren Haustüren überrascht oder mitten in der Nacht entführt, grausam gefoltert und für ihr ganzes Leben gebrochen, am hellichten Tag abgeschlachtet, vor ihren Familien oder im Gefängniskeller, vernichtet, erstickt, elektro-exekutiert18 und ganz offensichtlich weit von jeglicher Kamera entfernt verscharrt. Einige dachten wie Rachid Mimouni19 oder wie Rachid Boudjedra20. Andere, zu Hunderten, unter ihnen die 1992 verhafteten 1224 Lehrer, Mitglieder oder Sympathisanten der FIS, dachten anders. Aber alle dachten. Einige waren die Erben der als laizistisch bezeichneten Nationalisten der sechziger Jahre oder der marxistischen Oppositionen, die in deren Gefolge entstanden. Andere waren die Nachfolger einer islamistischen Strömung, die, lange bevor sie die Rubrik Vermischtes füllten, in der Person des Ingenieurs Malek Bennabi einen der angesehensten Köpfe Algerien geschenkt hat; der übrigens nicht nur arabophon war.21 Eine Strömung lange nicht so hermetisch, wie man behauptet hat, gegenüber all dem, was unsere Kultur hervorbringen konnte, vor allem wenn sie nicht versuchte, ein anmaßendes Monopol des Zugangs zur Moderne sich zu erdreisten.
Es bedurfte allerdings fast zweier Jahre, damit die Berichte von Amnesty International und der Wille einer kleinen Anzahl von Journalisten und Akademikern22, sich von den Erklärungen des algerischen Informationsministeriums zu distanzieren, einige Seiten einer viel komplexeren Realität enthüllen konnten. Wie Libération, als Kommentar zu dem Bericht zur Gewalt von Amnesty vom Oktober 199423 titeln wird: bewaffnete Gruppen und Staat, „keinem von beiden darf recht gegeben werden“. Der Generalsekretär der FLN, der viel schneller als viele der „Demokraten“ aus der Sackgasse der Ausmerzungs-Option zurückfand, wird die Stichhaltigkeit dieser ersten Verdachtsmomente offiziell bestätigen, indem er im November 1994 in Rom erklärt:
Es gibt Länder, die den unbekannten Soldaten haben. Wir, wir haben die unbekannten Leichen. Diese Leichen, von denen kein einziges Kommuniqué zu sprechen bereit ist, deren Summe aber das Volk aufrechnet. Wir haben wiederholt die Einsetzung unabhängiger Untersuchungskommissionen gefordert, um den Staat von dem Verdacht zu befreien, der ihm die Urheberschaft dieser Verbrechen zuschreibt. Unsere Bitten blieben unbeantwortet. […] Wir haben der internationalen Öffentlichkeit und insbesondere vielen europäischen Ländern zu verstehen gegeben, daß die Gewalt nur auf einem Phänomen des Terrorismus beruht, das eine Behandlung durch den Sicherheitsapparat verlangt. Allerdings, trotz aller Wirrungen, die es erfuhr, ist, was in Algerien geschieht, weit davon entfernt, auf dem Terrorismus zu beruhen: Es ist eine Widerstandsbewegung, die die Unterstützung eines Teiles der Bevölkerung genießt.
Verspätete, aber wesentliche Erklärungen für die, die die Chronologie und die Struktur der „islamischen“ Gewalt verstehen wollen.
In Algerien haben sich in der Tat all diejenigen in Gefahr gebracht, die gedacht haben, in Arabisch ebenso wie in Französisch, daß sie gegen den Willen einer offenkundigen Mehrheit des Volkes mittels Eisen und Blut ewig an der Macht bleiben könnten. Die Gewalt, der sie sich zunehmend konfrontiert sehen, ist in vieler Hinsicht nur die, die manche unter ihnen ausgelöst, andere herbeigewünscht oder tatkräftig legitimiert haben. Während sich die Massenverhaftungen vervielfachen, die barbarischsten Folterungen alltäglich werden, während die Familien der wirklichen oder mutmaßlichen Sympathisanten des islamistischen Lagers die verstümmelten, verbrannten, zerschossenen, kastrierten Körper ihrer Angehörigen auffinden, während sich die extralegalen Hinrichtungen und die kollektiven Vergeltungsmaßnahmen weit verbreiten, verlassen die außerordentliche Selektivität und die außergewöhnliche Parteinahme der Ausmerzer-Presse den Bereich des „Journalismus“, des „Denkens“ oder des „Verstandes“ zugunsten desjenigen eines erbarmungslosen Krieges, in dem die von den beiden Lagern ausgetauschten Schläge die gleichen Eigenschaften einer identischen Gewalt haben.
Das Bild eines „doppelten Terrorismus“, dem sich die internationalen Beobachter geschwind anschließen werden, beinhaltet nichtsdestotrotz eine gefährliche, verschleiernde Dimension. Wenn sie zweifelsohne der gleichen Familie angehören, wenn sie mit derselben Entschiedenheit verurteilt werden müssen, so bilden die „beiden Terrorismen“ dennoch in der Tat sehr eigentümliche Zwillinge. Der „islamische Terrorismus“ entstammt fürwahr dem radikalen Abdriften (und unter Vorbehalt zukünftiger Untersuchungen der möglichen Neigung einiger seiner Mitglieder) einer machtvollen popularen Bewegung, die zweimal siegreich aus den Wahlen hervorging und aus diesem Grund einer ungeheuren Repressionsoffensive ausgesetzt wurde. Der Terrorismus des radikalen Flügels der algerischen Militärherrschaft ist hingegen nichts anderes als der Rückzugsort, die Lösung der Verzweiflung, die letzte Karte eines Regimes, das nicht nur von seinen angestammten Wählern verlassen wird, sondern von ganzen Bataillonen seiner eigenen Belegschaft.
Die „Erklärung“ der Gewalt läuft seitdem über die Wiederherstellung einer wesentlichen Kausalität. Die „beiden algerischen Terrorismen“ sind keine Zwillinge: der eine hat sehr bewußt den zweiten hervorgebracht und sodann überdies dessen Entwicklung gefördert. Für die Herrschaft war die Radikalisierung des islamistischen Lagers weniger ein Hindernis als die logische Konsequenz ihres Vorgehens; doch obendrein wurde diese Radikalisierung zum beabsichtigten Ziel ihrer Strategie, zum unerläßlichen Verankerungspunkt ihrer lokalen und internationalen Kommunikationspolitik. Wenn der „islamische“ Terrorismus nicht des Terrorismus des Regimes bedarf, so ist das Gegenteil noch längst nicht wahr. Denn die Militärs fürchten weniger die Gewalt von blinden Bomben, die ihrer vermeintlichen Rolle des „Wächters des zivilen Friedens“ zuträglich ist, als die der Wahlzettel, die dazu angetan sind, das Ausmaß ihres Mißkredits zu bezeugen. Die blinde Gewalt ist mithin nicht nur sehr indirekt nachteilig für sie, sondern in vielerlei Hinsicht24 haben sie ein vitales politisches „Bedürfnis“ danach.
Es wird mithin den Historikern des Algerien der neunziger Jahre und nur ihnen obliegen, uns eines Tages zu sagen, wer seit Februar 1992 wirklich wen ermordet hat. Es wird ihnen freilich zu diesem Zweck obliegen, die Verwicklungen der „islamischen“ Gewalt und der repressiven Gewalt aufzuklären. Sie werden ferner die schwierigere Aufgabe haben, den Einfluß einer gar nicht so sehr politischen Kriminalität zu erfassen, die der Zerfall des Rechtsstaates und Tausende auf freien Fuß gesetzte Gefangene beträchtlich verstärkt haben. Es wird zudem an ihnen sein, den Anteil der internen Gewalttätigkeiten beider Lager zu bemessen, die für lange ausschließlich den Islamisten zugeschrieben wurden.
Ein Teil der staatlichen Gewalt hat in der Tat innerhalb des Regimes darauf abgezielt, die Anhänger einer Verhandlungslösung oder all diejenigen, in denen der „Ausmerzungsglaube“ („foi éradicatrice“) zu wanken droht, einzuschüchtern. Die Ermordung von Mohammed Boudiaf im Juni 1992 liefert dazu ein beredtes Beispiel. Die Ermordung von Kasdi Merbah im August 1993 ebenso: selbst wenn sich zu ihr, wie zu vielen späteren, ordnungsgemäß „die GIA bekannte“ und die Namen der mutmaßlichen Täter, die allerdings zuvor verstorben waren, der Presse angezeigt wurden, gehört der Mord an dem Ex-Premierminister (und ehemaligen Verantwortlichen des Geheimdienstes) und dem Vorsitzenden der kleinen Partei MAJD, der Vermittlungsversuche mit Repräsentanten der FIS im Exil unternommen hatte, höchstwahrscheinlich in eben diese Kategorie.25 Aber jedenfalls diejenigen an bestimmten Persönlichkeiten, die für zu kritisch erachtet wurden und deren Tod auf alle Fälle mit Gewinn, wie wir sehen werden, auf das Konto der „Gewalt der FIS“ verbucht werden konnte.
Denn die Historiker werden außerdem und vor allem die unzähligen Provokationen auflisten, auf die das Militär offenkundig seine Politik der Kommunikation und Mobilisierung gründete. Hocine Ait-Ahmed, der Vorsitzende der FFS, hat als einer der ersten diese „Kultur der Manipulation“ öffentlich kritisiert, die seit langem das algerische Regime kennzeichnete und seit Februar 1992 eine wichtigere Rolle denn je spielte. Seither erlaubt eine weitere Leseweise, das algerische Abdriften besser zu verstehen: einmal die ausländischen Korrespondenten verjagt, die Sonderberichterstatter terrorisiert, den Vermittlern der lokalen Presse einen Maulkorb verpaßt, indem die Ermordung von mehreren Dutzend Persönlichkeiten des kulturellen und religiösen Lebens beauftragt wurde, haben die algerischen Militärmachthaber die westliche Öffentlichkeit mit einer betäubenden Perfusion eingelullt, die ihnen ermöglichte, unter Ausschluß der Blicke und der internationalen Mißbilligung eine seit dem Krieg gegen den Kolonisator nicht dagewesene Repression ins Werk zu setzen.
Der radikale Flügel der islamistischen Strömung, die „militärisch gekleideten Islamisten“, hat gewiß eine aktive Rolle in diesem unheilvollen Geschäft gespielt. Zweifelsohne fähig, „den Anderen“ zu töten aufgrund allein seiner religiösen oder rassischen Andersartigkeit26, hat der extremistische Flügel der Bewegung in der Tat die Rolle gespielt, die von ihm erwartet wurde: mit den „als Islamisten verkleideten Militärs“, nämlich den geheimen Einheiten der Armee, eine tödliche Kollaboration zu flechten.
Das Ziel des Regimes gegenüber der internationalen Öffentlichkeit war in der Tat, die Ausmerzungs-Option als die einzig gangbare erscheinen zu lassen. Die Verriegelung der Presse, das systematische und erstaunlich wirkungsvolle Lobbying des Milieus der Assoziationen und der französischen Medien erreichten schnell, den normalen Informationsfluß über die Struktur, die Verteilung und die Logik der Gewalt zu verwirren. Für die Manipulatoren aller Seiten erwies sich die Aufgabe fürwahr als überraschend einfach. Es genügte, eine sehr instinktive Abneigung gegenüber der islamistischen Strömung zu umschmeicheln, damit die sonst so feinsinnige, französische Intelligentsia sich einer außerordentlichen Leichtgläubigkeit befleißigt und die Presse akzeptiert, die Verlautbarungen der Geheimdienste getreu zu reproduzieren. Bei dem geringsten Wink mit der militärischen Kelle aus Algier haben Fernsehen und Radios an der Spitze, Zeitungen mit „seriösem“ Ruf und oftmals gutgläubige Aktivisten in ihrem Kielwasser lange Zeit derart mit einem ausnehmenden Eifer geantwortet, mit sich überbietenden Schlagzeilen der Anklage, hetzerischen Leitartikeln, racheschnaubenden Berichten, einstimmigen „Diskussionen“ und unumstößlichen Karikaturen. Die FIS „stürzt sich auf die grauen Zellen“. Sie „ stemmt sich gegen die Intelligenz“ und die „Kultur“. Sie „verbietet das Denken“. Als am 29. Juni 1992 Boudiaf von denjenigen, die ihn an die Macht gebracht hatten, ermordet wurde, sprossen von allen Seiten die kategorischen Erklärungen, einschließlich natürlich derer, die ganz gutgläubig „die Rechte des Menschen“ und „der Frauen“ „gegen den Integrismus“ zu verteidigen gedenken. „Boudiaf“, wie eine dieser Analysen lautet, „verkörperte mehrere Symbole […]: das des historischen Helden […] und das der Integrität […]. Es ist dieses doppelte Symbol, das beseitigt werden mußte.“27 Da zeigt sich der Anfang einer Erklärung, da ja jeder weiß, daß die Integrität eine für Islamisten unerträgliche Tugend ist. Und die algerischen Spezialisten der Kommunikation waren zur Stelle, um zur Ausfeilung der Analyse beizutragen. Ist Boudiaf in einem Kulturhaus ermordet worden? Das ist kein Zufall, wird somit Rachid Boudjedra den Fernsehzuschauern von TF1 „erklären“, und zwar weil „die FIS das Denken, die Intelligenz und die Kultur haßt.“28
Innerhalb des Landes war die Aufgabe des Regimes offenbar lange nicht so einfach. Es mußte eine selbstredend besser informierte und weniger leichtgläubige Bevölkerung mit allen Mitteln von der „islamistischen Sackgasse“ abbringen, in der sie den „unbegreiflichen Fehler“ begangen hatte, sich zu verirren. Auf dieser Seite des Mittelmeers reichten also Worte nicht mehr aus.
Von einem Terrorismus zum anderen
Trotz der kurzen Einlage – oder für eine gewisse Zeit verdeckt – des flüchtigen Reformversuchs von Mohammed Boudiaf war das Ziel, mit allen Mitteln die bewaffneten Gruppen mit dem Einsatz blinder Gewalt gleichzusetzen, um die FIS von ihrer Basis abzuschneiden. Zwei Techniken wurden in den Dienst dieses Vorhabens gestellt. Das grenzenlose Grauen der Repression verlieh zuerst den Thesen des extremistischsten Teils der islamistischen Bewegung eine beispiellose Gültigkeit und provozierte nicht eben überraschend Gegenschläge entsprechend der Methoden des Staates. Die Messer werden nicht sicherer töten als die Kugeln. Aber sie werden Schlagzeilen im Dienst der Mobilisierung machen.29
Alle Arten von Manipulationen haben hinfort die erwarteten Effekte dieses ersten Ansatzes komplettiert. Zahlreiche Zeugenaussagen erwecken den Gedanken, daß unter den „als Militär verkleideten Islamisten“ meistens einfache… Militärs mit Auftragsbefehl steckten. Um die Bevölkerung, die ganze Bevölkerung, in das „antiterroristische“ Lager umschwenken zu lassen, schickte es sich in der Tat, daß dieser politische Dividenden abwerfende Terrorismus nicht nur Repräsentanten des Regimes trifft, sondern daß alle Kategorien der Gesellschaft gleichermaßen darunter leiden müssen.
Indem jede Bekanntgabe der Verluste auf seiten des Regimes untersagt wurden, hat sich die offizielle „Information“ sehr schnell darauf beschränkt, nur der Gewalt gegen Zivilisten Rechnung zu tragen, die ausschließlich den Islamisten zugeschrieben wird. Hinter diesem Schleier sind die alltäglichen Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen die Familien der Maquisards systematisch letzteren zugeschrieben worden, und die Aktionen der nächtlichen Quälereien (Einschüchterung, Raubüberfälle, sexuelle Angriffe), die vorgeblich von den „als Militär verkleideten Islamisten“ begangen werden, wurden in allen Bereichen der Gesellschaft im Namen bewaffneter Gruppen verübt; eine „Assoziation der Opfer des Terrorismus“ wurde gegründet, um mittels von den Medien groß herausgebrachter Unterstützungsmärschen die politischen Dividenden der Operation zu ernten. Auch wenn dies dem Schrecken der Verbrechen, für die zweifelsohne das islamistische Lager die Verantwortung trägt, nichts abträgt, sind mehrere der am meisten mediatisierten Morde an Persönlichkeiten, die wegen ihrer Popularität in verschiedenen Bereichen der nationalen oder internationalen Öffentlichkeit ausgewählt wurden, höchstwahrscheinlich auf die Rechnung dieser Operation zu setzen. Ebenso wie ein Teil der unpopulärsten Wirtschaftssabotagen, der Angriffe auf die Symbole des Nationalismus (Schändung der Gräber der Helden des Befreiungskrieges), der Inbrandsetzungen von Schulen und öffentlichen Gebäuden, der blinden Explosionen wie diejenige am Flughafen von Algier am 26. August 199230, der makabren Inszenierungen gefolgt von besonders provokanten Bekennerschreiben31 etc.
Männer und Frauen – freilich sind die „unumstößlichen“ Beweise noch nicht verfügbar, aber man verfügt über sehr dichte Stränge von Zeugenaussagen und Indizien32 – sind gestorben allein wegen des Vorteils, den ihre Mörder aus der Ablehnung, die bei ihren Anhängern ausgelöst wird, zu zielen trachteten. Jedes Segment der öffentlichen Meinung wurde wohlüberlegt und planvoll anvisiert, jede soziale, ethnische oder soziokulturelle Mobilisierung desgleichen, um sie von ihrem natürlichen Lauf abzubringen und gegen das islamistische Lager zu instrumentalisieren: die Frauen gewiß, aber gleichermaßen die Studenten, die Liebhaber des Fußballs oder des Rai, die Berber, die moderaten Islamisten usw. Latente oder offene Spannungen wurden ausgenutzt, andere verstärkt, wenn sie nur vage glaubwürdig waren (Fußball, Rai), oder gar vollständig oder nahezu kreiert (Universitäten, Schulen, Konsumenten), wenn sie nicht vorhanden waren.
Wer hat den Rai-Sänger Cheb Hasni in Oran ermordet? Wer genau hat im Herbst 1994 in den islamistischen Vierteln Hunderte von Schulen in Brand gesteckt? Bomben vor der Universität in Algier gelegt? Welche „bewaffneten Gruppen“ haben Gewalttätigkeiten gegen Frauen aller sozialen Milieus unter dem Deckmantel der „Rekrutierung von Frauen für die Maquis“ verübt? Etc. Lügt jener algerische Soziologe, wenn er unter dem Siegel der Verschwiegenheit erklärt, daß er, bevor er sich entschied, Algier zu verlassen, den Besuch eines Gesandten des islamistischen Lagers erhielt, um ihn zu informieren, daß sie die Verantwortung für seine Ermordung nicht tragen wollten, von der sie wüßten, daß sie von der Armee geplant sei? Ist es zutreffend, daß die Mutter jenes anderen, französischer Herkunft, nicht mehr auf den Markt geht, ohne von vier ihrer islamistischen Nachbarn beschützt zu werden, die „den moralischen Preis ihrer Ermordung durch die Sécurité Militaire nicht bezahlen wollen“? Ist es zutreffend, daß einige der Morde an französischen Staatsbürgern (insbesondere, aber nicht ausschließlich, an zwei Technikern eines Erdölunternehmens) erleichtert wurden durch den ebenso plötzlichen wie unerklärlichen Abzug des Schutzes der Armee? Ist es zutreffend, daß die Ermordung dreier französischer Gendarmen zwei Stunden früher geschahen, als offiziell verlautbart wurde, das heißt zu einer Zeit, als die Ausgangssperre alle Verkehrswege Algiers verschloß? Ist es zutreffend, daß die von der FIS gesandten Frauen zu der Familie von Mallek Alloula, einem weiteren durch die Medien aufgebauschten Opfer der „islamistischen Gewalt“, bestätigen kamen, daß die Islamisten nichts damit zu tun hätten? Ist es zutreffend, daß der Psychiater Mahfoud Boucebci, „Vorzeigefall“ der „integristischen Barbarei“, sich gerade zwei Tage, bevor er ermordet wurde, mindestens zweier Eradicateur-Majestätsverbrechen schuldig gemacht hatte: die Weigerung, eine psychiatrische Expertise über den mutmaßlichen Mörder des Präsidenten Boudiaf, die die These des verstörten Einzeltäters bestätigt, zu unterschreiben; sowie die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission zu den genauen Umständen der Ermordung des Schriftstellers Tahar Djaout, da die unter der Folter erzwungenen Geständnisse des mutmaßlichen Mörders ihn in keinster Weise überzeugt hatten? Lügt jener christliche Geistliche, wenn er sagt, daß er die Sécurité Militaire mehr fürchtet als die Islamisten?
Manipulationen
Die algerische Armee mußte die Wälder der Kabylei mit Napalm verbrennen, um dort unzählige Maquisards, so sehr berberisch wie islamistisch, auszuheben. Einer der wichtigsten Führer des gemäßigten Flügels der FIS, Mohammed Said, der sich später der GIA anschloß, deren Chef er für eine gewisse Zeit werden sollte, ist berberischer Herkunft, wie auch der Anführer einer anderen bewaffneten Gruppe (Said Mekhloufi) oder zahllose andere Aktivisten des islamistischen Lagers. All dies wird nicht verhindern, daß die Karikatur einer Kabylei – für die islamistische Mobilisierung undurchlässig, ebenso „demokratisch“ wie „gebirgig“ – in den westlichen Medien triumphieren wird. Der Mouvement Culturel Berbère (berberische Kulturbewegung), so unbestreitbar seine Vitalität sein mag, hatte sich doch bislang gegen den FLN-Staat gerichtet und zwar viel mehr als gegen seine Herausforderin, die FIS. Die politische Manipulation bestand hierbei, mit einem gewissen Erfolg, darin, den Lauf einer antistaatlichen Mobilisierung umzulenken, um daraus eine anti-islamistische Waffe zu machen, einschließlich der Bewaffnung von Dorfmilizen, die dazu bestimmt sind, gegen Vergütung, die „Maquisards zu bekämpfen“. Trotz des Gegenfeuers seitens des islamistischen Lagers wird das Manöver zumindest teilweise gelingen.
Nicht alle Opfer der „islamistischen Barbarei“ sind zwingend unter den Kugeln des Regimes gefallen. In diesem Bereich der extremen Gewalt hat die mediale Manipulation der gemeinen Kriminalität auch ihren Platz. Abrechnungen aller Arten – zwischen Verbrechern und Polizisten, aber nicht nur – , alle Arten von Rivalitäten – berufliche, aber auch private -, „politische“ oder einfach sexuelle Motive sind sehr systematisch und sehr professionell auf das Konto der „Terroristen der FIS“ verbucht und von den Medien für beide Seiten des Mittelmeeres hochgespielt worden.
Nein mein Herr, sprach uns einmal ein Gendarm an, der gerade aus seiner Heimat Algerien kam, die FIS ist gar nicht so wichtig […]. Die vorgestrige Ermordung des Arztes, von der heute so viel gesprochen wird, also ich kann ihnen sagen, daß die FIS wirklich nichts damit zu tun hat. Ich kannte ihn gut, er war dafür bekannt, daß er gefälschte Einweisungsbescheide austellte. An ihn wendete man sich, um sich von seiner Frau zu scheiden! Es gab einen richtigen Handel: Das hat ihm den Tod eingebracht, und nichts anderes!
Ist eine junge Frau von ihrem Verlobten ermordet worden (1993), „weil sie ihn gerade verlassen hatte“? Ihr Name wird nichtsdestotrotz Hunderte von Malen in den Medien der ganzen Welt gepuscht als ein Opfer „der Weigerung, den Hijab zu tragen“.33
Als am 1. November 1994 eine Bombe in einem Friedhof in Mostaganem hochging und vier junge Pfadfinder tötete, die sich zur Feier des vierzigsten Jahrestages des „Toussaint rouge“ von 1954 versammelt hatten, waren die Kameras dort seit zwei Tagen aufgebaut, obgleich eigentlich nichts ihre Anwesenheit an einer der unzähligen Stätten des Gedenkens an den bewaffneten Aufstand von 1954 rechtfertigte. Der Schrecken, der mit der Ankündigung durch Präsident Zeroual zusammenfällt, daß „der Dialog mit der gewaltbereiten FIS unmöglich ist“ und die begonnenen Verhandlungen mit der FIS abgebrochen werden, wird diesmal von der Wirkung einer Quasi-Direktausstrahlung profitieren. Gemäß eines gut eingeschliffenen Szenarios wird der mutmaßliche Schuldige einige Tage später am Ende einer Verfolgung festgenommen werden, in der er leider sein Leben verlieren wird und die öffentliche Meinung jede Möglichkeit, die Gültigkeit seiner Geständnisse zu verifizieren.
Während einige Tage nach dem Attentat die Kommunikationsspezialisten des RCD über alle Sender Frankreichs herfallen, beschreibt in einem der wenigen der algerischen Presse verbliebenen Freiräume eine Feder, die man am liebsten als – wenn diese Terminologie nicht so schrecklich abgegriffen wäre – „demokratisch“ und „feministisch“ bezeichnen würde, die von der „Association des victimes de la violence terroriste“ organisierte Demonstration:
Bei genauem Hinsehen halten die Mütter der Verschwundenen die Lippen geschlossen. Die Zipfel der m’laya […] zwischen den Zähnen, die sie nur öffnen, um eine lange Klage entwischen zu lassen. Wenn sie den Mund öffnen würden, um den Namen ihrer Söhne herauszuschreien, wären ‘sie’ wohl fähig, ihnen ein ‘Vive le président’ gewaltsam unterzuschieben. Trotz der uniformen Leseweisen, trotz des zwanghaften Kreisens des herrschenden politischen Codes, der uns im Sturmschritt vom Schmerz zum Haß treiben soll, besagen die Wortfetzen zwischen den Weinkrämpfen, daß die Mehrzahl nicht verdummt ist. […] Eingeladen zu einer Demonstration der Verurteilung der Gewalt, werden sie sich mit den Fotos ihrer Kinder abfilmen lassen bei einer Demonstration zur Unterstützung des Präsidenten. Die Portraits des letzteren sind so groß, daß die Bilder der Verschwundenen […] wie von einem schamlosen Schleier überdeckt sind. Ungleicher Kampf zwischen dem Schmerz und der Manipulation. […] Die das Portrait des Präsidenten tragen, haben den Blick derer, die es getragen haben und es weiterhin tragen werden.
Salima Belkacem schließt:
Übrigens hat man schnell die offiziell vorgebrachte Forderung an die Bürger vergessen, am 1. November eine brennende Kerze in ihr Fenster zu stellen. Wir haben an diesem Tag Algier nicht erleuchten sehen. Eine Demonstration ist wahrlich einfacher zu manipulieren als die Fenster eines ganzen Landes.34
1 Mohammed Harbi, „L’ambivalence des relations franco-algériennes“, Le Monde, 20. 8 1994.
2 Siehe Ahmed Rouadjia, Grandeur et décadence de l’Etat algérien, Paris 1994; Lahouari Addi, L’Impasse du populisme, und L’Algérie: collectivité politique et Etat en construction, Alger 1990, und l’Algérie et la démocratie. Pouvoir et crise du politique dans l’Algérie contemporaine, Paris 1994; Ignace Leverrier, „Le Front islamique du salut entre la hâte et la patience“, in Gilles Kepel (Hrg.), Les politiques de Dieu, Paris 1993; Séverine Labat, „Islamismes et islamistes en Algérie, un nouveau militantisme“, in Gilles Kepel (Hrg.), Exils et royaumes. Les appartenances au monde arabo-musulman, Paris 1994.
3 Jacques Vergès, Lettre à des amis algériens devenus tortionnaires, Paris 1993; siehe auch die von „Reporters sans Frontières“ gesammelten Zeugnisse, in: Le Drame algérien, Paris 1994.
4 Wir erinnern an die Ergebnisse des ersten Wahlganges: Von 13 258 554 eingetragenen Wählern haben 7 822 625 gewählt. Die FIS erhielt 47,27 % der Stimmen (d.h. 24,54 % der Stimmberechtigten), dahinter liegen die FLN (23,38 % der Stimmen, 12,17 % der Stimmberechtigten) und die FFS (7,40 % und 3,85 %). Die RCD hat lediglich 200 267 Stimmen erhalten (2,90 % der Stimmen und 1,51 % der Stimmberechtigten)
5 Union Générale des Travailleurs Algériens, die Einheitsgewerkschaft. (Anm.d.Ü.)
6 Pierre Guillard, Ce fleuve qui nous sépare: lettre ouverte à l’imam Ali Benhadj, Loysel 1994.
7 17 von der FIS, 30 von der FFS und 34 von dem MDA Ben Bellas.
8 Ihm gehören an der Premierminister Sid Ahmed Ghozali, der Außenminister (Lakhdar Brahimi), der Justizminister (Hamdani Benkhelli), der Verteidigungsminister (General Khaled Nezzar) und der Innenminister (General Larbi Belkheir) wie auch der Stabschef Abdelmalek Guenaizia.
9 Die gleiche Bezeichnung benutzte eine bewaffnete Gruppe in den achtziger Jahren, von Mustapha Bouyali geleitet, der im Februar ‘87 erschossen wurde. Die Kämpfer dieses ersten bewaffneten Kerns, dessen Wiedererscheinen im Laufe des Jahres ‘91 registriert wurde, waren von Präsident Chadli am 1. November ‘89 begnadigt worden. Sie scheinen sich später auf die verschiedenen bewaffneten Gruppen, MIA und auch GIA (s.u.), aufgeteilt zu haben.
10 Unter dem fast vollständigen Stillschweigen der frankophonen „éradicatrice“-Presse, siehe Abed Charef, Algérie, Le grand dérapage, La Tour-d’Aigues 1994. Zur Ambivalenz der Stellung der „frankophonen“ Intellektuellen und dem Ursprung ihrer relativen Marginalisierung, siehe die Artikel von Gilbert Grandguillaume und Lahouari Addi in: Esprit, Januar 1995.
11 Eine der ersten bewaffneten Gruppen wird im Herbst 1991 bekannt werden, durch ihren Angriff auf eine Grenzschützer-Kaserne in der Region von El-Oued.
12 Unter ihnen Said Mekhloufi, der zum Chef einer der wichtigsten bewaffneten Gruppen werden wird.
13 Bezeichnung für die „Glaubenskämpfer“, die Anfang der achtziger Jahre in den Kampf gegen die sowjetische Armee in Afghanistan getreten waren.
14 Der erste Mord, zu dem sich die GIA bekennt, wird der an dem früheren Premierminister Kasdi Merbah sein. (s.u.)
15 Die organisatorische Einheit dieser Gruppen oder die Homogenität ihrer Doktrin wird nie klar bezeugt werden. Mehrere von ihnen, der FIS nahestehend (darunter die von Abderazaq Rajjam und Mohammed Said), werden im Mai 1994 entscheiden, sich der GIA in einem Versuch der Vereinigung anzuschließen, was zeigt, daß die ideologische oder politische Differenz zwischen den verschiedenen bewaffneten Zweigen bei weitem nicht vollständig war. Mitglieder der AIS sollen nach der Unterzeichnung der Plattform von Rom im Januar 1995 sich der GIA angeschlossen haben. Die Manipulationen der Geheimdienste zielten lange Zeit darauf, innerhalb des islamistischen Lagers Streit zu säen, indem sie das Bild eines Krieges lancierten, der zweifelsohne nur sehr bedingt stattgefunden hat, und interne „Abrechnungen“ in der Absicht inszenierten, die verschiedenen bestehenden Fraktionen gegeneinander aufzubringen.
16 Die sich insbesondere von dem Mord an zwei spanischen Nonnen (August ‘94) distanzierte.
17 Rachid Mimouni, Le Monde 18. Mai 1994: „Die Terroristen haben geschworen, die algerischen Intellektuellen einen nach dem anderen umzulegen. Es ist keine bloße Drohung, da mehr als ein Dutzend von ihnen schon ermordet worden ist. […] Es ist das erste Mal in der Geschichte, daß man eine terroristische Bewegung sieht, die sich vornimmt, die ganze Intelligentsia eines Landes auszumerzen, als ob es sich um Unkraut oder eine Krankheit handelte. Das Vorhaben besteht darin, das Land zu enthaupten.“
18 Jacques Vergès, op. cit.; siehe auch: Comité algérien des militants libres de la dignité humaine et des droits de l’homme, Livre blanc sur la répression en Algérie (1991-1994), Plan-les-Ouates, 1995, Band 1.
19 Rachid Mimouni, De la barbarie en général et de l’intégrisme en particulier, Paris 1992, (Albert-Camus-Preis).
20 Rachid Boudjedra, FIS de la haine, Paris 1992. Dt. Übersetzung: prinzip haß. pamphlet gegen den fundamentalismus im maghreb, Mainz 1993.
21 Siehe insbesondere Malek Bennabi, Vocation de l’islam, Paris 1954 und Mémoires d’un témoin du siècle, Algier 1965.
22 Die Autoren des bereits angeführten Buches „Reporters sans frontières, Le Drame algérien“, das besonders die historischen Wurzeln der gegenwärtigen Situation hervorhebt, in dem es die „fünf Pfeiler“ (die Manipulation der Geschichte, der militärische Geheimdienst, die Ölrente, die Korruption, der Regionalismus) der „paradoxalen Diktatur“ analysiert, die in Algerien seit mehr als dreißig Jahren geherrscht haben. Die Erscheinung dieses Werkes konnte allerdings den Ton der audiovisuellen Medien nicht merklich beeinflussen. Über die Mechanismen der Desinformation der französischen Medien siehe auch Rabha Attaf und Faust Giudice, „La grande peur bleue“, Les Cahiers de l’Orient, März 1995; die deutsche Übersetzung des Artikels findet sich in diesem Heft. Siehe: Die große blaue Furcht, Fragen zu einem Krieg ohne Gesichter.
23 Ein übrigens sehr vorsichtiger Bericht, um nicht zu sagen ängstlich. Es ist nicht uninteressant zu wissen, daß die humanitäre Organisation in Bezug auf die repressive Gewalt in Algerien wie in Ägypten schwere Spannungen durchlebt hat: in Belgien hat sich ein Teil der Aktivisten geweigert, der Verurteilung der Repression gegen die Islamisten sich anzuschließen.
24 Diese Logik ist tatsächlich an ihre Grenzen gekommen, seitdem (nach der Entführung des Airbus der Air-France im Dezember 1994) die Zunahme der Aktivität der bewaffneten Gruppen begann, die internationale Öffentlichkeit an der Fähigkeit der Militärherrschaft zur Kontrolle ihrer eigenen Sicherheitsorgane zweifeln zu lassen, a contrario die populare Unterstützung, die dem islamistischen Lager zukommt, bezeugend.
25 Siehe insbesondere Hamid Barrada, „1993: l’assassinat de Kasdi Merbah“, in: Le Drame algérien, op. cit., 98.
26 Blinde Übergriffe wurden wahrscheinlich gegen die Familien der „reumütigen“ Aktivisten oder als solche von der Polizei bezeichneten unternommen. Die Logiken der Blutrache haben daraufhin die Struktur der Konfrontationen noch mehr verwischt.
27 Politis, 2. Juli 1992.
28 idem.
29 All diejenigen, die es wagen werden, die herrschenden Wahrnehmungen zu nuancieren, werden derart obendrein erfahren, daß ihnen das bleibende Etikett eines „Freundes der Kehlendurchschneider“ angeheftet wird, wie es dem Autor dieser Seiten widerfuhr durch Rachid Boudjedra am 17. Dezember 1994 auf der Welle von France Culture.
30 Die unter der Folter erpreßten Geständnisse der mutmaßlichen Urheber dieses Attentats haben die Beobachter niemals überzeugt. Siehe insbesondere Jacques Vergès, op. cit.; und José Garçon, „L’attentat de l’aéroport“, in Le Drame algérien, op. cit., 186.
31 Die beiden Frauen, denen „die Kehle durchgeschnitten wurde, weil sie sich einer Zeitehe widersetzten“ (September 1994), gehörten einer Mudjahidin-Familie an. Die meisten Brandstiftungen in Unternehmen sind genauso suspekt, eine große Anzahl unter ihnen brannten, bevor sie einer finanziellen Wertschätzung vor der Privatisierung unterzogen werden sollten. Wohnviertel und auch ganze Regionen wurden dafür, daß sie für die FIS stimmten, „bestraft“ mit der Aussetzung der Beamtengehälter, der Zerstörung der öffentlichen Infrastrukturen, der Einziehung der Fahrzeuge, dem Embargo auf lebensnotwendige Medikamente etc.
32 Die letzte und nicht unwichtigste Quelle, sind die Bekenntnisse einer Gruppe algerischer Polizisten im klandestinen Exil in Frankreich. Sie bezeugen in spektakulärer Weise einen vom Staat geplanten Terrorismus. Dutzende von Polizisten, ausgewählt unter den in ihren jeweiligen Vierteln besonders beliebten Beamten, sollen durch den militärischen Sicherheitsdienst ermordet worden sein, „wie um die Leute zu schockieren, zu empören“. Die Polizeimilizen sollen sich an jeder Art von Übergriffen beteiligt haben, insbesondere an Einbrüchen in Schmuckgeschäften. (Le Monde, 7. März 1995, Untersuchung von Dominique Le Guilledoux)
33 Es ist der Zufall einer öffentlichen Diskussion über Algerien in Frankreich, der ermöglichen wird, es zu erfahren. Nachdem eine junge Algerierin eine Gruppe algerischer Eradicateurs einen ihr nur allzu vertrauten Namen rufen gehört hatte, wird sie mit Tränen in den Augen aufschreien: „Fürs erste, S., sie war meine Freundin! Es war ihr Freund, der sie getötet hat, weil sie ihn verlassen wollte.“ Der Tod von S., „ermordet wegen der Weigerung, den Schleier zu tragen“, hatte dennoch einige Tage später die Ermordung durch Kugeln zweier Schülerinnen, die sich dafür entschieden hatten, ihn zu tragen, durch eine „Organisation des jeunes Algériens libres“ „gerechtfertigt“.
34 La Nation, 5. November 1994.