Algerien: Die Große Blaue Furcht
Fragen zu einem Krieg ohne Gesichter
Rabha Attaf, Fausto Giudice*
Algérie: La Grande Peur Bleue, Les Cahiers de l’Orient, 1er trimestre 1995.
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“: wenn es heute ein Land gibt, in dem diese Maxime, die Marcel Ophüls in seinem Film „Veillées d’armes“ über den Krieg in Bosnien auf eindringliche und eigentümliche Weise darstellte, ihren ganzen Sinn findet, dann gewiß in Algerien.
Eine Flugzeugentführung und elf Tote – ein algerischer Polizist, ein vietnamesischer Diplomat, ein französischer Koch, vier junge Algerier und vier Weiße Väter – waren nötig gewesen, damit die französischen Medien am Vorabend des neuen Jahres (1995) „den neuen Algerienkrieg“ entdecken. Die Algerier ihrerseits wußten, daß sie sich seit Anfang des Jahres 1992 im Krieg befanden. Aber die vierzigtausend Toten, die dieser Krieg in drei Jahren gekostet hat, haben hier weder einen Namen noch ein Gesicht, mit Ausnahme einiger Dutzend Franzosen oder algerischer Persönlichkeiten. Plötzlich gab es endlich die Bilder und den Ton, so lange erwartet, leicht wahrzunehmen, greifbar und billig. Von nun an wird das franko-algerische Schattentheater seine Aufführungen geben, bis zur Erschöpfung der Schauspieler oder der Zuschauer.
„Zielscheibe Frankreich“, „Frankreich im Krieg“, „Krieg mehr denn je“: der Überfluß an Titeln und Untertiteln kann jedoch die Schwäche der Analysen und die Dürftigkeit der Infomationen nicht verschleiern, die die französischen Medien der Öffentlichkeit liefern. Alles ist also gesagt worden, ohne irgendetwas aufzudecken. Dieses schwindelerregende Kunststück hat einen Namen: die Desinformation. Ergebnis: eine geschwätzige Nachrichtensperre.
Ist dieser „neue“ Algerienkrieg wirklich erst an dem Tag „auf französischem Boden gelandet“, als der entführte Airbus in Marignane aufsetzte? Um diese Frage zu beantworten, müssen zunächst andere gestellt werden. Dieser eigenartige Algerienkrieg ist nämlich durch eine besondere Trübheit charakterisiert, die herrührt aus dem Wesen selbst der algerischen Herrschaft, des Protagonisten – im etymologischen Sinne der „ersten Rolle“ – dieses Krieges.
Geschwätzige Nachrichtensperre
Im Unterschied zum Krieg in Bosnien oder selbst in Tschetschenien geschieht der Krieg in Algerien ohne Kriegsberichterstatter, ohne Frontberichte, ohne „Live“, ohne Bilder: unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Die französische Presse, wie die ausländischen Medien im allgemeinen, hat keine Berichterstatter mehr in Algier, und die Sonderkorrespondenten haben seit zwei Jahren keinen Zugang mehr zum Land. Die französischen Medien sind seither darauf beschränkt, sich einer einzigen Quelle zu bedienen: das Büro der Agence France-Presse (AFP) in Algier. Die Journalisten dieses Büros sind der Zensur des Kriegszustandes unterworfen und arbeiten zudem unter den Einschränkungen, die diesem französischen öffentlichen Dienst auferlegt werden: keine einzige Information, die für die französischen Interessen als schädigend betrachtet wird, wird von dieser Agentur verbreitet.
Die algerische Presse ihrerseits, die selbstverständlich täglich im algerischen Büro der AFP durchgesehen wird, enthält nichts anderes als offizielle Informationen und präsentiert sich einheitlich in zwei Formen: einerseits der „Kommuniqués der Sicherheitsdienste“ und andererseits der „Exklusiv-Dokumente“, die von eben diesen Diensten ausgegeben und manchmal mit Allzweck-Pseudonymen unterschrieben werden. Der verbleibende Platz in diesen Zeitungen wird eingenommen von Meldungen über Regierungsaktivitäten, die die staatliche Agentur APS ausgibt, Werbeanzeigen von Staatsunternehmen und gewissen Neuigkeiten des Typs „gezielt gestreuter Gerüchte“.
So ist also die Informationssperre auf der Bühne dieses Krieges selbst, Algerien, total. Hinter den geschlossenen Türen der Information erleben wir seit 1993 einen Ringelreihen zwischen Algerien und Frankreich: eine von den algerischen Sicherheitsdiensten produzierte Information wird von den französischen oder europäischen Medien reproduziert, nachdem sie die algerische Presse und die AFP durchlaufen hat, um in Algerien erneut zu erscheinen, diesmal gedeckt mit dem Gewicht der französischen oder europäischen „seriösen Presse“. Dies vermehrt ihre Chancen, eine gewisse Glaubwürdigkeit gegenüber einer algerischen Öffentlichkeit zu erlangen, die gewiß abgestumpft ist, aber zugleich derart nach Informationen dürstet, daß sie eine rührende Naivität bewahrt hat. Die französischen Medien sind sich über den zweifelhaften, unsicheren und erbärmlichen Charakter dieser Art Informationen bewußt und bedienen sich zweier sich ergänzender Quellen, die das Publikum „aufklären“ sollen.
Die erste hochgepriesene Quelle: die Experten. Aber nicht irgendwelche! Die Logik würde gebieten, daß man sich an Spezialisten wendet, die für die Seriosität ihrer Arbeiten bekannt sind. Aber nein! Was die Mediatisierung eines solchen Experten und nicht eines anderen entscheidet, ist die Fähigkeit, seine Äußerungen in den herrschenden Diskurs zu integrieren. Seit dem Staatsstreich von Januar 1992 sprossen übrigens die „Doktoren des Islamismus“ und andere Neo-Orientalisten wie Pilze aus dem Boden. Gewisse Experten, die immer willens sind, auf dem Bildschirm zu erscheinen, um die „Hintergründe“ mit einer verblüffenden Überzeugung zu erklären, zögern nicht, sogar vorauszusagen, was geschehen wird!
Dieses Phänomen war in den achtziger Jahren bekannt, bezüglich der „Immigration“. Gewisse „Immigrations“-Experten haben sich übrigens problemlos in Experten des „Islamismus“ verwandelt. In beiden Fällen ist die Bedingung sine qua non der Diktatur der „Experten“, ihres Redemonopols, allemal das Schweigen derjenigen, über die sie, die Experten, sprechen. Die Medien, insbesondere das Fernsehen, die den Revisionismus live praktizieren, haben die „Experten“ in die Falle der Amnesie gelockt: die gesammelten Erklärungen desselben Experten über einen Zeitraum von wenigen Monaten widersprechen und heben sich gegenseitig auf. Kurz, man kann sie alles und nichts sagen lassen! Das Wesentliche ist zu sprechen, durch ein möglichst brillantes Geschwätz, das schreckliche Schweigen der Hauptbetroffenen zu besetzen: die algerische Bevölkerung und Gesellschaft, im Lande oder in der Diaspora, das globale Algerien. Diese „Experten“ in Sachen Islamismus, wahre Instant-„Doktoren“, glossieren dieselben von den Sicherheitsdiensten ausgegebenen Informationen. Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Zweite Quelle: die Algerier im Ausland, ob „Sprecher“ oder „Journalisten“. Die „Sprecher“ politischer Gruppen verbreiten Propagandareden, die, um das mindeste zu sagen, alles andere als informativ sind. Bei den algerischen „Journalisten“ sind Anführungsstriche geboten: es ist zwecklos auf den Journalismus, den sie in Algerien gelernt haben, womöglich durch zusätzliche Praktika in Moskau, Belgrad oder Bukarest ergänzt, böswillig herumzuhacken. Bevor sie dieses Titels würdige Frauen und Männer werden können, bedürften sie zugleich einer geistigen Frischluftkur, lange Weiterbildungskurse und vor allem müßten sie die Fäden kappen, die ausnahmslos jeden und jede von ihnen mit den um ihr Überleben kämpfenden Clans des algerischen Regimes verbinden. Das ist das große Programm, erste Voraussetzung, damit man eines Tages von einem algerischen Journalismus ohne Anführungsstriche sprechen kann, das dasjenige solcher Organisationen wie Reporters Sans Frontières hätte sein müssen. Der einfache Weg, für den man sich entschieden hat – „adoptiert einen algerischen Waisenjournalisten“ -, hat nur die Maschinerie der Desinformation gestärkt.
Und weil das alles nicht reicht – je mehr das Papier mit diesen Quellen geschwärzt wird, desto weniger ist man imstande, den algerischen Krieg zu verstehen -, bleibt nur das letzte Mittel: die französischen „gut informierten Kreise“, die in Klartext nichts anders sind als Polizei- und Nachrichtendienste: RG, DST, DGSE, DRM. Alle wissen es jetzt: Für die algerischen und muslimischen Angelegenheiten sind in Frankreich vor allem die Innen- und Verteidigungsministerien zuständig. Das Außenministerium hängt außer Atem weit zurück. Leider sind diese „gut informierten Kreise“ Diener eines Staates, dessen Verantwortliche sich in diesem Krieg als parteiisch zu betrachten scheinen. Der beauftragte Dienst hat nie und nirgends zur Aufdeckung der Wahrheit beigetragen. Die verschiedenen genannten Dienste führen zudem auch noch Krieg untereinander, so daß man sich weit entfernt von der algerischen Realität befindet. Diese verliert sich im Sumpf der Kriege der franko-französischen Clans, die sich umso mehr zuspitzen, je näher die Präsidentschaftswahl rückt. Und in dem Reigen der algerischen und französischen Clans kann man wirklich sein Latein verlieren.
Ist dieser teuflische Ausschluß der Öffentlichkeit, der diese so geschwätzige Nachrichtensperre hervorbringt, also „ein Komplott dunkler Mächte“, um die algero-algerische Terminologie zu benutzen? Sehen wir zunächst, was dieses Geschwätz zu sagen hat.
Vulgata
Welche ist im Endeffekt die wesentliche Mitteilung, die uns die oben beschriebene algerisch-französische Medienküche über diesen algerischen Krieg serviert hat? Man kann sie folgendermaßen zusammenfassen:
Die FIS, eine aufrührerische Partei, die beschlossen haben soll, einen islamischen Staat einzurichten, der direkt den Okzident bedroht und allen voran Frankreich, ist daran gehindert worden, auf dem legalen Weg an die Macht zu kommen, an den sie selbst nicht glaubte, da sie sich in jedem Fall auf eine gewaltsame Machtübernahme vorbereitet hatte. Als sie verboten wurde, spaltete sie sich in zwei Hauptgruppen, die den Terrorismus praktizieren. Die eine, die GIA, hat mit der FIS gebrochen und praktiziert den radikalen Terrorismus. Die andere, die AIS, auch „bewaffneter Arm der FIS“ genannt, praktiziert einen moderaten Terrorismus. Beide, gemeinsam oder getrennt, bilden eine Hydra mit zahlreichen Köpfen, die, sobald sie abgeschlagen werden, nachwachsen. Die Bevölkerung nimmt als ohnmächtige und passive Geisel an dem Konflikt zwischen den beiden Hardlinern der beiden Lager teil. Aber die Kriegsparteien werden sicherlich eines Tages verhandeln müssen: ‘Wir haben schließlich auch mit der FLN verhandelt…’ Im übrigen hat der Staatspräsident, General im Ruhestand Liamine Zeroual, Befürworter des Dialogs, indem er die Führer der FIS freiließ, alles versucht, um dieses Ziel zu erreichen. Sie haben das Spiel nicht mitgespielt und zum Kampf aufgerufen. Kriegsmüde beschloß der Staatspräsident, zum Lager der Hardliner überzugehen und kündigte am 31. Oktober 1994 die ‘Dampfwalze’ an, eine totale Repression, die ‘die endgültige Ausmerzung des Terrorismus’ gefolgt von Präsidentschaftswahlen vorsieht. Die Kampagne der Ausmerzung des Terrorismus wird von da an eine Intensivierung erfahren, die bis zu Tausend Tote in der Woche mit sich bringt. Die radikalen Terroristen haben, um der ‘Dampfwalze’ entgegenzuwirken, daraufhin beschlossen, Frankreich, der Christenheit und… der ganzen Welt, zumindest ihrem Räderwerk, den Krieg zu erklären: Geiselnahmen, Morde an Weißen Vätern, Ultimaten an westliche Botschaften, Kriegsvorbereitungen an der ‘zweiten Front’ in Frankreich und Europa…
In diesem Stadium des Diskurses beginnt die französiche demokratische Debatte:
– „Verhandelt!“, sagen manche, die eher zu sagen scheinen „laßt uns verhandeln!“
– „Ausgeschlossen!“ antworten die anderen. „Man verhandelt nicht mit Terroristen!“
– „Aber schließlich haben die Israelis auch verhandelt!“
– „Dann warten wir bis ein Arafat erscheint, gegebenenfalls fabrizieren wir einen!“
Diese verführerische Botschaft übersteht leider nicht eine Reflexion über die unbestreitbaren Tatsachen, die sie ausradiert. In drei Jahren ist der Protagonist dieses Krieges zunehmend in den Hintergrund gerückt, als sei er nur ein blasser Komparse auf einer Bühne, die von den „Gotteswahnsinnigen“ beherrscht würde. Dennoch hat er die gegenwärtige Kriegssituation geschaffen.
Ohne Anführungsstriche
Es muß also endlich von diesem algerischen „Regime“ gesprochen werden. Die französischen Medien setzen eifrig Anführungsstriche, wenn sie diese zufällig als das bezeichnen, was sie ist, nämlich eine Militärjunta. Allerdings ist hier dieser Begriff mindestens genauso zutreffend wie bei der Bezeichnung des griechischen, indonesischen, argentinischen oder chilenischen Militär-Polizei-Regimes.
Nichts rechtfertigt die Rücksichtnahme und die Nachgiebigkeit im Fall der Gruppe von Generälen, Obersten, Kommandanten und Untergebenen, Militärs und Polizisten, die um den harten Kern herum – Médiène, genannt Taoufik; Lamari, genannt Massu; Smail, Touati, Zeroual, Ghénaiza, Ghézaiel, Nezzar, Betchine, usw. – die algerische Junta bilden. Was die Anführungsstriche betrifft, mit dem die Medien den „Coup d’état“ vom 11. Januar 1992 versehen, so sind sie nur insofern gerechtfertigt, als daß es sich nicht um eine Machtergreifung einer Gruppe von Verschwörern handelte, die zuvor von der Macht ausgeschlossen waren, sondern vielmehr um einen Gewaltakt aus dem Inneren der Macht, eines Clans gegen den anderen, auf dem Rücken der Islamisten und der popularen Opposition, die wenig oder gar nicht von den zugelassenen politischen Parteien repräsentiert wurden.
Wir erinnern an die Höhepunkte des Gewaltaktes: Annullierung des Wahlprozesses, Absetzung des Präsidenten Chadli Bendjedid, Verkündung des Ausnahmezustands, gefolgt von Ausnahmegesetzen, die jede Freiheit, selbst formaler Art, außer Kraft setzen, also Auflösung der FIS und der 1990 gewählten Kommunalversammlungen, administrative Internierung Tausender Abgeordneter und Oppositioneller in Lagern unter harter Zucht in der Sahara und Errichtung von Sondergerichten. Von da an setzt sich eine höllische Maschinerie in Bewegung, nicht von alleine, sondern auf Veranlassung des „Häufleins Generäle“, die seither das Gesetz machen oder besser gesagt auseinandernehmen. Chadli, dreizehn Jahre lang Paravent dieser Generäle, wird von einem neuen und vielleicht letzten Schirm ersetzt, Boudiaf, ein altes, unschuldiges Pferd. Chadli, der 1979 nach dem Tod Boumediennes geradezu zufällig ausgesucht und als Idiot abgestempelt wurde, hatte den Generälen eine Lektion erteilt, dadurch daß er sich einiges herausgenommen hatte und fast zum Staatsmann geworden war, in jedem Fall ein zu dynamischer Manipulator, er, der ja doch nur hätte manipuliert werden sollen. Er hielt sich in den Jahren 1988-89 für den algerischen Gorbatschow und teilte mit dem Schöpfer der Perestroika vor allem… einen ruhmlosen Sturz.
Die Generäle und ihre Mitverschwörer hatten sich vorgenommen, daß man sie beim Spiel des Zauberlehrlings nicht mehr erwischen würde. Boudiaf hatte also nicht mal die Zeit eine einzige Akte zu öffnen: man hatte ihn nicht deswegen „vorgeladen“. Er verstand es nicht und starb daran. Weniger als zwei Monate nach Boudiaf wurde Kasdi Merbah ermordet. Der Mann, der durch seine lange Karriere an der Spitze der Sécurité Militaire „alles über alle wußte“, kam gerade von einer Reise zu „Kontaktaufnahmen“ in Europa zurück, als er im August 1993 in einer professionell durchgeführten Operation umgebracht wurde. Dies sollte einer der ersten Morde sein, der der seither berühmten und dennoch geheimnisvollen GIA zugeschrieben wurde, ohne daß in Algerien jemand jemals glaubte, daß es sich um etwas anderes gehandelt hätte als um eine vulgäre Abrechnung innerhalb des Herrschaftsapparates. Eine Woche später wird ein Massaker auf dem Flughafen von Algier es möglich machen, auf etwas effizientere Art als im Fall Merbahs, neun Tote auf das Konto eben dieser „GIA“ zu verbuchen. Nicht daß der darauffolgende Prozeß irgendjemanden von der Schuld der anwesenden, schrecklich gefolterten Angeklagten überzeugt hätte, aber die Erschütterung und Angst, die in der Bevölkerung durch dieses Mini-Massaker an Unschuldigen auslöste, trug dazu bei, den Schrecken zu etablieren, das mindeste, das die Verantwortlichen mit diesem Attentat erreichen wollten, von dem man annehmen kann, daß es bis zum heutigen Tag ungestraft blieb.
Terror
Wenn ein Begriff den Zustand Algeriens heute trefflich bezeichnet, so ist es weniger der des Krieges, sondern vielmehr der des Terrors, und zwar ohne Anführungsstriche. Diese „sehr große Furcht“ – erste Definition, die die Wörterbücher für Terror angeben – ist der gesamten algerischen Bevölkerung eingeimpft worden, von oben nach unten, vom Zentrum in die Peripherie, durch eine Reihe bewußter und absichtlicher Taten, die als „programmes sanitaires“ figurieren. Wenn die Mittel undurchsichtig und die Agenten gesichtslos sind, ist das Ergebnis dieser „Impfkampagne“ jedenfalls umso klarer: daß jeder auf seinem Platz bleibt, um den Preis des Verschwindens derer, die sich weigern, an dem Platz zu bleiben, der ihnen zugewiesen wurde. Das ist der Sinn der physischen Eliminierungen, wie derjenigen Boudiafs oder Merbahs, oder der politischen, wie der Chadlis, Hamrouches oder Kafis und morgen Zerouals. Die algerischen Generäle haben eine sehr genaue Konzeption der Maxime: „den richtigen Mann an der richtigen Stelle“. Diese Konzeption ist in ihren praktischen Anwendungen dem Recht, der Moral und selbst der Ideologie völlig fremd. Die Personen, die ganz vorne auf die Bühne plaziert werden, um die offiziellen Ämter zu besetzen, sind immer wie Damokles gewesen. Jedesmal wenn sie geglaubt haben, unabhängige Entscheidungen treffen zu können, hat man sie daran erinnert, daß sie Stohmänner sind, die – um einen Begriff des benachbarten Siziliens anzuwenden – den Entscheidungen der „Kanzel“ unterworfen sind.
Denn es ist ja wohl notwendig, dem einen Namen zu geben, was keinen Namen hat, in diesem Fall dieser Art „permanentes Forum“ der zu Generälen erhobenen Obersten, die in einer organisierten kollektiven Neurose ihren Platz in der algerischen „Nomenklatura“ endlos verhandeln und wiederverhandeln. Durch eine einzige Sorge vereint – die Machterhaltung -, liegen sie in ständigem Streit über alles andere, was sich reduzieren läßt auf das wie. Wie an der Macht bleiben, wie die Villa bewahren, wie das Schweizerkonto auffüllen, wie die Kontrolle über jenes Staatsunternehmen bewahren, wie jene Provision für einen Importvertrag erhalten, wie die Kontrolle wieder erlangen über jenen Sektor, jenen Markt, jene Straße, jenen Grenzposten, jene Kaserne… kurz, jenen Weg der Bereicherung.
Diese Spannung, die aus Verhandlungen und Konflikten besteht, hat zugespitzte gewaltsame Formen angenommen, die allerdings nichts grundsätzlich neues sind. Seit dem Unabhängigkeitskrieg sind die Formen der Machtausübung durch eine „Kanzel“ gewaltsam und skrupellos gewesen. Nie belastete man sich mit juristischen Vorwänden. Der Versuch Boumediènes, einen Rechtsstaat zu definieren, in seinem ursprünglichen preußischen Verständnis „Recht des Staates, Staat zu sein“ mißlang und sollte nur für eine kurze Zeit die Kräfteverhältnisse innerhalb der „Kanzel“ bändigen. Die Masse an Geld im Spiel – phantastische Provisionen, die die Obersten und ihre Mitverschwörer, Technokraten in Zivil, in der gesegneten Epoche der „industrialisierenden Industrien“ erhielten und aus manchen von ihnen einen Krösus machten – war zu gewichtig, als daß irgendeine Verfassung, und sei sie eine „Charta der Revolution“, ein Gegengewicht sein könnte.
Die Logik, die diese algerische Form der Machtausübung bestimmt hat, war eine Kriegslogik. Aber die algerischen „Krieger“ haben in gewisser Weise der Maxime von Clausewitz eine Erneuerung hinzugefügt. Wenn für sie in der Tat „die Politik eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ ist, sind die Methoden, die sie verwendeten, nie sehr entfernt gewesen von denen, die sie während des Krieges einsetzten. Die starken Männer der „Kanzel“, die „Familien“-Chefs, die sie bilden, stammen in der Tat von der Grenzarmee, die von ihren Positionen in Marokko und Tunesien aus das unabhängig gewordene Algerien eroberte. Diese Eroberung war weit davon entfernt, pazifistisch zu sein, und verlief blutig, ohne jemals die Errichtung eines Staates zu erreichen, dessen Legitimität von allen akzeptiert und anerkannt worden wäre.
Die Algerier sind also immer noch im Jahre Null der Errichtung dieses Staates: verschiedene bewaffnete Banden streiten um das Monopol der Gewaltanwendung und es ist unmöglich zu wissen, wer gewinnen wird. Die verdeckten Interessenskonflikte brechen im Oktober 1988 aus, als, um der von Chadli angedrohten politischen und ökonomischen „Öffnung“ entgegenzutreten, der Clan, der sich am meisten bedroht sah, den städtischen Aufruhr auslöst, in den die marginalisierte Jugend der Haupstadt hineingerissen wird. Bilanz: 500 Tote oder mehr. Dann werden sieben Jahre des erschöpfenden Zyklus der „krummen Schläge“ folgen. Da das Ziel die Mittel rechtfertigt, werden alle Mittel gut sein, um die verallgemeinerte und allseitige Konfrontation in ein geschlossenes Feld zu verwandeln. Die Abhängigkeit gegenüber den ausländischen Geldgebern und westlichen Finanzinstitutionen ist von nun an derart, daß die Protagonisten des „Schlachtfeldes“ all ihre Ressourcen mobilisieren mußten, um über ihren Kampf ums eigene Überleben ein „schönes Bild“ zu produzieren. Bis jetzt ist es ihnen sehr gut gelungen. Im Vergleich zu ihnen erscheinen die Bildmanipulatoren des Studio 4 des rumänischen Rundfunks und Fernsehens, die Handwerker der ersten „direktübertragenen Umwandlung einer Diktatur in eine Demokratie“, wie Amateure.
Immer wieder la Bleuïte
Die spezifisch algerische Form des Terrors, die der gesamten algerischen Gesellschaft und darüber hinaus der französischen und europäischen Öffentlichkeit eingeimpft wurde, hat einen Namen und eine Geschichte: la Bleuïte.
Diese Pathologie bezieht ihren Namen nicht von den Einwohnern der Vendée, die ihre republikanischen Henker von 1793 so bezeichneten, sondern von der blauen Kleidung, die die Spezialisten der Antiaufstandsbekämpfung des Kapitän Leger im Algerien des Befreiungskrieges trugen. Diese französischen Militärpolizisten und ihre algerischen Handlanger waren auf die „Intoxikation“ des Feindes, der FLN, spezialisiert. Ihre Hauptmethode bestand darin, Aktivisten oder Verdächtige zu identifizieren, festzunehmen, zu foltern und wieder in Umlauf zu bringen. Wenn sie wieder frei waren, wurden sie von ihren Kameraden verdächtigt und hingerichtet. Langsam, aber sicher verbreitete sich la Bleuïte, diese zugespitzte Form der politisch-militärischen Paranoia, in konzentrischen Kreisen so weit, daß Massaker zwischen Algeriern provoziert wurden, die in nichts den Roten Khmer, den Milizen Ruandas oder dieser guten alten Vendée nachstehen. Niemand wurde von der Krankheit verschont und im unabhängigen Algerien ist niemand letztlich davon geheilt.
Was die französischen Spezialisten durch ihre originellen Methoden, die sie in ihrem verlorenen Kampf gegen die vietnamesischen Kommunisten lernten, ausrichten konnten, gelingt ihren algerischen Nacheiferern noch besser. Den von den Franzosen geschaffenen falschen nationalistischen Maquis – eine andere Kriegstechnik, die am Ursprung der Bleuïte steht – entsprechen heute die falschen „islamistischen Maquis“, die in Wirklichkeit Maquis… der Armee sind! Gestern hießen sie z.B. „la force K“. Heute heißen sie „die GIA“. Aber die GIA existiert nicht. Die „GIA“s, islamistische bewaffnete Gruppen, wiederum existieren. Aber die Repräsentation, die unter dem Kürzel „GIA“ gegeben wird – eine radikale Organisation mit pyramidaler Struktur, an deren Spitze ein höchster „Emir“, um nicht zu sagen ein „Khalif“ und regionale „Unter-Emire“ stehen – entspricht nicht der Realität des aufständischen Terrains in Algerien. Dieser ähnelt in der Tat der „Jamaat Islamiya“ Oberägyptens: eine große Anzahl von aktivistischen Gruppen, die unabhängig voneinander in dieselbe Richtung agieren. Diese Gruppen entstanden aus der Notwendigkeit der Selbstverteidigung der popularen Viertel, die einer intensiven militärischen und polizeilichen Terrorisierung ausgesetzt waren, und praktizieren keinen „blinden Terrorismus“, im Gegensatz zu dem, was die Offiziellen über die Medien vermittelt, uns gerne glauben machen wollen. Aber je dicker die Lüge und erschreckender das Kürzel, desto besser geht es durch!
Die algerische Bevölkerung, von der drei Viertel den vergangenen Krieg nicht erlebt haben, ist dennoch nicht völlig diesem Phänomen ausgeliefert. Der Beweis dafür ist, daß der alltägliche Widerstand, der keine andere Waffe besitzt als die noch solidarischen menschlichen Beziehungen, noch nicht gebrochen wurde, trotz drei Jahren des Terrors. Die französische Öffentlichkeit sieht darin nur Blau. Das ist nicht neu, hat aber eine strategische Bedeutung. In der Tat, die Männer und Frauen, von denen die Zukunft Algeriens abhängt, gründen ihre Entscheidungen genauso auf Tatsachen, wie auf Bilder und ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit. Die Entscheidungen der nächsten Monate werden von ihrer Fähigkeit das „Blaue“ zu durchdringen, abhängen. Werden sie weiterhin Männern ohne Glauben und Gesetz Vertrauen schenken, die ein großes, reiches und großartiges afrikanisches Land auf den Zustand eines Vor-Ruanda heruntergebracht haben?
In Waschington, London und Paris, wo die finanziellen Entscheider und Geldgeber sitzen, stellt sich die einzig wahre Frage, die nicht lautet: „Hat der zweite Algerienkrieg die Grenzen überschritten?“, sondern vielmehr: „Wenn man nur die Fakten untersucht, hat der Schuldner – die ‘Kanzel’ – jegliche Zuverlässigkeit verloren, aber im Lichte der virtuellen Bilder ist er vielleicht das kleinere Übel. Also, soll man ihn noch als einen Freund betrachten und ihm einen neuen finanziellen Aufschub gewähren?“.
Dies ist in Algier die einzige Frage, deren Antwort die grauen Eminenzen interessiert. Diejenigen, die die Meinung in den demokratischen Ländern formen und umformen, tragen also eine große Verantwortung: werden sie sich lange von der Export-Bleuïte einschläfern lassen?
* Die Autoren sind unabhängige, in Frankreich tätige Journalisten. R. Attaf ist Mitautorin von Le Drame algérien; F. Giudice ist Autor von Têtes de Turcs en France und Arabicides.