Die Rhetorik des Terrors

Die Rhetorik des Terrors

Moussa Ait-Embarek, La rhétorique de la terreur, in: ders., L’Algérie en murmure, Plan-les-Ouates (Suisse) 1996

Denn fürwahr, es sind ja nicht die Augen, die blind sind, sondern blind sind die Herzen, die in den Busen sind.
Koran 22, 46

Einführung

Jede Lektüre der Zeugnisse von Folterungen, die in diesem Buch wiedergegeben werden, kann angesichts der frappierenden Distanz, die zwischen den Folterern und den Gefolterten existiert, nicht umhin innezuhalten. Der Schmerz ist für den Gefolterten ungeheuer präsent, während er für den Folterer, der sich der Eigenschaften dieser Qual bemächtigt, sie aber leugnet, abwesend ist. Für den Mann oder die Frau, die gefoltert wird, sind der Körper und der Schmerz von erdrückender Präsenz, während das Ich, die Stimme und die Welt abwesend sind. Für den Folterer ist diese Ontologie umgekehrt. Diese Distanz ist überdies aus der Sicht der sozialen Beziehungen ein Gegensatz und auf der moralischen Ebene ein Ausschluß.

Die Distanz des Folterers (seine moralische und spirituelle „Blindheit“ und „Taubheit“, um hier koranische Begriffe zu verwenden) ist nicht nur die Voraussetzung oder das Produkt seiner Macht. Sie ist auch seine Macht.

In diesem Text wird die Aufmerksamkeit auf die Analyse einiger Aspekte dieser Distanz gerichtet.

Man sagt, die Folter sei die physische Erfahrung der Lüge. Hier soll die Distanz als geistige Erfahrung einer Propaganda analysiert werden. Diese Diskussion wird sich insbesondere auf die Analyse einiger dominanter und gängiger Diskurse über die islamische Bewegung begrenzen. Diese entmenschlichenden und betäubenden Diskurse gehören zu den bekannten Themen des islamfeindlichen medialen und literarischen Konzerts französischer Sprache in Algerien. Diese Diskurse, die von den Medien des Regimes und von der Presse einiger Falangen der Medienoligarchien in Frankreich getragen, propagiert, wiederholt, argumentiert und illustriert werden, schüren eine surreale Atmosphäre der Angst, die den kritischen Geist einschläfert, das Gewissen erstickt und den Sinn für Verantwortung einschränkt. Sie untergräbt die menschliche Solidarität und organisiert die Komplizenschaft; sie gräbt die Distanz.

Die Dienlichkeit des Inhalts dieser Diskurse für die Folterpraxis wird von zahlreichen Untersuchungen1 deutlich aufgezeigt; sie illustrieren und beweisen, daß die zugespitzte soziale Differenzierung, die Entwertung des Menschen und der moralische Ausschluß im allgemeinen dem Einsatz von Folterzentren für als Opfer stigmatisierte Gruppen von Menschen vorausgehen. Diese Untersuchungen legen ebenso nahe, daß das Wesen und die Intensität von Differenzierung-Entwertung-Auschluß im Verhältnis zu Grausamkeit der Folterungen stehen. Nur der soziale Gegensatz, die menschliche Entwertung und der moralische Ausschluß ermöglichen die Institutionalisierung, die Anwendung und die Nicht-Verurteilung der Folter. Um zu befehlen, zu foltern, zu schweigen und daraus Nutzen zu ziehen, muß zuvor das Opfer aus der menschlichen Gattung verbannt, aus der moralischen Welt ausgeschlossen werden, mit dem Ziel, sich seines Leidens zu entledigen. Sonst flößen seine menschlichen Augen zuviel Angst ein.

Die für die Analyse dieser Diskurse verwendeten Dokumente sind journalistische oder literarische Texte in französischer Sprache, die zum größten Teil, aber nicht ausschließlich, von algerischen Autoren kurz vor (und seit) dem Staatsstreich vom 11. Januar 1992 publiziert wurden. Die Bestandsaufnahme der eng mit der Repression der algerischen Junta (in ihrer Form, ihrem Inhalt, ihrer Rechtfertigung, ihrer Rationalisierung und in ihren politischen Zielen) verbundenen wichtigsten rhetorischen Konfigurationen beinhaltet unter anderem die Rhetorik der Dämonisierung, den Diskurs der Negation, die Rhetorik der Bestialisation* und den Diskurs der Pathologie.2

Die Darstellung der Analyse jeder dieser Diskurse wird durch zwei Lesarten vorgestellt:

1 – Eine direkte Lektüre, die darin besteht, diese Diskurse vorzustellen und die Schlüsselreferenten, die sie bezeichnen, aufzulisten. Durch das Begreifen dieser Diskurse als für eine kulturelle Realität konstitutive Handlung, die die Formen des Zugriffs auf diese als das Andere definierten Referenten legitimiert und organisiert, legt diese direkte Lektüre auch die verschiedenen moralischen Positionen dar, die sie teilen und propagieren, sowie die besonderen Machtverhältnisse, die sie widerspiegeln und produzieren.

2 – Eine rückbezogene Lektüre, die darin besteht, die Ursprünge, die diese Diskurse offenbaren, sowie den kulturellen und historischen Kontext, in dem sie verankert sind, vorzustellen. Diese Lektüre in umgekehrter Richtung zeigt in der Offenlegung der Beziehungen der Abstammung und Analogie, daß diese Diskurse nur die nachgebildete Replik der französischen Repräsentation des Islam und der Muslime ist. Dieser Lektüre wird sich anschließen eine kurze Erklärung über den Übertragungsprozeß, durch den die algerische islamophobe Elite die französische symbolische Gewalt aufnimmt, um „andere“ Algerier zu geißeln. Kurz gesagt, diese Lektüre wird zeigen, daß diese Diskurse wesentlich die des Neokolonialismus und der Entfremdung sind.

Die Dämonisierung

Der dämonisierende Diskurs ist ein Vorgang der symbolischen Konzeptualisierung, der den Geist des Bösen, den Ghul, in anderen menschlichen Wesen objektiviert. Der gemeinsame Nenner der Repräsentationen dieses Ghul, der die algerischen journalistischen und literarischen Texte heimsucht, ist das Bild eines abscheulichen „Bärtigen“, eines Wiederkehrers des „Mittelalters“, „fanatisch“, „ungebildet“, „grob“ und „gewalttätig“. Es ist auch der „frérot3, der „Ganove des Islam“, „der Barbar im allgemeinen und der Integrist4 im besonderen“, der „Fundamentalist“5, der „Extremist“, der „Maximalist“ und der „Faschist“, der den sozialen Frieden bedroht. Mit seinen „Brüdern“ der „integristischen Internationale“ verschwört er sich, um die Herrschaft des „Reiches des Bösen“ herbeizuführen. Algerien und der Maghreb treten der „grünen Gefahr“ entgegen.

Nach dem Staatsstreich vom 11. Januar 1992 reproduziert die dämonologische Expertise diesen Ghul unter anderem als „Nazi“, „Terrorist“ und als „Grünen Khmer“.

Man nennt, benennt und vergibt Beinamen mit einem ganzen terminologischen Mosaik, das eine Menge von Ängsten anhäuft und aktiviert und eine Menge von Sünden amalgamiert. In diesem Krieg der Repräsentationen sorgen sich die Bürokraten des Grauens wenig um Kohärenz. Aber letztendlich ist das vorherrschende Bild, das sich ausgehend von diesem Diskurs ablagert, dasjenige der gefährlichen Fanatiker, die plötzlich aus dem Nichts oder aus der Wüste auftauchen. Auf der einen Seite sind sie bedrohlich, auf der anderen Seite scheinen ihre Opfer schweigsam.

Worauf zielen diese Bezeichnungen6 ab, die die betreffenden Menschen entmenschlichen, indem sie ihrer Substanz beraubt und als Schreckgestalten und Dämonen rekonstruiert werden?

Die hierbei entfaltete Rhetorik ist eine Taktik der symbolischen Abgrenzung, die sich auf die Angst, das Grauen und die obsessive Verstoßung des Anderen stützt. Die Reproduktion dieser Bilder und die Wiederholung dieser Bezeichnungen, die unentwegt von den meisten französischsprachigen algerischen Medien unternommen und mit Argumenten versehen werden, insbesondere nach dem Erscheinen der FIS auf der politischen Bühne, dienten – und dienen immer noch – offensichtlichen psychologischen und politischen Herrschaftszielen.

Die Erzeugung und Einpflanzung dieser sozialen Figuren der Angst und Verteufelung in die kollektive Vorstellungswelt zielen politisch auf das „Containment“ der islamischen Bewegung ab, sowie auf die Bestätigung der Legitimität der bestehenden Ordnung als Bollwerk gegen die Bedrohung, als letztmögliche Beschwörung der induzierten kollektiven Furcht. Diese Rhetorik der Dämonisierung beharrt auch darauf, die Repression vor ihrem Einsatz zu rationalisieren und währenddessen und danach zu rechtfertigen. Man erzeugt also das Anderssein in einer dämonischen Gestalt, um seine Legitimität abzustreiten und die Dringlichkeit seiner Ausmerzung in der Form eines moralischen Imperativs aufzuzeigen.

Die Unternehmer der Repression wedeln mit diesen islamischen Schreckenskreaturen an der Spitze ihrer Medienstäbe, weil die Angst die guten Gewissen absorbiert, durch einen Prozeß der moralischen Restrukturierung, in dem, weil die Furcht die einzige greifbare Realität geworden ist, der Andere seine Menschlichkeit verliert, da er als Träger der Furcht nur Schrecken ist. Er leitet den Prozeß der Kulpabilisierung ein: „Ich habe Angst vor dir, also bist du schuld.“

In seinen Überlegungen zu den spirituellen und ethischen Wurzeln der Akzeptanz von Folter bemerkt Fuchs:

Die Angst erlaubt sehr oft generell den Rückgriff auf die Folter. Der Andere ‘macht’ angst, er schafft sie buchstäblich, nährt sie soweit, daß er vor den Augen derjenigen, die Angst haben, jegliche reale Menschlichkeit verliert. Man hat dann die Möglichkeit, man hat das Recht, ihn auf das, was er schon in der Vorstellung ist, zu reduzieren: ein Nicht-Mensch, ein Objekt, der ein unheilvolles Zeichen trägt, da er Angst erzeugt […]

Diese Angst vor Anderen drückt sich vollkommen in der Folter aus. Der Andere ist zur Machtlosigkeit verdammt, wir haben ihn in der Hand. Und dennoch reicht es noch nicht; man muß weiter gehen, bis dieses Bild, das er trägt (für das wir selbstverständlich verantwortlich sind), aus ihm herausgerissen ist. Die Suche nach dem Geheimnis, der Information mittels Folter ist nur das Zeichen dieser absoluteren Suche, der nach dem von unseren Ängsten verborgenen Bild.7

Die Umwandlung der Dämonisierung der islamischen Bewegung in ein domestiziertes politisches und sicherheitstechnisches Kapital hat natürlich nichts originelles an sich. Die Beschwörung der „grünen Gefahr“, des „Reiches des Bösen“ und der „integristischen Internationale“, Ausdrücke, die offensichtlich dem westlichen Vokabular der Verteufelung des Kommunismus entnommen sind, erinnern an andere Instrumentalisierungen der Furcht als Kontrolltechnik in der Manipulation der soziopolitischen Ordnung, ein wiederkehrendes Phänomen in der Geschichte des Okzident.8 In Frankreich wurde sogar der politische Diskurs der Angst als konterrevolutionäres Schreckgespenst im Sturz der zweiten Republik angewandt (La Grande Peur). Deutschland, Italien und Spanien werden auch die Erfahrungen der großen sozialen Angst durchmachen, wie übrigens auch die vom revolutionären Jakobinismus verängstigte englische Bourgeoisie. Die Rhetorik der Hysterie wird gleichfalls im Amerika McCarthys erscheinen, während der Jagd auf Liberale, um die Rote Gefahr der „commies“ auszutreiben.9

Aber die algerische Junta instrumentalisiert den Diskurs der Dämonisierung der islamischen Bewegung nicht nur für die einheimische politische und sekuritäre Kontrolle. Die algerische Diplomatie stellt sich jetzt nach außen vor mit ihrer neuen Berufung, mit der Angst zu feilschen, mit dem Aufbau ihres Markenimage als letztes Bollwerk gegen die islamische Sintflut. Diese Diplomaten, die heute die Interessen ihres Landes verschleudern, gebrauchen, um sich an ihrer illegitimen Macht festzukrallen, die gleiche koloniale Politik, gegen die sie sich gestern vorsahen: „Die Angst vor dem inneren Feind schafft ein Vakuum, in das sich der äußere Feind stürzt.“

Man muß sagen, daß der Import-Export der „Grünen Furcht“ politisch lukrativ wird, in einer Weltordnung, in der der Islam immer mehr als die neue globale Bedrohung bezeichnet wird. Die zunehmenden Rufe nach einem politischen Kreuzzug gegen die „Grüne Gefahr“, den neuen „totalen Feind“,10 führen zur Schaffung eines Prellsteins des Andersseins, gegen den Europa konsolidiert wird, die Konflikte zwischen den kapitalistischen Blöcken verringert und mit dem neue Militärausgaben gerechtfertigt werden, um sich auf „regionale“ Kriege vorzubereiten. Einige Beispiele: Fukuyama, der Ideologe des „Endes der Geschichte“, behauptete, daß

die Revolution in Moskau meine These bestätigte: Es gibt nur noch ein Konzept der Legitimität für die entwickelte Welt, und das ist der demokratische und auf den freien Markt orientierte Liberalismus… Von nun an wird die Welt entlang anderer Linien unterteilt, die Dritte Welt und die islamische Welt werden zur wichtigsten Konfliktachse.11

Samuel Huntington ruft seinerseits zum politischen und militärischen Aufbruch des Okzidents auf, um vor allem gegen den Islam und den Konfuzianismus Widerstand zu leisten. Es sei notwendig,

die Expansion der militärischen Macht der konfuzianischen und islamischen Staaten zu begrenzen, die Verminderung der militärischen Kapazität des Okzidents zu stoppen und die westliche militärische Überlegenheit in Ost- und Südostasien aufrechtzuerhalten. […] Der Okzident muß eine ausreichende militärische und ökonomische Macht bewahren, um seine Interessen gegenüber den nicht-weslichen Zivilisationen zu schützen.12

General Helmut Willman, Chef des Eurocorps, behauptete letztes Jahr, daß es „absolut deutlich ist, daß die Bedrohungsachse gegen Europa sich nach Süden verschoben hat.“13 Dieses Jahr geißelte der Generalsekretär der NATO Willy Claes mehrmals „den islamischen Fundamentalismus“, insbesondere mit der Erklärung: „der islamische Fundamentalismus ist für den Okzident genauso gefährlich, wie es der Kommunismus war“. Der zionistische Präsident Chaim Herzog seinerseits bezeichnete kürzlich den „islamischen Fundamentalismus“ als „die größte Gefahr für die heutige freie Welt.“14

Aber über diese Zusammenfassung der politischen und sicherheitstechnischen Verwaltung der „integristischen Bedrohung“ durch das algerische Regime hinaus ist es jetzt an der Zeit, das Wesen der Sprache und der Bilder der Dämonisierung der islamischen Bewegung zu untersuchen, sie gegen den Strich zu lesen, um die kulturellen Schemata, die sie geschmiedet haben, zu durchdringen. Spiegelt diese dämonisierende Darstellung der islamischen Bewegung die kulturellen Wesensmerkmale unseres Volkes wider? In welchem historischen und kulturellen Kontext ist dieser Diskurs der Dämonisierung verwurzelt?

Aus deskriptiver Sicht springt es in die Augen, daß dieser Diskurs Repräsentationen ins Spiel bringt, die eine nachgeahmte Replik auf das Bild des Islam in Frankreich im besonderen und im Okzident im allgemeinen darstellen und ihren Daseinsgrund in den Fundamenten der Geschichte und der Kultur Europas haben. Denn das Bild des Islam, das dem kollektiven Gedächtnis des Okzidents innewohnt, ist auch das einer „fremden, gewalttätigen, intoleranten und fatalistischen“ Religion. Das ist die Religion des „Jihad, des Fanatismus, des Terrorismus, die die Frauen durch den Hijab und die Polygamie unterdrückt“. Nach der islamischen Revolution in Iran verwandelte sich das Bild des Muslim vom fettleibigen „Ölscheich“ (siebziger Jahre), der danach trachtet, den Okzident zu manipulieren, zum mittelalterlichen Gotteswahnsinnigen, wiedergekehrt, aber diesmal modernisiert und mechanisiert, ein Maschinengewehr statt eines Säbels schwingend. In Europa ist der Islam für die Rechte die Barbarei, für die Linke eine mittelalterliche Theokratie und für das Zentrum ein widerlicher Exotismus.

Aus analytischer Sicht müßte die Entstehung dieses Bildes untersucht, und die kulturellen und historischen Faktoren entziffert werden, die das okzidentale kulturelle Bewußtsein geprägt haben, das dieses hervorgebracht hat. Nach Garaudy15 entwickelt der Okzident eine Verachtung für nicht-okzidentale „Rassen“, Kulturen und Religionen ausgehend von einem Mythos der rassischen und kulturellen Überlegenheit. Obwohl sie die universelle Kultur und Zivilisation substantiell bereicherten, teilen die griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Traditionen das gleiche Stigma: Die Haltung gegenüber dem Anderen. Der Nichtgrieche oder der Nichtbürger Roms sind der Barbare; der Jude ist der Auserwählte Gottes; und die christliche Kirche ist die Erbin dieser Auserwählung. Dieser kulturelle Faktor ist allerdings unzureichend, um zu erklären, warum die muslimische Welt für eine schärfere Feindseligkeit und Beleidigung unter anderen Welten auserkoren wurde.

In den Studien über die Etappen der Herausbildung des europäischen Bildes vom Islam16 wird allgemein anerkannt, daß das besondere Trauma, das die fundamentale Feindschaft des Okzidents gegenüber der Welt des Islam ins Leben gerufen hat, auf das siebte Jahrhundert zurückgeht. In jener Zeit ist für den christlichen Geist die zivilisierte Welt besetzt mit dem Römischen Reich, dem Ruhm des Christentums, eine unwandelbare Realität; das Christentum ist die einzige Wahrheit, die einzig mögliche. Plötzlich wird in zwei Jahrzehnten das Römische Reich zusammenfallen; die Gewißheit wird verschwinden. Es ist dieses traumatisierende, tief in der westlichen Psyche verankerte Erlebnis, mit dem der Islam in das christliche Bewußtsein eindringt, das seither das Wesen selbst des Diskurses des Okzidents über die Welt des Islam modellieren wird. Während des Mittelalters wird die überwältigte, sich belagert fühlende christliche Kirche eine Propaganda auslösen – um die christlichen Geister vor der Apostasie zu schützen, das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber einer fortgeschritteneren Zivilisation zu kompensieren und die Kreuzfahrer aufzupeitschen -, die die das Verhältnis des Okzidents zum Islam beherrschenden Themen definieren wird. Die europäische Vorstellung sieht mithin den Islam als einen Betrug und eine absichtliche Verfälschung der Wahrheit; im Gegensatz zum Christentum, das der reine und authentische Ausdruck der göttlichen Wahrheit ist; sie betrachtet den Prophet Mohammed (s) als den Antichrist, im Gegensatz zu Jesus (s), dem Christus. Sie nimmt den Islam wahr als eine Religion des Schwertes und der Gewalt, im Gegensatz zum Christentum, der Religion des Friedens, die sich durch Überzeugung verbreitet; sie stellt sich den Islam vor als eine minderwertige, weltliche und in sexuellen Dingen (Heirat und Polygamie) permissive Religion, als Gegenpol des Christentums, der Religion des Asketismus, die die fleischlichen Lüste abtötet. Indem es sich im Gegensatz zum Islam definiert, entwertet Europa den Einfluß des Islam und übertreibt seine Abhängigkeit vom griechisch-römischen Erbe, das seine Renaissance kennzeichnen wird. Dieses Bild des Islam hat also eine tiefe Bedeutung für die Identität Europas.

Während der kolonialen Phase wird der Verteufelung des Islam und der Muslime neues Leben verliehen, um als moralischer Vorwand für die Massenrekrutierung in das Unternehmen der Kolonisation zu dienen. Der atavistische Instinkt, der seine Repräsentationen aus dem kollektiven Gedächtnis der Kreuzzüge schöpft, wird reaktiviert.

So stellt der französische koloniale Diskurs des Schauder-Islam den Muslim dar als eine Entität der irrationalen und unvorhersehbaren Gewalt:

All diese Revolten haben denselben Ursprung: Es ist ein Ehrgeiziger oder Neurotiker, der durch seine Predigten seine Mitgläubigen fanatisiert und gegen den Ungläubigen aufhetzt […] Es sind Schübe des mystischen Wahnsinns, plötzliche Explosionen des Fanatismus, unerwartete heftige Stürme bei klarem Himmel…17

Ein anderes Beispiel: der Franzose Emerit stellt sich den Muslim Algeriens und seine Sitten in folgenden dämonisierenden Begriffen vor:

wo der Boden bewohnbar ist, zeigt sich fast überall der Mensch unbemittelt an Intelligenz und Glück; das wilde Tier, das weniger elend ist als er, scheut nicht seine Anwesenheit und Nachbarschaft; er ist gezwungen, gegenüber den Monstren, denen er aufgrund seiner Sitten nahesteht und deren Beute er oft ist, diesen Schlupfwinkel zu behaupten, wo inmitten von Ängsten sein unentwegt bedrohtes Leben verfließt.18

Am Anfang der postkolonialen Phase scheint der Okzident angesichts einer zerrütteten, politisch, ökonomisch und kulturell quasi impotenten, zum Feld für das Spiel der Geschichte Europas gewordenen Umma seine Angst vor dem Islam auszutreiben und seine Feindseligkeit zu mäßigen. Aber wie wir sehen werden, werden während der Wiederanpassung der Erdölpreise, des Schocks der islamischen Revolution in Iran und seither jedesmal, wenn die kulturelle, ökonomische und politische Hegemonie des Okzidents durch Muslime in Frage gestellt wird, die Stereotypen der Angst und Verachtung reaktiviert und das ursprüngliche Trauma wiederbelebt. Da der Islam nur anläßlich politischer Krisen öffentlich diskutiert und nur durch traumatisierende Informationen erfahren wird, wird er wahrgenommen, als könne er nur für oder gegen den Okzident sein. Die Psychologie der Kreuzzüge tritt wieder an die Oberfläche: Das Beste der westlichen Welt wird immer dem Schlimmsten der muslimischen Welt gegenübergestellt; der Okzident fühlt sich ontologisch unschuldig und betrachtet die Welt des Islam als ontologisch schuldig. Der Islam ist unvermeidlich eine Bedrohung für die westliche Zivilisation, eine letzte Herausforderung für das Christentum. Muhammad Asad erklärt:

Die Kreuzzüge waren entscheidend, weil sie in der Kindheit Europas stattfanden, zu einem Zeitpunkt, als seine besonderen kulturellen Züge sich festigten, sein kulturelles Bewußtsein sich modellierte. Für Nationen wie für Individuen verharren die traumatisierenden Eindrücke einer Kindheit im späteren Leben, bewußt oder im Unterbewußtsein. Sie sind so tief eingegraben, daß sie durch überlegtere und weniger emotionale intellektuelle Erfahrungen eines fortgeschrittenen Alters nur schwer und nie vollständig entfernt werden können.19

Da die Rhetorik der Dämonisierung des Islam und der Muslime also ihre Sprache und Bilder aus dem kulturellen und historischen Bewußtsein Europas im allgemeinen und aus der kolonialen Mythologie eines französischen Algeriens im besonderen schöpft, wie soll dann der Tatsache, daß Algerier andere Algerier mit dem gleichen Diskurs überziehen, Rechnung getragen werden? Wie hat sich das westliche Bild des Islam auf unser Bewußtsein übertragen?

Kurz gesagt, der Prozeß der Übertragung dieser symbolischen Gewalt der westlichen Vorstellung im allgemeinen und der französischen im besonderen auf das algerische Bewußtsein reiht sich in den Transmissionsriemen20 ein, durch den die strukturelle Gewalt der internationalen Ordnung auf der nationalen Ebene verbreitet wird. Obwohl er sich seit der Unabhängigkeit in beschränktem und latentem Maße in einer bestimmten Elite manifestierte, ist es kein Zufall, wenn diese kulturelle, entfremdete21 und entfremdende Offensive zusammenfällt mit:

1 – der Konsolidierung der Wirtschafts- und Finanzmafia und der Repression der Militärjunta nach innen;

2 – der Einverleibung unserer Wirtschaft und der Vasallisierung des Regimes von außen.

Dieser verbale Angriff gegen den Islam – Grundlage unserer Identität und unerläßliche Voraussetzung für unsere kulturelle, ökonomische und politische Autonomie – ist gekoppelt mit der ökonomischen und politischen Dimension. Da die Macht sich auch in der Sprache sedimentiert, setzt dieser anti-islamische Diskurs der Verteufelung in den Köpfen Sinnesstrukturen in Gang, die Ideen und Aktionen derart kanalisieren, daß sie den Raum für die ökonomische, politische und kulturelle Durchdringung von außen (Frankreich insbesondere) schaffen und im Inneren das Fundament der algerischen Konzessionäre dieser Eindringung verstärken.

Diese Algerier, die sich zu den Konzessionären der französischen Verteufelung des Islam machen, nach Art der ökonomischen Konzessionäre und politischen Vasallen Frankreichs, versuchen ihre Herrschaft im Inneren durchzusetzen, wobei sie zugleich auch der Fremdherrschaft unterliegen. Aber da sie den Islam und die islamische politische Kultur ignorieren – unfähig, die traditionelle Symbolik zu beherrschen, unfähig, andere Werte zu entwickeln, die ihr erlauben, die anderen Schichten der algerischen Gesellschaft zu leiten -, ist diese Klasse von Mittlern nur imstande, die symbolische Gewalt Frankreichs aufzugreifen, wie sie auch nur seine politischen und ökonomischen Systeme nachahmen kann. Die französische kulturelle Offensive gegen den Islam ist die einzige Symbolik, die diese Klasse von Konzessionären beherrscht.

Ndamba bezeichnet in seinen Überlegungen über diese Problematik in Afrika diesen Typ der intra-nationalen Herrschaft als Selbstkolonisation und diese Art der Entfremdung als Selbstentfremdung. Er weist darauf hin, daß diese Gesellschaftsschicht die anderen beherrscht und entfremdet, ohne eigene Schemata entwerfen zu können, die ihr erlauben würden, von der fremden Vormundschaft sich befreiend zu regieren, ohne Kolonialherren. Er schreibt:

Das Problem für die autochthone innere Herrschaft ist, daß sie sich nur als Opposition zur Fremdherrschaft darstellt, zumindest aus der Sicht der Diskurstheorie. Aber zu diesem Zwecke kann sie nicht die symbolische Gewalt des traditionellen Systems benutzen, weil sie einerseits unfähig ist, die traditionelle kollektive Vorstellungswelt zu domestizieren; und andererseits würde das traditionelle System diese herrschende Schicht auf die gleiche Stufe stellen wie die übrige Bevölkerung, d.h. ohne eine Spur von Überlegenheit. Die Wiederaneignung der symbolischen Gewalt des traditionellen Systems bedeutet für sie zugleich, sich als herrschende Schicht auszuschließen. Da die Mechanismen der Entfremdung sie hindern zu schöpfen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die symbolische Gewalt des Kolonisatoren zu übernehmen und zu reproduzieren und die traditionelle Gewalt zu negieren. […] Die Ablehnung der traditionellen symbolischen Gewalt durch die führende Schicht (Elite oder „Intellektuelle“ genannt) erfolgt also einerseits aus ihrer Unkenntnis und Unfähigkeit, sie zu erfassen; andererseits aus der Tatsache, daß es die Bedingung sine qua non ist, um auf der Grundlage der westlichen symbolischen Gewalt, die allein sie meistert, zu herrschen. Deshalb bildet diese symbolische Gewalt, die ihre Erfüllung und Kurzfassung in der Sprache findet, keine Krücken, sondern Stelzen, die der vorgeblichen ‘Elite’ gestatten, zu laufen und zu beherrschen.

Man kann diesen Gedanken anders formulieren und sagen, daß, wenn die führenden Intellektuellen sich derart an die westliche Sprache [in unserem Fall die französische Sprache] klammern, dann nicht einfach aus Prestigegründen; auch nicht allein wegen des Gewichtes der symbolischen Gewalt […], sondern auch und vor allem aus der Notwendigkeit, sich von der Gesellschaft abzugrenzen, um diese mit ihrer Macht einzugrenzen.22

Kurz zusammengefaßt: diese Diskussion über den Diskurs der Dämonisierung der islamischen Bewegung, der von gewissen algerischen Autoren und Medien französischer Sprache in der Sprache und den Repräsentationen, die dieser Diskurs einsetzt, und als politisches und sekuritäres Kontrollinstrument betrieben wird, übernimmt und parodiert die kulturelle, historische und politische Erfahrung des Islam von Frankreich im besonderen und des Okzidents im allgemeinen.

In ihrer ganzen Geschichte haben die Muslime Algeriens weder vor dem Islam noch vor sich selbst Angst gehabt. Dieser Diskurs ist nicht nur derjenige der Entfremdung durch die Angst, sondern auch derjenige der Angst durch die Entfremdung.

Die Negation

Der Diskurs der Negation schließt eine rhetorische Strategie ein, in der der Andere begriffen wird als Abwesenheit, Nichts und Tod.23 Es handelt sich zugleich um eine Rechtfertigung und um eine Art Auslöschung, die einen Raum für den Aufmarsch des Willens und der Macht für die Verwalter der neokolonialen Ordnung freiräumt. Wie wir später sehen werden, folgt dieser Diskurs in Form und Inhalt auf Schritt und Tritt der kolonialen Rhetorik der Negation, die jede voraufgehende Forderung des algerischen Volkes nach historischer und kultureller Existenz geleugnet hat, um einen Raum für die Expansion der kolonialen Unternehmung und Vorstellung zu erzwingen.

Die Rhetorik der Negation durch Abwesenheit entfaltet in einer großen Anzahl von in Französisch verfaßten, algerischen journalistischen und literarischen Texten einen Diskurs, in dem die islamische Bewegung in Begriffen der Abwesenheit der Ordnung und des Geistes dargestellt wird.

Die Negation durch Abwesenheit der Ordnung

Die Konstellation der Bilder der Negation durch Abwesenheit der Ordnung bedient sich der Inkohärenz, der sozialen Unordnung und der Unruhe, die verbunden sind mit verschiedenen Formen des moralischen Niedergangs. In der gängigen Rhetorik dieser Medien wird die „islamistische Nebulöse“ (nébuleuse islamiste) angeführt und über die „islamistische Flut“ (déferlante islamiste) debattiert. Der Sieg der FIS in den Kommunal- und Parlamentswahlen war ein „Erdbeben“ (séisme), eine „Springflut“ (raz de marrée). Der erste Wahlgang der Parlamentswahlen ist ein „nationales Abdriften“ (dérive nationale). Algerien „schaukelt“ (ballote), seine „Zukunft steht auf der Kippe“ (son avenir est en ballotage). Die Wähler werden als diffuse Masse, als Gewühl (cohue) dargestellt. „Der Integrismus ist nicht die Rückkehr eines Volkes zu Gott. Es ist das Engagement einer Masse (foule), der man alles verweigert hat.“24 Rachid Kaci läßt sich in einem Artikel25 mit dem Titel „Die Massen, die Massen, welch großes Wort!“ über die Wählerschaft aus:

Die Massen, die Massen, welch großes Wort! Es ist eine träge Masse, im physikalischen Sinne. Man sagt allerdings, daß das Gewicht sich nicht ändert, wohl aber die Masse. Eine Masse, das sind all diese jungen Menschen, die unbedingt einen Psychiater brauchen.

In dieser nichtenden Wendung bezeichnet „Masse“ eine gewisse Kategorie von Algeriern als leblose Materie, als Entitäten ohne Seele. Diese entmenschlichende Repräsentation liefert einen moralischen Vorwand, der das Bewußtsein für die Realität einer menschlichen Wählerschaft verkürzt, reduziert auf ein rohes und biegsames Material („die Masse verändert sich“), leicht umzuformen durch die repressive Behandlung, die entfesselt werden wird.

In derselben Nummer von L’Hebdo Libéré unter dem Titel L’Urne fatale vergleicht Hadjira Mehannèche in einer Reportage über das Wahlverhalten der Frauen die Aktivitäten eines Wahlbüros in El-Biar mit denen eines anderen in Bab-El-Oued. Hier vereinen sich die soziale und die räumliche Unordnung. Der Raum, den die „Masse“ besetzt, ist das Chaos der Eingeborenen-Zone; Mehannèche stellt diesen Raum der sozialen und räumlichen Ordnung der „zivilisierten“ Zone entgegen. Sie schreibt:

Zuerst im Wahlkreis von El-Biar, wo die Ordnung und die gute Laune sich ziemten und der Vormittag zwischen Croissants und Café sich als einer der friedlichsten ankündigte […] Wir sprechen einige Frauen an, die soeben aus der Wahlzelle kommen: ‘Und die Wahl? Hat’s geklappt?’ ‘Kein Problem. Alles war sehr gut organisiert […]’ ‘Könnten wir erfahren für wen sie gewählt haben und warum?’ ‘Ich bin nicht für die FLN, aber eher anti-FIS. Deswegen habe ich erstere gewählt.’

Mehannèche befragt dann eine alte Frau. Sie fährt fort mit ihrem Bericht:

– ‘Entschuldige Hadja, könnten wir erfahren, für wen sie gestimmt haben?’

– ‘FFS, ich sehe keine andere Partei […]’, und sie geht friedlich dahin.

Im Geiste dieser Journalistin ist diese Welt menschlich und räumlich von der der Anderen abgeschnitten, der befremdlichen Welt von Bab-El-Oued, die von einer andersartigen Spezies bevölkert ist. Mehannèche berichtet weiter:

Spätnachmittags steige ich hinab nach Bab-El-Oued. Dort scheint befremdlicherweise ein ganz anderes Klima zu herrschen. Zuerst viel Tumult und Unordnung […] (bis zu vier Wahlbüros in einem winzigen Saal […]) Dann die vor jeder Tür agglutinierten Kinder, die allen, die es gerne hören wollen, empfehlen: ‘voti Nr. 7’; aber vor allem die offensichtliche Belagerung des Hofes (in diesem Flügel, der angeblich für Frauen reserviert sei) durch Männer mit Bart und Kamiss, die mit einem inquisitorischen Blick jedes Kommen und Gehen zu beobachten scheinen.

Diese Spezies unterscheidet sich nicht nur aufgrund der menschlichen und räumlichen Unordnung. Laut Mehannèche verstehen die alten Frauen von El-Biar zu wählen; die aus Bab-El-Oued sind Analphabetinnen, die Kinder helfen ihnen beim Wählen. Wenn die Wahl beendet ist, gehen die Frauen von Bab-El-Oued nicht „friedlich“ wie in El-Biar; sie „sausen los“ („démarrent“). Mehannèche berichtet uns:

Ich bleibe noch ein wenig in diesem kalten Hof zurück und horche: Khalti Yamina, Khalti Farida […] Fatiha gib auf das Kind acht. Alle sind da. Habt ihr auch wirklich eure Wahlkarten zurückgenommen? Saust los!

Derjenige, der den Befehl zu „sausen“ erteilt, scheint der mythische Homo islamicus zu sein, denn Mehannèche fährt fort:

Und der Mann, sichtbar zufrieden, sein Harem hinter ihm, verläßt triumphierend die Schule.

Diese Rhetorik der sozialen und räumlichen Verwilderung, mit der eine Kategorie von Algeriern eine andere verleumdet, stellt kein originelles linguistisches Arsenal ohne Zusammenhang mit der kolonialen Geschichte Algeriens dar. Sie ist ein frappierendes Echo zu den Beobachtungen Fanons über die koloniale Gewalt. Er bemerkte:

Die von den Kolonisierten bewohnte Zone ist der von den Kolonialherren bewohnten Zone nicht komplementär. Die beiden Zonen stehen im Gegensatz zueinander, aber nicht im Dienste einer höheren Einheit. Beherrscht von einer rein aristotelischen Logik, gehorchen sie dem Prinzip des gegenseitigen sich Ausschließens: es gibt keine mögliche Versöhnung, eines der beiden Glieder ist zu viel. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine stabile Stadt, ganz aus Stein und Eisen. Es ist eine erleuchtete, asphaltierte Stadt […] Die Stadt des Kolonialherren ist eine gemästete, faule Stadt, ihr Bauch ist ständig voll von guten Dingen. […] Die Stadt des Kolonisierten, oder zumindest die Eingeborenenstadt, das Negerdorf, die Medina, das Reservat, ist ein schlecht berufener Ort, von schlecht berufenen Menschen bevölkert. Man wird dort irgendwo, irgendwie geboren. Man stirbt dort irgendwo, an irgendwas. Es ist eine Welt ohne Zwischenräume, die Menschen sitzen hier einer auf dem andern […] Eine Stadt von Negern, eine Stadt von Bicots.26

Dieser Diskurs der Negation durch die Abwesenheit der Ordnung, der auf der rhetorischen Ebene Grenzen zwischen dem Algerien der sozialen und räumlichen Ordnung und dem Algerien des sozialen und räumlichen Chaos zieht, wird nahezu alle Presseartikel prägen, die sich der Fortsetzung des Wahlprozesses widersetzen. Sein Einsatz wird rechtfertigen und vorwegnehmen, was Ali Yahia Abdennour die beiden Algerien nennen wird: ein Algerien unter Hochsicherheits-Schutz und ein Algerien unter Hochsicherheits-Bewachung. Angesichts der „Flut“ und der „integristischen Überflutung“ wird man nach einer „Sperre“ (barrage) rufen. Wie übrigens zuvor Massu27 in seiner Apologie der Folter den „Damm“ (digue) herbeirief, um den „Strom“ (torrent) zu stoppen.

Negation durch Abwesenheit des Geistes

Diese rhetorische Form setzt die Negation der Ordnung, des sozialen und räumlichen Universums auf der geistigen Ebene fort. Das Arsenal an Bezeichnungen ist vielfältig: der „Integrist“ ist „Analphabet“, „fanatisch“, „unkultiviert“, „borniert“, „obskurantistisch“, „Scharlatan“, „alter Turban“, um nur die gebräuchlichsten Bezeichnungen aufzuführen. Sie objektivieren im Anderen die Oppositionshaltung gegen die Vernunft, die Logik, das Denken und das Urteilen. Sie projizieren eine beschränkte geistige Welt, in und durch die Leidenschaft eingesperrt, ohne Raum für Distanz und Abstraktion. Daraus folgt freilich, daß „die Wahl irrational und oberflächlich ist“, daß „das politische Niveau der Region nicht überschätzt“ werden darf.28 Abdelkrim Djaad schreibt seinerseits,29 daß „Algerien sich endlich entblößt hat, um in seinen wahren Formen zu erscheinen: ärmlich und analphabetisch, zerbrechlich und oberflächlich, unbeständig und auf dramatische Weise rückständig.“ Diese Elite, die fest davon überzeugt ist, exklusive Treuhänderin der Vernunft und Geschäftsträgerin der „Zivilisation“ und der „Modernität“ inmitten der „Barbarei“ zu sein, wähnt die Infragestellung ihrer politischen und kulturellen Hegemonie als Option für das Irrationale, als Konglomerat antinomischer Klischees,30 die eine Unvereinbarkeit zwischen dem Islam und dem Zeitgenössischen karikaturhaft bezeigen, als Ende der Welt, das sie mit dem Ende „einer“ Welt verwechselt. In einem der zahlreichen Artikel, die mit der Militärjunta liebäugeln, mit dem Titel La République prison, überträgt Arezki Metref die räumliche Negation auf den mentalen Bereich. „Die Zukunft“, prophezeit er,

in der Hand revanchelustiger Scheichs droht dem Land eine fatale Regression zu bescheren. Der schon beträchtliche, aufgelaufene Rückstand in Algerien in den Bereichen der Technologie, Wissenschaft, Bildung, Kultur und Wirtschaft wird in einer islamischen Republik, die in erster Linie damit beschäftigt sein wird, das Land zu ‘reinigen’, indem sie es von seiner Elite enthauptet, unausweichlich einen Punkt erreichen, an dem es keine Rückkehr mehr gibt.31

Metref gehört natürlich zu der Elite, die von sich glaubt, die einzige Treuhänderin der nationalen Kultur und der rationalen Ordnung, die einzig mögliche Emfängerin der Wissenschaft, Technik und Organisation, in einem Wort der „Zivilisation“ zu sein. Daraus ergibt sich offensichtlich – wie eine andere Schrift32, die zum Staatsstreich aufruft, betitelt ist – daß „die Ingenieure die Zukunft Algeriens nicht den Obskurantisten überlassen werden.“

Diese Kasten-Elite33, dem Beispiel Boudjedras folgend, eignet sich das Monopol der Kultur, der Intellektualität an und macht diejenigen, die anders denken, zu Wilden: Eine „Horde von Ungebildeten. Von gescheiterten Existenzen eines bedeutenden Geschlechts. Voller Komplexe gegenüber der Moderne. Mit einem Wort: Man machte sie zu Bastarden!“; zu „ niederen Scharlatanen und halbalphabetisierten Ungebildeten“; „die Monster, die den FIS lenken“, nach Boudjedra Produkte eines Erziehungssystems, in dem „Religion und Korankurse […] Hauptschwerpunkte des Unterrichts [wurden]. […] Alles, was Aufmerksamkeit und kritischen Verstand verlangte und in Kunst und Wissenschaft einführte, wurde untersagt.“34

Mit dieser Art von Sprüchen wird die Komplexität der Probleme der Ecole fondamentale reduziert und intrumentalisiert zur Hexenjagd in einer Schule, die absichtlich zur „fundamentalistischen Schule“35 gemacht wurde, die „Monstren herstellt.“36 Der muslimische Andere, ist kein Spiegel, der die Unzulänglichkeiten offenbaren und die Arroganz mäßigen kann. Er ist ein getäuschtes Wesen, das neu erzogen werden muß.

In dieser Art Rhetorik, die implizit auf der Prämisse sich gründet, der Islam sei ein Gegensatz zum Denken und zur Zivilisation, ist die „Inkohärenz“ des „Integristen“ verbunden mit seiner Unfähigkeit in Denksysteme einzudringen, die das zivilisierte Leben möglich machen. Diese „Inkohärenz“ wird übrigens oft ins Pathologische gesteigert, mittels der geläufigen Ausdrücke „Gotteswahnsinnige“ oder „Verrückte Allah’s“, „all diese jungen Leute, die dringend einen Psychiater brauchen“37, „diese zurückgebliebenen Schwachsinnigen“38, die regelmäßig der journalistischen und literarischen Psychoanalyse unterzogen werden. Wenn man den „Bärtigen“ analysiert, ist man problemlos Islamwissenschaftler, Barbier, Pädagoge und selbst Psychiater, wie Rachid Mimouni, der verschreibt, daß „es schwierig ist, eine kollektive Psychoanalyse von Millionen von Menschen zu machen, aber ein großer Teil der Algerier auf die Couch müßte.“39 Dieser Diskurs des Wahnsinns40 hat zum Vorsatz (und dient als Aufforderung), „den öffentlichen Raum“ von den Wahnsinnigen zu säubern, um ihre „Behandlung“ einzuleiten. Mustapha Safouan ein Psychoanalytiker, ein Anhänger Lacans, der sich über die „psychoanalytische Praxis in Zeiten des Fundamentalismus“ Gedanken macht, entdeckt wiederum, daß „mit dem Fundamentalismus, heute eine geistige Rückwendung (der Anspruch auf Wahrheit) stattfindet, die die Psychoanalyse vereitelt.“41

Kurzum, diese ganze Rhetorik der Geistlosigkeit hat als sekuritäre Folge, die Wahrheit der Befehlshaber und Folterer zu begründen und zu rechtfertigen, d.h. die, die eine weitsichtige Elite repräsentiert, die weiß, was für ein per definitionem ungebildetes, unverantwortliches und gackerndes Volk gut ist, eine Elite, die den Mut aufbringen muß zu tun, was sein „muß“, um es vor sich selbst zu schützen.

Auf der kulturellen Ebene legitimiert dieser Diskurs die Verneinung der islamischen Kultur und bestätigt die Notwendigkeit, eine gewisse „Modernisierung“ im Eilmarsch und von oben durchzusetzen, d.h. im Grunde den Raum zu säubern für die Aufrechterhaltung und Expansion der Kultur und der Bilder der neokolonialen Ordnung. Im Geiste dieser Kaste wird die Modernität nur im sich gegenseitig ausschließenden Verhältnis, das den Islam negiert und ausschließt, verstanden. Diese typische und franko-zentrische Losung kristallisiert sich bei Boudjedra aus: „Algerien zu modernisieren, Schluß zu machen mit den Archaismen, mit den überkommenen Traditionen.“42

Franko-zentrismus, weil dieses ganze Geschwätz, das den Anderen seines „Hirnes“ beraubt, in seinen Bildern wie in seiner politischen Vereinnahmung nichts anderes ist als eine Parodie der bekannten Sprüche und Klischees der französischen (und europäischen) Leiern über den Islam als eine Religion, die den Geist negiert. Es ist ein Abbild der alten Thesen à la Renan43 und jener der noch geschmackloseren „Anthropologen“ der Kolonisation.

Die koloniale Anthropologie rationalisiert den Widerstand gegen die französische Kolonisation, indem sie in ihm das widerspenstige Wesen des „mohamedanischen Obskurantismus“ gegen den „Fortschritt“ und die „Zivilisation“ sieht. Die Weigerung der Algerier sich Frankreich zu unterwerfen und seine „zivilisatorische Mission“ anzunehmen, wird erklärt durch die Unvereinbarkeit des Islam mit der Vernunft und der Moderne. Die französische Anthropologie macht die Entdeckung, daß „die arabische Gesellschaft […], die zur Erstarrung verdammt ist, keine intellektuelle Kultur hervorbringen kann.“44 Diese „Entdeckung“ wird durch Trumelet ontologisiert: „Ist der Muslim nicht in der Tat die deutlichste Widerlegung dieses Grundsatzes, daß der Mensch geschaffen wurde, um mit seinem Verstand […] zu arbeiten?“45 Die koloniale Ideologie enthüllt den Muslim Algeriens als

Eingeborenen […] Seine Intelligenz ist borniert; er gebärdet sich, unfähig etwas allgemeines zu begreifen und so seine Situation und ihre Möglichkeiten; er sieht den Fortschritt nicht, ja er weigert sich nicht einmal, ihn zu verwirklichen. Abstraktion, Voraussicht, Nachdenken sind für ihn Geheimnisse; außer seinem groben Verhalten kennt er nur den verschwommenen, mystischen und lüsternen Traum.46

Die koloniale Mythologie der Negation durch Abwesenheit des Geistes bewaffnet sich auch mit pädagogischer und psycho-anatomischer Munition; der gegen die Kolonisation rebellierende Eingeborene wird beschrieben als impulsiv, als an psycho-anatomischen Anomalien leidendes Kind, das „behandelt“ werden muß, insbesondere, indem es durch eine Schule und geeignete Pädagogik umerzogen wird. Zum Beispiel theoretisiert sie:

Alles bei den Arabern ist nur Instinkt und Impulsivität, denn das Kleinhirn beherrscht die kaum entwickelten frontalen, geistigen und intellektuellen Gehirnwindungen. […] Die Fähigkeit zu lernen, bildet sich nicht von heute auf morgen, sie entwickelt sich durch Selektion und Vererbung. Seit Jahrhunderten haben die Muslime die Bildung vernachlässigt. Heute kann ihr Gehirn nicht ab der ersten Generation unsere wissenschaftlichen Schlüsse oder unsere hohen historischen und philosophischen Konzeptionen erfassen. Von ihrer Wildheit und ihren fanatischen Ideen bis zu unseren perfektionierten Bildungsverfahren und unserer liberalen Erziehung ist der Sprung zu abrupt; der Übergang fehlt. […] Sie müssen also nach und nach, indem ihnen erst die elementaren Begriffe gelehrt werden, dazu gebracht werden, nach mehreren Generationen dem Unterricht unserer höheren Bildung erfolgreich zu folgen.47

Diese wenigen Ausführungen sind explizit genug, um die Verbindungen und Analogien zwischen der kolonialen Mythologie eines französischen Algeriens und dem Diskurs der Negation durch Abwesenheit des Geistes der algerischen islamophoben Elite darzulegen. Wie bereits in der Diskussion über den Prozeß der Übertragung der westlichen symbolischen Gewalt auf uns erwähnt, übernimmt diese Elite das Erbe der kolonialen emblematischen Brutalität, sowie die in Frankreich hergestellten Bilder und Informationen und instrumentalisiert sie, um ihre Macht und ihre Rolle der Vermittlerin und Vorarbeiterin des modernen Kolonialismus zu konsolidieren. Wie zu Zeiten des „guten Wilden“ agiert diese Elite als Vermittlerin zwischen denjenigen, die die Restrukturierung verschreiben, und denjenigen, die destrukturiert werden sollen, zwischen denjenigen , die diktieren, was „Vernunft“ und „Fortschritt“ sein soll, und denjenigen, die ihre Vernunft und ihre Religion verstoßen sollen, um die Krümel einer entfremdeten und entfremdenden „Moderne“ der „strukturellen Des-Anpassung“ und der „destrukturienden Anpassung“ zu erbetteln.

Die Bestialisation

Die entmenschlichende Vorstellung verletzt hier eine neue Grenze, nämlich diejenige, die den Menschen vom Tier trennt. Die Rhetorik des Bestialischen, die darin besteht, den reinen und unversehrten Körper des Menschen zu schänden, indem er in unmenschlichen und monströsen Begriffen dargestellt wird, und aus dem Menschen eine soziale Gestalt des Bestialischen macht, drückt die Überschreitung einer entscheidenden Grenze aus, zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Ich und dem, was von ihm ausgeschlossen werden muß, um den Unterschied zum Anderen zu bewahren. Wenn die Handlung der rhetorischen Ausgrenzung eine Bevölkerung betrifft, dann wird der Diskurs des Bestialischen eine Rhetorik des Genozids.

In den algerischen journalistischen und literarischen Schriften über die islamische Bewegung findet man einen wahren linguistischen Zoo. Dort wird die islamistische „Krake“ und „Hydra“ entwickelt, und das Bild eines Tiers in Form einer Schlange erzeugt, deren jeder ihrer sieben Köpfe ebenso schnell nachwächst, wie er abgeschlagen wird, das islamistische Übel symbolisierend, das im Verhältnis der Bemühungen, es zu zerstören, immer wieder sich erneuert. Seine Fangarme halten Algerien gefangen. Dort werden auch die Islamisten und die „Strategie der Spinne“, das „Ungeziefer“ und die integristischen „Insekten“ erörtert.48 Boudjedra seinerseits bedient sich der Anspielungen auf Reptilien, wenn er den Islamismus präsentiert als „Faszination […] für einen grünen Faschismus, kriechend und schleimig, wie sein Chef Abassi Madani, mit seinem galligen und heuchlerischen Lächeln“; oder auch: „Angst zu haben, zurückzuweichen, das bedeudet, die Gangräne und das Ungeziefer vorrücken zu lassen.“ Boudjedra spielt in seinem Diskurs des Bestialischen auf Säugetiere an, wenn er „diese todbringenden Wesen“ erwähnt. „Sie sind eine faschistische Minderheit, eine dreckige und ekelerregende politische Partei, ein Konglomerat von tollwütigen pestkranken Ratten“ und auch „von der grünen Pest befallene Hunde“.49

Die Gewalt dieses Diskurses folgt aus dem Grauen, das das total Widerliche hervorruft. Der Islamist, der von diesen Schriftstellern als Bedrohung der politischen und symbolischen Ordnung wahrgenommen wird, hat die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen verletzt. Diese Journalisten und Autoren versuchen folglich die Grenze wiederherzustellen, durch einen rhetorischen Akt der Ausgrenzung: die Herabsetzung des Islamisten auf das Bestialische. Aber dieses Bestialische, das nicht zufällig ist, muß auch beschrieben werden. Es dient nicht nur der Ausgrenzung, der Verstoßung oder der Verleumdung. Der Esel, das Kamel oder ganz einfach der Hund50 als harmlose soziale Figuren des Bestialischen scheinen hier der Vorstellungswelt dieser Autoren zu entschlüpfen. Denn der Islamist darf nicht nur auf das Bestialische herabgesetzt werden: er muß aus der Menschheit ausgeschlossen, ausgerottet werden, damit die Idee der Menschheit ihren eigentlichen Wert bewahrt.51 Eine „pestbefallene Ratte“, ein „von der Pest befallener Hund“, das „Ungeziefer“, die „Hyäne“ oder das „Reptil“, das schlägt man tot. „Die Spinne“, „das Insekt“, das zertritt man. Herkules besiegte die Hydra erst, als er alle Köpfe mit einem Schlag abhackte. Dies ist ein Diskurs des Bestialischen, der Mordabsichten ausdrückt und propagiert. Es ist bekannt, daß der Rückgriff auf solche animalischen Kategorien bei Genoziden52 und der Indoktrinierung der Folterer53 immer wieder geschieht. Dieses gewundene Geschwätz über die Hygiene hat auf der moralischen Ebene eine enthemmende Macht, die das Tadelnswerte in etwas Ehrenvolles, die Aggression54 in Notwehr verwandelt.

Schließlich muß bemerkt werden, daß diese Predigt des Bestialischen eine Geschichte in Algerien hat. Es ist noch nicht lange her, erwähnte da nicht Fanon in seinen Überlegungen zur kolonialen Gewalt, daß die Logik des Manichäismus des französischen Colons darin besteht, den Kolonisierten zu entmenschlichen, indem er animalisiert wird? Er sagte damals:

Tatsächlich ist die Sprache des Kolonialherrn, wenn er vom Kolonisierten spricht, eine zoologische Sprache. Man macht Anspielungen auf die kriecherischen Bewegungen des Gelben, auf die Ausdünstungen der Eingeborenenstadt, auf die Horden, auf den Gestank, auf das Gewucher und Gewimmel, auf das Gestikulieren. Wenn der Kolonialherr genau beschreiben und das richtige Wort finden will, bezieht er sich ständig auf das Tierreich.55

Die Infektion

Die Rhetorik der Infektion läßt die biologische Unordnung einbrechen als Repräsentation des sozialen Chaos und des moralischen Verfalls. Sie artikuliert und belebt das Bild des Islamisten als symbolischen Schauplatz der Verschmutzung und als soziale Gestalt der Krankheit. Die Nähe dieses „Gesindels“ wird als Gefahr der Verschmutzung und als Ansteckungsherd suggeriert.

Die Darstellung des „Islamisten“ als bildlicher Schauplatz der Verseuchung bedient sich einer Fülle von Bezeichnungen, von denen „Gesindel“, „widerlich“, „gemein“ und „ekelerregend“ am gebräuchlisten sind.56 Dieser Diskurs, der den Körper als symbolischen Schauplatz der Verschmutzung betrachtet, zeigt die Kennzeichen eines Bewußtseins, das durch die „Störung“ der sozialen und kulturellen Abgrenzungen verängstigt ist. Es trachtet wiederum nach Reinigung, Säuberung als Ritual, um diejenigen auf ihren Platz zu verweisen, die an ihrem „Platz“ zu bleiben haben.

Die pathologisierende Fiktion der algerischen Islamophoben ermangelt nicht der „Bilder“. Der Bezug, den das Kürzel B.C.G. (Barbus, Claquettes et Gandoura; Bärtige, Schlappen und Gewand) suggeriert und mit dem gewöhnlich die „Bärtigen“ bezeichnet werden, stellt eine vage Beziehung zur Tuberkulose, zur Ansteckung her. Sie lassen sich regelmäßig und „wissenschaftlich“ über „den Integrismus und Aids“ aus. „Ist der Integrismus nicht wahrhaft ein soziales Aids, das am Organismus des algerischen Volkes nagt?“, fragt sich beispielsweise Rochdine Ende Dezember 1991.57 Nach der Aufstellung einiger Urteile als Prämissen, die sich auf die Pathologie, die Immunologie und die Epidemiologie beziehen, schlußfolgert er: „Man erkennt also, die Strategie des Integrismus ist der des HIV-Virus analog: das Herz selbst der Gesellschaft und der politischen Ebene wird durchdrungen – Islam und Verfassung -, um sie zu unterwerfen.“ Der Text schließt mit einer Bemerkung: „Es ist sehr ‘interessant’ festzustellen, daß drei Aidsviren identifiziert wurden: HIV 1,2 und 3!“ (Mit Bezug auf die drei Parteien: FIS, Hamas und Ennahda).

Diese Rhetorik der biologischen Infektion spiegelt zuerst die Angst vor der sozialen Ansteckung, die Sorge, Schranken, Grenzen und Unterschiede zu bewahren. Die Furcht vor einer Kontamination dringt erst in das Biologische und schreitet metaphorisch voran zur psychologischen Angst, um schließlich in eine soziale Furcht vor einer Bewegung zu münden, die die „Zivilisation“ bedroht. Indem dieser Diskurs den „Islamisten“ auf einen Virus reduziert, ihm seine Sichtbarkeit nimmt und ihn außerhalb der visuellen Erfahrung verschwinden läßt, bekennt er zudem auch die Angst vor einer unsichtbaren und unkontrollierbaren Macht.

Aber diese Rhetorik ist nicht nur Ausdruck; sie dient auch einer Strategie und einem politischen Ziel. Das Übertragen pathologischer Eigenschaften auf Andere ist auch das Vorspiel für ihre „Behandlung“. Zunächst ist der Glaube an Ursprungsherde der Kontamination das Mittel für das Regime, eine „sicherheitstechnische“ Lokalisierung zu definieren und zu zeigen, daß es die Infektion durch die Tätigkeit der Fokalisierung noch behandeln kann. Dann lädt dieser Diskurs zu der entsprechenden politischen Behandlung ein: die „Ausmerzung“ (Éradication). Alger Républicain vom 23. Januar 1992 verschreibt die „Ausmerzung des Islamismus“ in folgenden Begriffen:

Die moderne Republik kann nicht mit dem totalitären integristischen Aids in ihren Adern leben. […] Die Rettung des Vaterlandes verlangt das Verbot aller totalitären integristischen Parteien und die Aushebung ihres materiellen und ideologischen Arsenals.

Boudjedra fordert dies noch grobschlächtiger:

Israel hat seine Lager, um seine Palästinenser zusammenzupferchen. Aber haben die Algerier nicht das Recht, ein Krebsgeschwür zu stoppen? Ist Weimar vergessen?…

Um ein Krebsgeschwür zu behandeln, wird es abgegrenzt… in Lagern, amputiert, zensiert, beschossen… manchmal mit Napalm. Der „integristische Abszeß“, der wird aufgestochen. Dieses ganze therapeutische Vokabular mit seinen psychologischen Vorrichtungen der moralischen Entbindung, seiner Rechtfertigungskraft, die das Töten als Heilung segnet, das moralisch Verwerfliche auszeichnet und zur Quelle der Begeisterung erhebt. Es verwandelt den Mord in eine ehrenwerte Pflichterfüllung.

So wie es gestern das koloniale Verbrechen mit der ehrenwerten Erfüllung der „zivilisatorischen Mission“ rechtfertigte. Dieser Diskurs schöpft aus dem gröbsten kolonialistischen Vorwand: mit Parolen wie „die barbarischen Völker sind Kranke; die zivilisierten Völker sind Ärzte“58 verschleierte man den kolonialen Terror als Kampf gegen die „obskurantistische“ Krankheit, gegen den krankhaften Zustand Algeriens.

Dieser Diskurs der pathologischen Darstellung ist auch in einer gewissen algerischen Militärhierarchie geläufig. Ein wesentliches Merkmal der militärischen Sprache, das der Kriegshandlung voraufgeht, ist auch die Allegorie, die Fiktion. Man läßt die menschliche Präsenz aus den Reden selbst sogar über die Lage, die ihre kollektive Teilnahme impliziert, verschwinden. General Nezzar verbot im September 1990 im Militärkrankenhaus Ain-Naadja das Tagen des Hijab und des Bartes aus „hygienischen Gründen“ und drohte damit, „ den Übertretungen, die die ‘nationale Einheit’ in Gefahr bringen, ein Ende zu setzen“. Der Direktor des Militärkrankenhauses führte am 24. April 1991 ein Eintrittsverbot ins Krankenhaus für alle Patienten, die einen Bart tragen, „aus hygienischen Gründen“ ein. General Zeroual kritisierte im Januar 1994 „das bestehende System, das das Erscheinen einer parasitären ideologischen Strömung ermöglicht hat“. Eine Gruppe von Generälen, unter ihnen der finstere Lamari, Anhänger der „ideologischen Säuberung“, bekennt sich öffentlich als „éradicateurs“ (Ausmerzer).59

Wenn die in ihren „Laboratorien“60 geschäftigen Folterer den „Bärtigen“61 ihre Bärte mit Zange, Gips und Feuer abreißen, scheinen sie den epidemiologischen Diskurs ihrer Befehlshaber sowie die Rhetorik der Infektion aus der Feder der Ausmerzung buchstäblich zu interpretieren. Die Quelle der Infektion und der Epidemie wird buchstäblich lokalisiert und ausgemerzt. Es stimmt, der Bart zeigt die Treue des Körpers zur religiösen Dimension; dies ist eine Bekundung, mit der der Islam sich in den Körper einschreibt.62 So ist der Körper des Gefolterten in dieser „Ausmerzungsbehandlung“ seines ideologischen Inhalts entleert; er wird seiner Treue zum Islam entkörpert. Der Ghoul wird ausgetrieben. Das Algerien der Generäle wird rasiert, gesäubert, ideologisch gereinigt, ganz rein modernisiert.63

Distanz und Taubheit

Said Fekar ist ein alter Fellah aus Bordj-Menaiel. Von der Brigade der Gendarmerie seiner Stadt gefoltert, endet seine lange Zeugenaussage mit der Frage: „Ich hätte nie gedacht, daß Algerier sich auf eine solch grausame Weise gegen ihre Brüder vergehen würden.“64 Y. Bachir, im Polizeiposten von Hussein-Dey gefoltert, fragt sich in seiner Stellungnahme: „Ich hätte nie gedacht, daß Algerier so einen tiefen Haß gegen andere Algerier haben, ich, der 1962 einem gegen mich gerichteten Attentat der OAS entkommen war.“65 S. Benzerga, in der Gendarmerie von Bordj-El-Kifane gefoltert, bemerkt in seiner Stellungnahme: „Ich hätte nie gedacht, daß Algerier, Brüder in Blut und Religion, derartiges machen könnten.“66 Sehr viele Gefolterte stellen sich dieselben Fragen…

Können die Gurus der anti-islamischen Dämonologie, die Unternehmer und Bürokraten der Ausmerzung noch solche Fragen hören? Können sie darauf antworten?

Es stimmt, daß sie von einem gewissen menschlichen Verhalten zeugen, von einer Art und Weise der Beziehungen zwischen Individuen. Aber von der Höhe ihrer mythologischen Konstruktionen herab handelt es sich vielmehr darum, diese „analphabetischen Massen“, diese „dummen Menschenmengen“, diese „Gotteswahnsinnigen“ gegen ihren Willen zu „modernisieren“ und „vor sich selbst zu retten“. Das heißt ohne Euphemismus, daß es darum geht, ihnen die Selbstbestimmung zu verwehren, „ihnen“, diesen „Massen“… von Individuen? von Menschen? von Dienern Allah’s? von Bürgern?

Aber kehren wir zu den ersteren Fragen zurück.

Um diese Fragen zu hören, reicht es, sich anzunähern, von dem mythologischen Turm hinabzusteigen. Und sich von der strategischen Taubheit zu entfernen.

Denn diese Distanz bezieht nicht nur die mentale Erfahrung einer ideologischen Konstruktion ein. Sie zeugt auch von dem Befall von einer Taubheit.

In seinen Reflexionen zur Distanz als physischer Simulation einer Taubheit erinnert John Berger daran67, daß

die Taubheit sich als sowohl aggressive wie defensive Waffe erweist, wenn sie dazu dient, Bevölkerungen eine Ordnung aufzuerlegen […], die sie ablehnen. Goya hat früher gezeigt, wie die Tauben während der Gemetzel tanzen, wenn sie in ihren dicken Köpfen nur die Musik hören, nicht aber die Schreie. Shakespeare und Aristophanes haben betont, wie die Mächtigen die Taubheit vorzutäuschen lieben, weil dies die Bittsteller veranlaßt, sich vor ihrem Thron niederzuknien. Wenn diese Taubheit aufhört, ein Spiel zu sein und zu einer Gewohnheit wird, dann können die Mächtigen auf beiden Ohren schlafen.68

Diese Musik, die die Trommelfelle des Herzens zum Platzen bringt, dieser „Rai, der den Himmel durchbricht“69, ist das, was in diesen islamophoben Diskursen der Dämonologie, der Negation, der Bestialisation und der Infektion eingeprägt ist.

Sie berauben den Muslim seiner Person, seiner Menschlichkeit, seiner Individualität, seiner Stimme und seiner Welt, um ihn zu rekonstruieren, eigentlich vielmehr aufzulösen in einen Dämon, in ein Nichts, in ein Tier oder in einen Virus.

Sie präparieren ihn zum lebendigen Kadaver, denn sie töten seine Rechtsperson, indem sie ihn in Kategorien stecken, die außerhalb des Schutzes durch das Gesetz liegen, sowie seine menschliche, soziale und moralische Person, indem sie ihn außerhalb der menschlichen und moralischen

Solidarität ansiedeln.

Aber es ist wahr, daß Rai und nicht die Schreie zu hören, „Laboratoire“ und nicht „el-batoir“ zu hören, nicht gerade von einer originellen Taubheit zeugt.

Im Jahre 5 der Kolonisation (1835) sagte doch der französische König Louis-Philippe:

Gleichgültig ob hunderttausend Gewehrschüsse in Afrika losgehen! Europa hört sie nicht.70

 


1 Siehe E. Staub, The Psychology and Culture of Torture and Torturers, in P. Suedfeld, Psychology and Torture, Hemisphere Publishing Corporation, London 1990. J. Colligan, New Science of Torture, Science Digest 44 1976. E. Staub, The Roots of Evil: The Origins of Genocide and Other Group Violence, Cambridge University Press, New York 1989. E. Staub, Moral Exclusion and the Evolution of Extreme Destructiveness, in S.V. Opotow, The Moral Community: Implications for the Psychology of Justice, Symposium of the American Psychological Association, New York 1987. E. Staub, Steps Along the Continuum of Destruction: The Evolution of Bystarders, Political Psychology 10. 1989, 39.

* Wir übernehmen den französischen Begriff, der von bête (Tier) stammt. (Anm.d.Ü).

2 Um die Analyse der strukturellen Gewalt zu komplettieren, wäre übrigens auch die Untersuchung dieser Diskurse, unter dem Blickwinkel der entfremdenden strukturellen Gewalt nützlich, die das Recht auf das Gefühl der kulturellen Identität verweigert, wie ein Entzug des Rechtes auf kulturelles, emotionales und intellektuelles Wachstum. Diese Untersuchung wird hier nicht vorgenommen.

3 Dieser Ausdruck ist abgeleitet von frz. frère (Bruder), in Anlehnung an Muslimbruder, und transportiert eine durchaus pejorative Konnotation. (Anm.d.Ü.)

4 Dieser in der Tat mystifizierende Begriff bezieht sich auf eine katholische traditionalistische Strömung, die als Abweichung verurteilt wird. Der Integrismus ist eine Tendenz, die die Römische Kirche entsprechend der Doktrin des Ultramontanismus, die beim Ersten Vatikanischen Konzil 1870 aufgestellt wurde, als nicht-orthodox verurteilt. Auf einen Muslim übertragen entbehrt die Analogie jeglichen Sinnes.

5 Der Fundamentalismus bezeichnet den christlichen Standpunkt – insbesondere den mancher protestantischer Strömungen -, der die buchstäbliche Richtigkeit der Bibel vertritt; dieser Begriff stigmatisiert, indem er diesem Standpunkt eine anti-wissenschaftliche Konnotation zuschreibt. Auf den Islam übertragen führt die Analogie dazu, daß jeder Muslim ein Fundamentalist ist, da er an die buchstäbliche Authentizität des Koran glaubt.

6 Größtenteils sind sie nicht ins Arabische übersetzbar.

7 E. Fuchs, Comment cela est-il possible?, in: La Torture, le corps et la parole, Actes du IIIe colloque interuniversitaire, Fribourg 1985, Éditions Universitaires, Fribourg 1985.

8 Siehe T.R. Forstenzer, Social Fear and Counterrevolution, Princeton University Press, New-Jersey 1981 und David Caute, The Great Fear, Secker and Warburg Publishers, London 1978.

9 David Caute führt unter anderem an, daß „während der entscheidenden Jahre der großen Furcht die einflußreichsten Fraktionen der amerikanischen Intelligenzia die kritische Aufgabe vernachlässigten, die die Intellektuellen jedes Landes gegenüber den Regierungsinstitutionen und -aktivitäten bewahren sollten. […] Diese mangelnde Sensibilität, dieser Wille, die Demokratie mit antidemokratischen Mitteln zu verteidigen, verbreitete sich rasch im ganzen Land in der Mittelklasse und in den Arbeiterbewegungen.“

10 Begriff von M. Aguirre, Studiendirektor am Centro de investigaciones para de la paz (CIP), Madrid und stellvertretender Direktor des Transnational Institute, Amsterdam.

11 The Guardian, 28 August 1993, London.

12 Foreign Affairs, Vol. 72, Nr. 5, 1993.

13 El Pais, 7. Juli 1994.

14 Siehe J.Keane, Power-sharing Islam? in: Islam and Power-sharing, London 1994.

15 R. Garaudy, L’Islam vivant, Éditions Maison du Livre, Alger 1988.

16 Norman Daniel, Islam and the West: The Making of an Image, Edimburg University Press, 1960. Rana Kabani, Europe’s Myths of Orient: Devise and Rule, London 1986. Edward Said, L’Orientalisme, Editions du Seuil, Paris 1980. Edward Said, Covering Islam: How the Media and the Experts Determine How We Should See the Rest of the World, Pantheon Books, New York 1981. Hichem Djait, L’Europe et l’Islam, Editions du Seuil, Paris 1978.

17 Siehe Ageron, La France a-t-elle une politique kabyle? Revue Historique, 223, 311, 1960. Für eine genauere Analyse der Beziehungen zwischen dem kolonialen Mythos des fanatischen Muslim und der katholischen Erfahrung der Kreuzzüge, siehe J.-F. Guilhaume, Les mythes fondateurs de l’Algérie française, Éditions l’Harmattan, Paris 1992.

18 M.Emerit, Un Problème de distance morale: La résistance algérienne à l’époque d’Abdel-Kader, L’Information Historique, Juli-Oktober 1951.

19 M. Asad, Islam at the Crossroads, Dar-El-Andalus Publications, Gibraltar 1985.

20 Vgl. Moussa Ait-Embarek L’Algérie en murmure, Un cahier sur la torture, Kapitel III: De la violence structurelle, von dem wir den Ausschnitt „Der Imperialismus hat sich nicht selbst erledigt“ in diesem Heft wiedergeben.

21 Unter Entfremdung verstehen wir hier den Prozeß der kulturellen Distanz, durch den man sich selbst fremd wird und die Welt durch die Wahrnehmung einer andere Kultur bewertet.

22 J. Ndamba, Aliénation, autoaliénation et autocolonisation, in: L’Actualité de Frantz Fanon, Actes du Colloque de Brazaville, Éditions Karthala, Paris 1986.

23 Der andere ist (physisch) präsent, aber existiert nicht (als Ich, als Stimme, als Welt). Es ist die gleiche Distanz und dieser ontologische Widerspruch zwischen dem Folterer und dem Opfer, den man in dem Akt der Folter wiederfindet.

24 Formulierung aus Le Figaro vom 28. Dezember 1991, die im Chor von Le Matin, Le Nouvel hebdo, Alger Républicain usw. übernommen wurde.

25 L’Hebdo Libéré, Nr. 40, 1.-6. Januar 1992.

26 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt 1981, 32. Bicot ist ein Schimpfwort für Araber. (Anm.d. Ü.)

27 Französischer General während des Befreiungskrieges. (Anm.d.Ü.)

28 Diese Äußerungen sind von Dr. Said Sadi.

29 L’Hebdo Libéré, Nr. 41, 7.-13. Januar 1992.

30 Durch das binäre Prisma dieser Schwätzer werden alle, je nachdem, ob sie sich völlig mit ihnen identifizieren oder nicht, in Gegensätze zerlegt: rational-irrational, aufgeklärt-obskurantistisch, entwickelt-primitiv, fortschrittlich-rückschrittlich, modern-religiös, demokratisch-integristisch, kartesianisch-fanatisch, intellektuell-analphabetisch, etc.

31 L’Hebdo Libéré, Nr. 40 vom 1. – 6. Januar 1992.

32 Le Matin 1. Januar 1992.

33 Siehe A. Méziane, „Les Elites castes“, Révolution africaine Nr. 30, Dezember 1969.

34 Alle Zitate aus: Rachid Boudjedra, prinzip hass, pamphlet gegen den fundamentalismus im maghreb, Mainz 1993, 38, 45, 58; frz. Le FIS de la haine, Paris 1992.

35 El Watan, 3. April 1994.

36 H. Bouabdellah, „Culture, art et violence“, Les temps modernes Nr. 580, 1995.

37 R. Kaci, L’Hebdo Libéré Nr. 40, 1.-6. Januar 1992, der auf die FIS-Wähler anspielt.

38 Boudjedra, s.o.

39 Télérama, 14. Juli 1994.

40 Gestern kritisierten die Humanisten und die großen Geister die UDSSR wegen ihrer unmenschlichen Zuschreibung des Wahnsinns, um ihre politische Abweichung zu neutralisieren. Heute kann man Millionen „andere“ Menschen für Wahnsinnige (Gottes) erklären. Sie müssen gegen ihren Willen gerettet werden…

41 Allah et Lacan, Libération, 8. April 1993.

42 Boudjedra führt die Parodie so weit, den Propheten (s) mit der Bezeichnung Mahomet statt Mohammed zu versehen.

43 In einer Rede im Collège de France, die den Kolonialismus moralisch rechtfertigt, belastet sich Ernest Renan nicht mit Subtilitäten, wenn er predigt:

„Zur Stunde ist die wesentliche Bedingung für die Verbreitung der europäischen Zivilisation die Zerstörung des semitischen Dings par excellence, die Zerstörung der theokratischen Macht des Islamismus; weil der Islamismus nur als offizielle Religion existieren kann; wenn man ihn in den Zustand einer freien und individuellen Religion herabsetzen wird, wird er aussterben […] Da ist der ewige Krieg, der Krieg, der erst dann enden wird, wenn der letzte Sohn Ismaels durch das Elend tot oder durch den Terror in der tiefen Wüste abgedrängt sein wird. Der Islam ist die vollständigste Negation Europas, der Islam ist Fanatismus, wie das Spanien zu Zeiten Philips II. und das Italien unter Pius V. es kaum gekannt haben; der Islam ist die Verachtung der Wissenschaft, die Abschaffung der zivilen Gesellschaft: er ist die entsetzliche Einfachheit des semitischen Geistes, die das menschliche Gehirn verengt und es gegenüber jeglicher delikaten Idee, jedem feinen Gefühl, jeder rationalen Suche verschließt, um es einer ewigen Tautologie gegenüberzustellen: Gott ist Gott. Die Zukunft, meine Herren, gehört Europa, Europa allein. Europa wird die Welt erobern und seine Religion verbreiten, die das Recht, die Freiheit, den Respekt des Menschen, diesen Glauben, daß irgendetwas göttliches in der Menschheit ist, repräsentiert.“ Siehe Monteil, Clefs pour la pensée arabe, Éditions Seghers, Paris 1974.

44 P. Lucas und J.C. Vatin, L’Algérie des anthropologues, 131, Éditions Maspéro, Paris 1979.

45 C. Trumelet, Les Français dans le désert, Garnier Frères, Paris 1863, und Lucas, Vatin, 120.

46 Lucas, Vatin, 136.

47 Zitiert in J.F. Guilhaume.

48 Die Gewöhnlichkeit dieser Bezeichnungen hat einen solchen Punkt erreicht, daß selbst der Innenminister Méziane-Chérif sich nicht davor scheut, gegenüber seinem Gesprächsartner Robert Fisk die islamische Opposition als „Ungeziefer“ zu bezeichnen. Interview in: The Independent, 19. März 1995, London.

49 Boudjedra, 15, 125.

50 Wie in „Les chiens des douars“, ein Ausdruck von Kateb Yacine, um die Muezine zu bezeichnen.

51 In den Worten Boudjedras: „Ohne Tabus, ohne Einschränkungen und ohne Vorurteile, ist dieses Buch mit einer einzigen und für eine einzige Leidenschaft geschrieben worden: den Menschen“. Diese provisorische und schizophrene Moral bekennt sich zu einem sauberen Universalismus und Humanismus, wo kein Widerspruch besteht zwischen der Verteidigung der Menschenrechte und „Bärtige-Klatschen“. Boudjedra z.B. verbindet – ohne mit der Wimper zu zucken – die Ausrottung der „Bärtigen“ mit Aussagen wie: „Zusammen mit uns, die wir ebenfalls ehrliche Absichten haben, den Fortschritt und die Modernität bejahen und der Welt und dem Universum gegenüber offen sind, Menschen also, die von dieser seltenen, aber so wohltuenden Krankheit befallen sind: der Menschenliebe. Der Liebe zu allen Menschen.“ (89). Es ist wahr, daß diese „seltene, aber so wohltuende Krankheit“ genau da übertragen wird, wo man sich dem Universalismus und Humanismus à la Cheysson, dem derzeitigen Präsidenten der Menschenrechtskommission des Europaparlaments, öffnet und in sich aufnimmt. Dieser, Cheysson, erklärt im Oktober 1993, daß „leider das islamische und muslimische Wesen der algerischen Gesellschaft über die Zivilisation gesiegt hat.“ in: Le Drame algérien, 189, Reporters Sans Frontières, Paris 1994.

52 Siehe Fußnote 1.

53 Siehe J.T. Gibson und M. Haritos-Fatouros, The Education of a Torturer, Psychology Today, November 1986, 50.

54 Wenn Boudjedra (wie seine Journalisten-Schüler) ermahnt/ermutigt: „Angst zu haben, zurückzuweichen, das bedeutet, die Gangräne und das Ungeziefer vorrücken zu lassen“, predigt er in der Tat die umgekehrte Logik, die ihr entspricht: die Gangräne und das Ungeziefer abzudrängen, das ist, keine Angst zu haben, fortzuschreiten, „Bärtige klatschen“.

55 F. Fanon, 35.

56 Beispiele sind bei Boudjedra zu finden, und in den kürzlich erschienenen Büchern von K. Messaoudi, M. Boussouf und F. Assima.

57 Hebdo Libéré Nr. 39, 24.-30. Dezember 1991.

58 A. Servier, Le Péril de l’avenir: le nationalisme musulman en Egypte, en Tunisie et en Algérie, Constantine 1913.

59 Ausmerzen, das ist nicht foltern, sondern das Übel verschwinden lassen. Die selbsternannten Ausmerzer schämen sich nicht, ihren Status laut hinauszuposaunen, weil – wie die Psychologie der Folterer zeigt – die Unternehmer des Leides sich mit ihren Taten brüsten, wenn die unmenschlichen Methoden mit hohen moralischen Zielen – das Übel ausmerzen – versehen werden.

60 Die Befehlshaber und Henker bezeichnen den Ort der Folter mit dem hygienischen Euphemismus „Laboratorium“, siehe: Livre Blanc de la Répression en Algérie (1991-1994, Schweiz 1995, 114. Die algerische Straße und die Gefolterten benennen ihn mit el-battoir (Ableitung von l’abattoir, Schlachthof).

61 Siehe Abschnitt 1.2.f des Kapitel I von Ait-Embarek, L’Algérie en Murmure.

62 Das Tragen des Bartes ist eine Sunna des Propheten (s).

63 Das französische Wortspiel lautet: L’Algérie des généraux est barbifiée, débarbouillée, idéologiquement épurée, purement modernisée.

64 M.S. Fekar ist 60 Jahre alt und Bauer. Er ist am 27. November 1934 geboren und Vater von 11 Kindern. Er ist zur Zeit in Gefangenschaft im Gefängnis von El-Harrach. Siehe seinen vollständigen Bericht in: Livre Blanc, 149.

65 OAS (Organisation Armée Secrète), französische geheime Terrorbewegung, die gegen die Unabhängigkeit Algeriens agierte und zwischen 1961 und 1963 wütete. (Anm.d.Ü.)

66 Siehe die vollständigen Zeugenaussagen in: Livre Blanc, 133, 196.

67 John Berger, Sourds et muets, The Guardian, übernommen aus: Le Monde diplomatique, Februar 1991.

68 Taub aber nicht stumm. Boudiaf wird sich sogar damit brüsten, ohne „Gemütsregung“ („sans état d’âme“) Tausende von Männern in die Konzentrationslager der Sahara geschickt zu haben (Algérie Actualité, Mai 1992). Ali Haroun, Mitglied des Hohen Staatsrates und ehemaliger Minister in Sachen Menschenrechte, erklärt: „7 000 Gefangene, das sei ein annehmbarer Preis“ (L’Hebdo, Genève, 21. Mai 1992); und ein General-Eradicateur behauptet: „die Integristen sind Ungeziefer. Man muß sie ausrotten, selbst wenn man Millionen von ihnen töten muß“ (Time, 20. März 1995, 28).

69 Der Bezug zum Rai ist nicht nur allegorisch. Über die Folterungen, der die Opfer in der Polizeischule von Châteauneuf ausgesetzt werden, berichtet der Gefolterte Djelloul Chaachoua: „Sofort nach meiner Ankunft in der Hölle von Châteauneuf in Ben-Aknoun ‘lud’ man mich ein, ein Rai-Lied zu singen…“ (Siehe Zeugnis in: Livre Blanc, 113).

70 Charles-Henri Favrod, Le F.L.N. et l’Algérie, Paris 1962, 3.