IX- Offizielle Berichte

IX- Offizielle Berichte

An dieser Stelle wollen wir einige entscheidende Passagen verschiedener Berichte internationaler oder algerischer Organisationen wiedergeben. Sie enthalten teilweise widersprüchliche Informationen und vor allem unterschiedliche Einschätzungen, je nachdem, welches Interesse die Verfasser vertreten. So ist es nicht verwunderlich, wenn das Auswärtige Amt, das gewiß den Interessen der Bundesregierung in der Reduzierung der Flüchtlingszahlen folgt, behauptet, der algerische Staat könne seine Bürger schützen, oder es bestehe kein Anlaß zu befürchten, daß abgeschobene Flüchtlinge bei ihrer Einreise in Algerien belangt würden. Auch die Einschätzung der Lage in Algerien variiert von Verfasser zu Verfasser. Wir können hier nicht die vollständigen Stellungnahmen übernehmen, sondern werden einige Abschnitte, die vor allem auf eine Gefährdung der hier Zufluchtsuchenden hinweisen aussuchen, sei es, weil konkret von Rückkehrgefährdung die Rede ist, oder die Situation in Algerien derart eingeschätzt wird, daß daraus eine Gefährdung geschlußfolgert werden kann.

IX-1 Amnesty international

Wir führen hier Auszüge an, die wir aus den letzten Berichten von ai entnommen haben. Wir haben die Jahresberichte von ai ausgespart, da wir denken, daß diese am meisten bekannt sind.

Die sich seit drei Jahren mehr und mehr verschlechternde Menschenrechtslage in Algerien hat zur Folge, daß bis heute zwischen 40 000 und 50 000 Menschen bei den bewaffneten Kämpfen zwischen der algerischen Regierung und militanten Islamisten getötet wurden. Das bedeutet, daß es jede Woche mehr als 800 Todesopfer gibt. Die Ermordeten kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Die Presse berichtet vor allem über Angehörige intellektueller Berufe und Journalisten. Aber auch jede andere Person, die öffentlich ihre Meinung äußert, ist gefährdet. Selbst Repräsentanten des Islam, die in Moscheen einen toleranten Islam predigen, sind vor Ermordung nicht geschützt. Annähernd 90 Imame wurden bisher getötet.

Gleichzeitig verfolgt der algerische Staat tatsächliche oder vermeintliche FIS-Anhänger bzw. -Unterstützer mit aller Härte. Hierzu zählen nicht nur führende Mitglieder oder Parteifunktionäre der FIS, sondern auch einfache Mitglieder oder Sympathisanten, die nur Flugblätter oder andere Druckerzeugnisse der Organisation verteilt, Plakate vervielfältigt oder geklebt haben. Oft genügt allein schon der Verdacht, der nicht mehr verifiziert wird, um in Haft genommen zu werden. Aber auch Familienangehörige und Freunde von FIS-Aktivisten sind von Repressalien betroffen, die von Verhören und Einschüchterungen bis hin zur Geisel-/Sippenhaft oder sogar extralegalen Tötungen reichen.[…]

Nur in ganz wenigen Fällen sind Inhaftierte plötzlich in Gefängnissen wieder aufgetaucht oder wurden nach Wochen oder Monaten illegaler Inkommunikado-Haft, während der die Gefangenen Folter und Mißhandlungen erlitten, freigelassen. Viele andere hingegen bleiben jedoch weiterhin verschwunden.[…]

Im Rahmen der Aufstands- und Terrorismusbekämpfung haben Angehörige der Polizei, der Armee und der Sonderbrigaden bisher Hunderte von tatsächlichen oder mutmaßlichen bewaffneten Islamisten getötet. Übergriffe bewaffneter islamistischer Gruppen auf die Sicherheitsorgane dienen als weiteres Motiv für Racheakte seitens der algerischen Sicherheitskräfte, die neben den vermeintlichen gewaltbereiten Islamisten insbesondere weite Teile der unbeteiligten Zivilbevölkerung treffen. […]

amnesty international hat von Armee- und Polizeiangehörigen, die Algerien inzwischen verlassen haben, über weitverbreitete extralegale und vorsätzliche Hinrichtungen an Mitgliedern bewaffneter Gruppierungen erfahren, nachdem diese Personen gefangen genommen waren. Diese ehemaligen Angehörigen der algerischen Polizei und Armee berichten auch von der Praxis des wahllosen Tötens von Zivilisten, die verdächtigt wurden, mit bewaffneten islamistischen Gruppen zu kooperieren oder solche Personen (‘Terroristen’) den algerischen Behörden wissentlich oder aus Furcht nicht gemeldet zu haben.

Die Justizbehörden untersuchen keine Fälle von extralegalen Tötungen und Folter, die durch die algerischen Sicherheitskräfte begangen werden.[…]

Vorsätzliche oder willkürliche Tötungen von Personen, die verdächtigt werden, mit den algerischen Sicherheitskräften zusammenzuarbeiten, die Regierung zu unterstützen, oder die sich kritisch mit den politischen Zielen und dem bewaffneten Kampf der militanten Islamisten auseinandersetzen, sind an der Tagesordnung. Diesen Morden gehen häufig telefonische, briefliche (z.B. das Übersenden eines weißen Tuchs) oder auch öffentliche (Aushänge in den Moscheen) Todesdrohungen an einzelne Personen, ganze Familien oder bestimmte Teile der Bevölkerung (Frauen, Kaufleute etc.) voraus. […]

Diese katastrophale Menschenrechtslage führt vor Augen, daß die algerische Bevölkerung gegenwärtig nicht mehr mit ausreichendem Schutz durch den algerischen Staat rechnen kann. Daß die algerische Regierung schon seit längerem für eine große Anzahl von Personengruppen innerhalb der algerischen Gesellschaft schutzunfähig geworden ist, zeigt die nachfolgende Auflistung von gesellschaftlichen Gruppen, die Opfer von Übergriffen durch bewaffnete Gruppen zu beklagen hatten: Angehörige der Sicherheitskräfte und deren Familienangehörige; Angehörige intellektueller Berufe, wie Ärzte, Lehrer, Universitätsprofessoren und Dozenten, Wissenschaftler, Leiter von Kunst- und Wissenschaftsinstituten; Ausländer (Arbeitnehmer, Botschaftsangehörige, Angehörige christlicher Religionsgemeinschaften); Arbeiter, Bauern und Kaufleute; Frauen; Gewerkschafter und Menschenrechtler; Journalisten, Redakteure und Verleger; Künstler und Schriftsteller; moderate Muslime; Schauspieler; Sportfunktionäre; Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte; Staatsbedienstete und Regierungsmitglieder, Zollbeamte, aber auch Pförtner von Regierungseinrichtungen; Angehörige säkular oder links ausgerichteter Parteien – wie z.B. Ettahadi-Partei; Mitglieder der Berber-Gruppierung RCD.

Während einige Personengruppen Angriffe aus einer militanten Richtung befürchten müssen, sind zivile Moslems wiederum Übergriffen durch anti-islamistische Gruppierungen ausgesetzt. Algerische Frauen jedoch sind zur absoluten Zielscheibe beider Seiten geworden. Egal wie sie sich in der Öffentlichkeit kleiden oder verhalten, sie sind so oder so von gewaltsamen Angriffen bis hin zu ihrer Tötung betroffen. […]

Asylrechtsprechung zu Algerien in der Bundesrepublik Deutschland

Trotz der katastrophalen Menschenrechtslage in Algerien erhalten algerische Flüchtlinge, die vor Menschenrechtsverletzungen seitens der algerischen Sicherheitskräfte oder gewaltsamen Übergriffen und Todesdrohungen durch islamische Oppositionsgruppen aus Algerien fliehen, in der BRD in der Regel keinen Schutz vor politischer Verfolgung, d.h. kein politisches Asyl.

Bei Anhängern und Sympathisanten der islamischen Heilsfront (FIS) wird vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge häufig angenommen, daß keine asylrelevante Verfolgung durch den Staat stattfindet. Frauen, Intellektuelle und Angehörige im Staatsdienst etc., die vor Angriffen militanter Islamisten fliehen, wird vom Bundesamt und den Verwaltungsgerichten entgegengehalten, daß sie nicht vor staatlicher Verfolgung geflohen seien und damit keinen Anspruch auf die Gewährung politischen Asyls hätten. Im übrigen sei der algerische Staat bereit, seine Bürger zu schützen. Daß die Schutzfähigkeit des algerischen Staates seit längerem nicht mehr gegeben ist, wird hier nicht zur Kenntnis genommen.

amnesty international kritisiert, daß bei den Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichte die Menschenrechtsverletzungen in Algerien keine ausreichende Berücksichtigung finden. Darüber hinaus besteht unseres Erachtens bei den Entscheidungsträgern ein Mangel an Landeskenntnissen und Hintergrundwissen. Zudem wird einseitig Bezug auf veraltete Auskünfte des Auswärtigen Amtes genommen, das die sich ständig verschlechternde Menschenrechtslage in Algerien weiterhin bagatellisiert.

Folglich werden viele Asylanträge durch das BAFl als ‘offensichtlich unbegründet’ abgelehnt und lösen damit den verkürzten Rechtsweg für die betroffenen Flüchtlinge aus. Selbst in den einstweiligen Rechtsschutzverfahren werden oftmals fast wörtlich von den Gerichten die Bundesamtsbegründungen übernommen. Häufig unterbleibt eine eigene summarische Prüfung durch den Richter. […]

amnesty international fordert deshalb die zuständigen bundesdeutschen Behörden auf, Asylgesuche von Flüchtlingen aus Algerien gründlich und vorurteilsfrei zu prüfen und nicht in eine bundesweite pauschale Ablehnungspraxis zu verfallen.[…]

Paßbeschaffung bei den algerischen Behörden

Soweit unserer Organisation bekannt, werden für die Paßbeschaffung bei den algerischen Behörden in der Bundesrepublik Deutschland noch die zweisprachigen deutsch-französischen Antragsformulare des algerischen Außenministeriums durch das Generalkonsulat in Frankfurt am Main verwandt. Dieses Formular ist in vierfacher Ausfertigung zur Paßbeantragung einzureichen. Neben den geforderten Daten zur Person und der Übersendung sonstiger zusätzlicher Ausweispapiere werden auch Angaben zum Militärdienst, zu Verhaftungen, zum Haftort, zu Verurteilungen und Strafverbüßung gefordert. Des weiteren sind acht Paßbilder und die Fingerabdrücke des Antragstellers beizufügen.

ai hält es nicht für ausgeschlossen, daß durch diese Verfahrensweisen auch Familienangehörige im Heimatland gefährdet werden können. Durch das Paßbeschaffungsverfahren sind die algerischen Behörden im Vorfeld von der bevorstehenden Abschiebung eines möglicherweise gefährdeten algerischen Staatsangehörigen unterrichtet und können bereits entsprechende Maßnahmen gegen seine Person einleiten. Zudem werden abgelehnte algerische Asylsuchende häufig in Begleitung von Beamten des deutschen Bundesgrenzschutzes (BGS) nach Algier abgeschoben, wo sie den örtlichen Sicherheitsbehörden zugeführt werden.[…]

Abschiebungen nach Algerien aus der Bundesrepublik Deutschland

amnesty international ist besorgt über vermehrten Berichte, denen zufolge algerische Staatsbürger in großer Zahl Opfer von « Verschwindenlassen » werden. Wir haben Grund zu der Annahme, daß nicht nur in Algerien lebende Personen von solchen Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, sondern im zunehmenden Maße auch aus dem Ausland abgeschobene oder sogar freiwillig zurückkehrende algerische Staatsbürger hiervon betroffen sind.1

Grundsätzlich muß festgestellt werden, daß sich die menschenrechtliche und politische Situation in Algerien nach den Präsidentenwahlen bisher nicht gebessert hat und daß das Klientel, das ai vor der Wahl bei Rückkehr nach Algerien für gefährdet hielt, Opfer von Menschenrechtsverletzungen bzw. gewaltsamen Übergriffen zu werden, unseres Erachtens auch weiterhin dieser Gefahr bei Rückkehr ausgesetzt ist.2

Rückkehrgefährdung von Mitgliedern und Sympathisanten der FIS

Nach Ansicht von ai sind nach Algerien zurückkehrende Flüchtlinge, die der FIS und ihrem politischen Umfeld zuzurechnen sind, häufig gefährdet, entweder Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Behörden zu werden oder gewaltsamen Übergriffen von bewaffneter anti-islamistischer Gruppen oder islamistischer Oppositionsgruppen ausgesetzt zu sein. Dies betrifft Angehörige der islamischen Heilsfront, d.h. sowohl Funktionäre als auch einfache Mitglieder der FIS.

Für FIS-Anhänger scheint sich zudem die Situation in Algerien weiter zu komplizieren, da weitverbreitete Berichte zunehmen, daß bewaffnete Gruppen, die sich selbst als ‘islamische Gruppen’ definieren, verantwortlich zeichnen für Tötungen von Mitgliedern anderer bewaffneter Gruppen, insbesondere Mitgliedern der FIS.

[…] Presseberichten ist zu entnehmen, daß die GIA – Groupe Islamique Armé (Bewaffnete Islamische Gruppe) Ende November 1995 alle FIS-Führer zum Tode verurteilt haben soll, da sie den « heiligen Krieg » gegen die Regierung verraten hätten. Hintergrund dieser Vorgehensweise scheint Berichten zufolge die Tatsache zu sein, daß die FIS sich überraschenderweise entschieden habe, den Wahlsiegs Zerouals anzuerkennen.

Im Ausland für die FIS-Organisation agierende Anhänger müssen damit rechnen, von ihren Heimatbehörden auch im Exil observiert zu werden. Die algerischen Stellen haben teilweise Kenntnis vom Wohnort der Asylsuchenden aus Algerien.3

IX-2 UNHCR (der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen)

Mitglieder und Unterstützer islamischer Gruppen (müssen) staatliche Verfolgung in Algerien gewärtigen und fallen als Angehörige der islamischen Heilsfront (FIS) und auch deren Familienangehörige sowie als Mitglieder der Hamas und der an-Nahda durchaus unter das Mandat des UNHCR, so daß ihnen der Flüchtlingsstatus nach Art. 1A (2) GFK zu gewähren sei, wenn die Antragsteller keine Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit oder schwerwiegende politische Verbrechen bzw. Kriegsverbrechen begangen haben. In diesem Zusammenhang weist der UNHCR auch darauf hin, daß eine politische Organisation, die Gewalt befürwortet oder anwendet, im zu entscheidenden Einzelfall nicht automatisch den Ausschluß nach der Gewaltklausel der Genfer Flüchtlingskonvention impliziert, sondern hier vielmehr zu prüfen sei, ob der Antragsteller explizit Gewalt angewendet oder sich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt hat – nur dann bestünde ein Ausschlußtatbestand nach GFK. […] Ebenso hält UNHCR Personen, die Opfer von gewaltsamen Übergriffen durch bewaffnete islamistische Gruppierungen werden können bzw. wurden für gefährdet – auch wenn sie nicht einer staatlichen Verfolgung unterliegen. Der UNHCR geht des weiteren davon aus, daß der algerische Staat derzeit nicht in der Lage ist, diesen Personenkreis bei Rückkehr nach Algerien ausreichend vor Gefahren für Leib, Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen. Deshalb sei für diesen Personenkreis bei glaubwürdigem Sachvortrag auch der Flüchtlingsstatus zu gewähren.

Das UNHCR in Deutschland weist auf die akute Gefährdung von algerischen Staatsangehörigen hin, die glaubhaft eine Bedrohung durch radikal-islamische Gruppierungen geltend machen. Der Gefährdungsgrad solcher Personen ist dabei nach Auffassung des UNHCR um so höher einzuschätzen, je mehr diese Personen in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten sind und durch ihre Handlungen oder ihre Funktion (z.B. als Angehörige bestimmter Berufsgruppen) sich in Gegensatz zu der von Anhängern radikaler Gruppierungen wie die GIA (Groupe Islamique Armé) oder der AIS (Armée Islamique du Salut), vertretenen Konzeption eines fundamentalistischen islamischen Staates gesetzt haben. Angesichts der Vielzahl von Anhängern der GIA oder der AIS in den letzten Monaten und Jahren an Zivilisten durchgeführten Morde ist festzustellen, daß der algerische Staat den von radikalen Gruppierungen bedrohten Personen keinen effektiven Schutz gewährt […] » und diese Personen « später auch in anderen Landesteilen ausfindig gemacht werden und daher einer entsprechenden Gefährdung durch ein Ausweichen in andere Landesteile nicht entgehen können.4

IX-3 LADDH (Ligue Algérienne de Défense des Droits de l’Homme)

[…] Die Situation der Menschenrechte ist tragisch. Die LADDH, die nichts anderes tun kann, als die schwerwiegenden Verletzungen der Rechte der Menschen festzustellen und zu verurteilen, erfährt von allen Seiten Angriffe, die der nationalen und internationalen Öffentlichkeit zeigen, daß in Algerien die Menschenrechte nur unter den größten Risiken -nämlich der Freiheit und des Lebens beraubt zu werden – verteidigt werden können. […] Der Vorstand der LADDH beurteilt die Sicherheitspolitik, die die schlimmsten Greueltaten erlaubt hat, als gescheitert. Sie hat nur die Gewalt im ganzen Land verbreitet und kein ernsthaftes Indiz weist darauf hin, daß sie kurzfristig oder längerfristig für das bestehende Regime nützt. Der Kampf zwischen dem Regime und den bewaffneten islamistischen Gruppen, die Gewalt, die immer eine Gegengewalt nach sich zieht, mit den Exzessen, die im Gegenzug andere Exzesse hervorrufen, erreichen auf der einen wie auf der anderen Seite das Grauen und das Unannehmbare, und Tausende von Algeriern werden in der Blüte ihres Lebens dahingerafft.[…]

Der Vorstand, der den Abbruch des Wahlprozesses, den Staatsstreich vom 11. Januar 1992, den Ausnahmezustand vom 9. Februar 1992 verurteilt hat; der die willkürlichen Festnahmen, die Folterungen, die Eröffnung der Konzentrationslager, die Ausnahmegesetzgebung verurteilte, während andere sie rechtfertigten, war der erste, der einen globalen Dialog ohne Ausschluß unterstützte […] Die unpopulären und schmerzhaften Maßnahmen, die vom IWF auferlegt wurden, die Umschuldung, die ökonomische Rezession, die Verschärfung der Arbeitslosigkeit, die Abwertung des Dinar und die Liberalisierung der Preise haben die Gehälter untergraben, eine steigende Inflation und eine brutale Senkung des Lebensstandards provoziert, die die Ärmsten, die Bedürftigsten treffen und die Reihen der Unzufriedenen vergrößern. Die Bevölkerung lebt in der Verzweiflung, in einer prekären Situation und ist von der Armut geschlagen oder rutscht mehr und mehr hinein. Die angestauten Frustrationen sind derart, daß die Gefahr einer sozialen Explosion droht.5

IX-4 Bericht des amerikanischen Außenministeriums

[…] Der Sicherheitsapparat des Staates besteht aus den neu gebildeten Kommunalgarden, der Polizei, der Gendarmerie und der Armee, die alle an der Repression der islamistischen Rebellion und an dem Kampf gegen den Terrorismus teilnehmen. Sie haben sich für eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht. Sie waren in Folter, willkürliche Festnahmen und extralegale Hinrichtungen verwickelt. Der Bürgerkrieg hat die Wirtschaft ruiniert, die langanhaltenden Probleme wie die Arbeitslosigkeit, die Inflation und der Mangel an Wohnungen, den Devisenmangel und das langjährige Erbe uneffektiver Regierungsplanungen verschärft. Durch Regierungsreformen stimuliert, entwickelt sich die Wirtschaft allmählich von einer zentralen Planwirtschaft zu einem mehr marktorientierten System. (…) Die Arbeitslosigkeit ist 1995 gestiegen, vor allem unter der jüngeren Arbeitsbevölkerung. Etwa 70 % der unter 30-jährigen konnten keinen angemessenen Arbeitsplatz finden. Einige verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit geringfügigem Schmuggel und Straßenverkauf. […]

Während die Regierung auf der Grundlage der Notstandsgesetze fortfährt, Hunderte von verdächtigen Islamisten festzuhalten, hat sie das letzte Gefangenenlager im November geschlossen und die 641 dort festgehaltenen Personen freigelassen […] Es gibt überzeugende Beweise dafür, daß die Sicherheitskräfte Hunderte extralegale Hinrichtungen vorgenommen haben, meistens als Vergeltungen für vorausgegangenen Angriffe der bewaffneten Gruppen, und daß sie oft die Gefangenen mißhandelt und gefoltert haben. Die Regierung hat weiterhin die Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit und die Freizügigkeit eingeschränkt und die Diskriminierung der Frauen fortgeführt. […] Viele Opfer sollen von in zivil gekleideten oder vermummten Sicherheitskräften getötet worden sein. Die Sicherheitskräfte sollen ihre Opfer während der Ausgangssperre, in der Nähe oder innerhalb ihrer Wohnungen, in Anwesenheit der Mitglieder ihrer Familien oder Freunden getötet haben. Hunderte von Körpern mit Schlafanzügen sollen entdeckt worden sein, ein Hinweis darauf, daß sie von ihren Wohnungen verschleppt und getötet wurden. Die Sicherheitskräfte sollen auch andere Personen getötet haben, die sich schon in Polizeigewahrsam befanden. […]

Man hat viele Morde angezeigt, die von Selbstverteidigungsgruppen als Vergeltung für den Tod von Militärs verübt wurden. Es ist anzunehmen, daß solche Gruppen die neun Personen, die neben einer Bäckerei entdeckt wurden, getötet haben, um die Ermordung eines Colonels am Vortag in der Nähe derselben Bäckerei zu rächen. Im September hat eine anti-islamistische Gruppe 90 Personen in Annaba getötet, offensichtlich als Racheakt für die Ermordung eines Kapitän der Gendarmerie und seiner Tochter durch Islamisten. Die anti-ialamistische Tageszeitung Liberté berichtete im Oktober, daß das Selbstverteidigungskomitee in einen Dorf in Ost-Algerien drei Männer festgenommen hat, die angeblich an einem Angriff auf das Dorf beteiligt waren. Die drei wurden ohne Prozeß erschossen. Die Regierung hat nicht die den anti-islamistischen Gruppen zugesprochene Gewalt verurteilt. […] Das Vergehen des Terrorismus ist so unklar definiert, daß es oft die gewaltlose Ausübung der Meinungsfreiheit mit einschließt.

Bewaffnete Gruppen, vor allem die GIA haben Hunderte, vielleicht auch Tausende Menschen getötet, unter ihnen waren Angehörige des Sicherheitsapparates und normale Zivilpersonen.6

IX-5 Auswärtiges Amt

[…] es gibt für die deutsche Botschaft in Algier außerhalb der staatlichen Verwaltung, von der keine objektiven Auskünfte zu erwarten sind, kaum noch Gesprächspartner. […]

Eine frühere Verbindung zum FIS allein führt nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung, strafbar sind nur bestimmte Handlungen. Rechtsgrundlage für die Verfolgung fundamentalistisch motivierter Straftaten ist seit Herbst 1992 das Anti-Terrorismus-Gesetz (« Décret législatif relatif à la lutte contre la subversion et le terrorisme ») Nr. 92-03 vom 30.09.1992. Danach wird die Gründung einer terroristischen oder subversiven Vereinigung mit lebenslanger Freiheitsstrafe, die Mitgliedschaft mit 10 bis 20 Jahren Freiheitsentzug bestraft. Im Strafgesetzbuch enthaltene Strafandrohungen (u.a. für Tötungsdelikte) wurden verschärft, soweit die damit zu ahnenden Taten subversiv oder terroristisch motiviert sind.

Abschiebungsrelevant erscheinen im Verfolgungskontext vor allem folgende Feststellungen:

– Die algerische Strafjustiz ist grundsätzlich an das Gesetz gebunden. Die existentielle Bedrohung des Regimes durch die fundamentalistische Opposition hat allerdings zu weitgefaßten Straftatbeständen und zu nach unserem Rechtsempfinden unangemessen hohen Strafandrohungen geführt. Hinzu kommt eine Prozeßführung, die unseren Anforderungen an Tatsachenfeststellung und rechtlicher Würdigung nicht entspricht.

– Die Bindung an Recht und Gesetz ist schwächer im Bereich der Exekutive, insbesondere bei der polizeilichen Verfolgung subversiver Straftäter (durch Sondereinheiten der Streitkräfte, der Gendarmerie und der Polizei). Die sogenannten Sicherheitskräfte genießen im Interesse einer möglichst wirksamen Bekämpfung des Terrorismus ein großes Maß an Autonomie. Da sie selber und ihre Angehörigen bevorzugtes Ziel terroristischer Anschläge sind, wird ihr Verhalten gegenüber diesen Tätern auch von Haßgefühlen diktiert.

Soweit Verdächtige festgenommen werden, besteht keine Gewähr, daß sie in den vorgeschriebenen Fristen ihrem gesetzlichen Richter zugeführt werden und sie eine dem Gesetz entsprechende Behandlung erfahren.

In vielen Fällen werden Verdächtige bei Aktionen der Sicherheitskräfte getötet. Was über die Umstände an die Öffentlichkeit gelangt (i.d.R. durch die staatliche Nachrichtenagentur APS), erlaubt nicht immer die Rechtmäßigkeit der Tötungen zu beurteilen.

Nach Wissen des Auswärtigen Amtes sind Angehörige der Sicherheitskräfte für ungesetzmäßiges Handeln bisher nicht zur Rechenschaft gezogen worden.

Als Nachfluchtgrund könnten öffentlich sichtbare Aktivitäten gegen den algerischen Staat im Ausland (etwa durch Pressekonferenzen, Interviews) sowie die logistische Unterstützung der in Algerien operierenden bewaffneten Gruppen (insbesondere durch Waffenbeschaffung) relevant werden. Eine bekannte, in Deutschland operierende Exilgruppe ist die « Instance exécutive du FIS à l’étranger » (Schwerpunkt im Raum Aachen-Köln). Ein bloßer Asylantrag ist nicht verfolgungsrelevant. […]

Es muß davon ausgegangen werden, daß in Algerien gefoltert wird. Zu zahlreich sind die Hinweise darauf, die nicht überzeugend widerlegt worden sind. Die Folter wird nach dem Eindruck des Auswärtigen Amtes vom Staat nicht gefördert, es besteht jedoch der Eindruck, daß sie nicht oder nicht konsequent geahndet wird. Folterungen und Mißhandlungen erwachsen zum Teil aus den bei den Sicherheitskräften bestehenden Haßgefühlen. Hauptzweck der Folter scheint die Erpressung von Auskünften oder Geständnissen zu sein.

[…] Eine konsequente Ahndung von Übergriffen der Sicherheitskräfte ist indes bisher nicht bekannt geworden. Der streitbare und gegenüber dem Verhalten staatlicher Stellen sehr kritisch eingestellte algerische Rechtsanwalt Ali Yahia, Präsident der « Ligue Algérienne de la Défense des Droits de l’Homme » hat sogar die Auffassung vertreten, letztlich sei das Verhalten staatlicher Organe Ursache des Terrorismus in seinem Lande. […]

Eine Bürgerkriegssituation besteht nach Auffassung des Auswärtigen Amts in Algerien nicht. In einigen Gebieten konkurriert die Staatsgewalt mit starken terroristischen Kräften. […]

Nach Algerien ausgewiesene oder abgeschobene algerische Staatsangehörige werden bei der Einreise in Polizeigewahrsam genommen, der mehrere Tage dauern kann. Zweck ist die Feststellung der Identität und die Prüfung, ob der Abgeschobene einer Straftat verdächtigt ist (etwa sich dem Wehrdienst entzogen hat oder desertiert ist). Das Auswärtige Amt hat keine Hinweise dafür, daß es bei diesem Verfahren zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Im gegenteiligen Fall würde es z.B. naheliegen, daß sich Betroffene oder deren Familien, Freunde oder Interessensvertreter an die Botschaft der BRD in Algier wenden. Dies ist nie geschehen.7 […]

Abschiebungen nach Algerien erfolgen auf dem Luftweg über den Flughafen Algier. Abgeschobene Personen müssen im Besitz eines Reisedokumentes sein. Algerien erkennt seine völkerrechtliche Verpflichtung, eigene Staatsangehörige zurückzunehmen, grundsätzlich an, jedoch gibt es Probleme mit den Transportkapazitäten und der von Algerien geforderten Sicherheitsüberprüfung vor Rücknahme bzw. Ausstellung von Heimreisepapieren.8

 

 

1 ai, Anhörung zur politischen Lage in Algerien und zur Problematik der Abschiebung abgelehnter Asylsuchender im Innenausschuß des Landtages des Saarlandes am Donnerstag dem 29. Juni 1995.

2 ai, Gefährdung.

3 ai, Rückkehrgefährdung von Mitgliedern und Sympathisanten der FIS, März 1996.

4 Aus einem Brief des UNHCR an einen Anwalt vom 30. Januar 1996.

5 Auszüge eines Kommuniqués vom 13. Oktober 1994, in Livre Blanc, Supplément, 245.

6 Auszüge aus den Berichten von 1995 und 1996.

7 Von dieser Selbstverständlichkeit auszugehen, ist zynisch angesichts der Behandlung, die Asylsuchende hier erfahren, und des erschwerten Zugang zur Botschaft in Algier. Die Schlußfolgerung zu ziehen, daß keine Verfolgung besteht, weil sich niemand beschwert, zeigt nur, wie leichtfertig auf unqualifizierte und billige Begründungen zurückgegriffen wird und wie gering die Sorge der deutschen Behörden ist, den vielen Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen nachzugehen.

8 Auswärtiges Amt, Lagebericht, 1. Dezember 1995

 

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