II Die algerische Parteienlandschaft

II Die algerische Parteienlandschaft

Nach dem Erlaß des Parteiengesetzes 1989 haben an die 60 Parteien ihre Zulassung erbeten. Viele der neuen Organisationen sind Gruppen, die winzig sind und nur sich selbst repräsentieren, andere sollen sogar Kreationen des Regimes sein, um parteipolitische Konflikte zu schüren oder zuzuspitzen und dadurch eine bessere Kontrolle zu erlangen. Die hier aufgeführten Parteien sind insofern die wichtigsten, als daß sie entweder bei den stattgefundenen Wahlen eine große Anzahl von Stimmen erhalten haben (FIS, FLN und FFS) oder weil sie zwar klein sind, aber sich ein gewisses Gehör verschaffen können, sei es über eine ihnen wohlgesonnene Presse, über ihre guten Beziehungen zum Regime oder weil sie zu den UnterzeichnerInnen der Plattform von Rom gehören.

1- Die FLN, Front de Libération Nationale (Nationale Befreiungsfront) wurde am 1. November 1954 zu Beginn des Befreiungskrieg gegründet und nach 1963 als Einheitspartei etabliert. Der letzte Vorsitzende der Partei Abdelhamid Mehri (1988-1995) wurde während des letzten Parteitages im Januar 1996 abgesetzt und durch Boualem Benhamouda, ein Mann des Regimes1, ersetzt. 1990 wurde die Partei erneuert und war offiziell nicht mehr Regierungspartei. Mehri ist es zu verdanken, daß die Partei, trotz langjähriger Verwicklung in Staatsgeschäfte, begann, eine relativ glaubwürdige Oppositionspolitik zu machen. Wie ihr Namen schon zeigt, ist die FLN eine Front, d.h., daß sich eine Vielzahl von Strömungen darin finden. Der Bruch mit dem Staatsapparat ist nicht völlig vollzogen worden, und ausgerechnet jetzt nach der Präsidentschaftswahl manifestieren einige den Wunsch, wieder enger mit den Staatsorganen zusammenzuarbeiten. Dies ist wohl der Grund für die Absetzung Mehris. Die FLN erhielt im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen im Dezember 1991 etwa 23% der Stimmen. Sie gehörte zu den Parteien, die gegen den Abbruch der Wahlen im Januar 1992 protestierten und zu den Oppositionsparteien, die sich in Rom Ende des Jahres 1994 und Anfang 1995 trafen, um die Plattform für eine politische und friedliche Lösung der algerischen Krise zu erarbeiten und zu unterzeichnen. Sie rief zwar zum Boykott der am 16. November 1995 stattgefundenen Präsidentschaftswahlen auf, scheint aber durch die unerwarteten Ergebnisse in eine Umbruchphase gestürzt zu sein.

2- Die FIS, Front Islamique du Salut (Islamische Rettungsfront) ist seit September 1989 legalisiert. Sie ist eine Art Verbund unterschiedlicher Strömungen der islamistischen Bewegung. Die Beschlüsse werden von dem Majles al-Shura gefaßt, einem Rat, der aus etwa 40 Personen besteht. Sie soll 1990 an die drei Millionen Mitglieder gehabt haben. Ihr Präsident ist Cheikh Abassi Madani, doch gilt der Imam Ali Benhadj als ebensowichtige Person. Sie ist islamisch orientiert, d.h. sie lehnt die strikte Trennung von staatlichen und religiös-moralischen Belangen ab. Die gesetzliche Grundlage ist die Sharia, Konzepte wie Demokratie und soziale Gerechtigkeit werden im islamischen Verständnis erarbeitet und umgesetzt. Die FIS plädiert für die Restituierung des verstaatlichten Besitzes und befürwortet die Privatwirtschaft. Sie übernahm durch die Wahlen im Juni 1990 die Verwaltung von 55% der Kommunen und 32 der 48 Wilayas (Distrikte). Im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen im Dezember 1991 erhielt sie etwa 47% der Stimmen. Aufgrund der zu erwartenden parlamentarischen Mehrheit im zweiten Wahlgang wurde die Wahl abgebrochen und die Partei verboten. Die beiden Führer der FIS waren aber schon im Juni 1991 inhaftiert worden. Nach dem Verbot der FIS im März 1992 wurden viele ihrer Führer und Aktivisten verfolgt und eingesperrt. Einige der gewählten Abgeordneten gingen ins Ausland, wo sie die « parlamentarische Delegation » bildeten, andere tauchten unter, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Die FIS hat nach dem Abbruch der Wahlen immer wieder ihre Bereitschaft zum Dialog gezeigt2, doch dabei bestimmte Forderungen gestellt: noch im Juni 1995 forderte sie die Aufhebung des Ausnahmezustands und aller eingeführten Sondergesetze, die Freilassung der inhaftierten Verantwortlichen der Partei, sowie aller politischen Gefangenen, die Möglichkeit, ein Treffen mit allen Verantwortlichen der FIS abzuhalten, die Ernennung einer neutralen Regierung, die Wahlen organisiert und die Staatsangelegenheiten während der Übergangszeit leitet usw.3 Die FIS ist eine der unterzeichnenden Parteien der Plattform von Rom und hat zum Boykott der Präsidentschaftswahlen aufgerufen.

3- Die FFS, Front des Forces Socialistes (Front der Sozialistischen Kräfte) ist eine Abspaltung der FLN und existiert seit 1963. Sie wurde erst 1989 legalisiert. Ihr Vorsitzender ist Hocine Ait-Ahmed, einer der « historischen Führer » der algerischen Revolution, der bis auf eine kurze Phase von 1989 bis 1992, seit 1966 im Exil lebt. Die FFS ist sozialistisch orientiert, d.h. sie plädiert für soziale Gerechtigkeit und eine staatliche Kontrolle der strategischen Sektoren, stellt sich aber nicht gegen die Privatwirtschaft. Sie setzt sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter und der berberischen und arabischen Kultur ein – daher die Forderung nach offizieller Anerkennung der Berbersprache, des Tamazigh. Die FFS ist vor allem in der Kabylei verankert, dem Berbergebiet im Norden Algeriens, aber genießt durchaus eine gewisse Anerkennung auf nationaler Ebene durch ihre entschlossene Oppositionshaltung. Sie rief 1990 zum Boykott der Kommunalwahlen auf, erhielt in den Parlamentswahlen 1991 etwa 7,5 % der Stimmen. Sie protestierte gegen den Abbruch der Wahlen, das Verbot der FIS, traf sich mit den anderen Parteien in Rom zur Verabschiedung der Plattform und rief zum Boykott der Präsidentschaftswahlen 1995 auf.

4- Die RCD, Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (Bewegung für Kultur und Demokratie) ist eine Abspaltung der FFS und existiert seit 1989. Sie ist vor allem in Algier und in der Kabylei verankert. Ihr Vorsitzender ist Said Sadi und die Mitgliederzahl betrug 1990 etwa 25 000 Personen. Die RCD ist eine Partei, die laizistisch orientiert ist und die vom Staat geplanten Liberalisierungsreformen unterstützt. Sie nahm an den Kommunalwahlen 1990 teil und erhielt nur 2% der Stimmen, obwohl sie durch den Boykottaufruf der FFS einige Stimmen mehr gewann. Bei den Parlamentswahlen erhielt die RCD etwa 3% der Stimmen. Sie setzte sich massiv für den Abbruch der Wahlen ein und unterstützt seitdem das Regime im Krieg gegen die Islamisten. Said Sadi forderte ein härteres Durchgreifen des Militärs, die Schaffung von Bürgerwehren und lehnt jeden Dialog mit der FIS ab. Er kandidierte für die Präsidentschaftswahlen im November 1995 und erhielt etwa 9,3 % der Stimmen.

5- Der MDA, Mouvement pour la Démocratie en Algérie (Bewegung für die Demokratie in Algerien) wurde im Exil 1984 vom ehemaligen Staatspräsident Ahmed Ben Bella gegründet und 1990 legalisiert. Das Programm basiert auf arabisch-islamischen Werten. Die Bewegung tritt für einen starken staatlichen Sektor und eine unabhängige nationale Entwicklung ein. Sie zählt nicht viele Anhänger, spielt insofern aber eine Rolle, als daß sie von einem der « historischen Führer » geleitet wird. Ben Bella, der erste Präsident Algeriens von 1962 bis 1965, rief zum Boykott der Kommunalwahlen 1990 auf und erhielt nur wenige Stimmen während der Parlamentswahlen 1991. Ben Bella verurteilte den Wahlabbruch und schloß sich der in Rom versammelten Opposition an. Seine Organisation gehört auch den Parteien an, die zum Boykott der Präsidentschaftswahlen aufriefen.

6- Die PAGS, Parti de l’Avant-Garde Socialiste (Partei der sozialistischen Avantgarde) gründete sich 1966 als Nachfolgerin der algerischen kommunistischen Partei. Sie war zwar illegal, wurde aber toleriert. 1989 war der Zeitpunkt ihrer offiziellen Anerkennung. Sie löst sich 1993 auf und konstituiert sich neu unter den Namen Ettahadi (die Herausforderung). Sie ist eine kleine Partei, die jedoch über einflußreiche Vertreter und Anhänger in Presse, Staatsapparat und Assoziationen verfügt. Da sie die Zulassung islamistischer Parteien strikt ablehnt, werden ihre AnhängerInnen von den bewaffneten Gruppen bedroht. Die Partei trat bei den Kommunalwahlen an, erhielt lediglich 25 000 Stimmen. Sie boykottierte die Präsidentschaftswahlen, weil der Kandidat von Hamas zugelassen wurde. Sie lehnt die Plattform von Rom ab.

7- Die Hamas stammt aus der Vereinigung für Anleitung und Reform (Jam’iya El-Irshad wa El-Islah), die als karitative Vereinigung entstand. Nach den Wahlen von 1990 gründete Mahfud Nahnah die Bewegung für eine islamische Gesellschaft (Hamas), die sich für eine Islamisierung des gesellschaftlichen Lebens mittels Überzeugung und Erziehung einsetzt. Sie nahm an den Parlamentswahlen 1991 teil und erhielt im ersten Wahlgang 5,35% der Stimmen. Sie befürwortete den Abbruch der Wahlen und ließ sich in den darauffolgenden Jahren auf Gespräche mit der Regierung ein. Obwohl Hamas am ersten Kolloquium in Rom teilnahm, unterschrieb sie nicht die ausgearbeitete Plattform. Schließlich kandidierte der Hamas-Vorsitzende Nahnah für die Präsidentschaftswahlen und erhielt 25,3% der Stimmen. Sicherlich profitierte er von dem Wahlboykott bzw. dem Verbot der FIS und gewann einige ihrer Stimmen. Nahnah tritt für einen Dialog zwischen der Regierung und der FIS ein.

8- En Nahda ist wie Hamas eine Partei, die aus einer religiösen Vereinigung hervorgegangen ist. Die Bewegung der islamischen Wiedergeburt (Harakat En Nahda El Islamiya) wird geführt von Cheikh Abdallah Djaballah und existiert seit Anfang 1991. Sie nahm an den Parlamentswahlen 1991 teil, erhielt aber nur 2,25% der Stimmen. Sie protestierte gegen den Abbruch der Wahlen und schloß sich den UnterzeichnerInnen der Plattform von Rom und dem Boykottaufruf der Präsidentschaftswahlen an.

9- Die PRA, Parti du Renouveau Algérien (Algerische Erneuerungspartei) wurde auch 1989 zugelassen. Der Vorsitzende Nourredine Boukrouh ist stark von den Ideen des Denkers Malek Bennabi beeinflußt. Die Partei versteht sich als eine moderne islamische Organisation, lehnt den Sozialismus ab, will das Privateigentum und ausländische Investitionen fördern. Sie nahm an den Kommunalwahlen 1990 teil und erhielt die Verwaltung von 2 Kommunen. Boukrouh beteiligte sich an dem ersten Treffen in Rom, ließ sich dann auf Gespräche mit der Regierung ein und kandidierte schließlich bei den Präsidentschaftswahlen 1995, wo er 3,8% der Stimmen erhielt. Er setzt sich auch für einen Dialog mit der FIS ein.

10- Die PT, Parti des Travailleurs (Arbeiterpartei) ist unter dieser Bezeichnung seit 1990 legalisiert, existiert aber schon seit 1980 unter verschiedenen Namen. Louisa Hanoune ist die Vorsitzende dieser trotzkistischen Partei, die den Sozialismus, einen laizistischen Staat, die berberische Sprache als zweite Nationalsprache und die Gleichberechtigung der Geschlechter befürwortet. Sie setzt sich für die Nichtrückzahlung der Außenschulden als Voraussetzung für die Ankurbelung der Wirtschaft ein. Obwohl die PT ein anderes Gesellschaftsprojekt als das islamistische verfolgt, hat sie die Diskussion, vor allem mit der FIS nie abgelehnt und plädiert für die Aufhebung ihres Verbots. Die PT gehört dem Zusammenschluß der Parteien an, die in Rom die Plattform erarbeiteten und zum Boykott der Präsidentschaftswahlen aufriefen.

Wir haben bei dieser kurzen Beschreibung der Parteien darauf verzichtet, im Detail auf die spezifische Gefährdung ihrer Anhänger hinzuweisen, da fast alle auf die eine oder andere Weise bedroht werden. Die einen seien Kollaborateure der Regierung, die anderen « Terroristen » und manche werden für ihre Vermittlerrolle, wiederum andere wegen ihrer Popularität oder ihres politischen Einflusses angegriffen. Alle Parteien haben unter ihren Mitgliedern und Anhängern Opfer zu beklagen – nur leider sind kaum Fälle aufgeklärt worden, so daß es sehr schwer ist, die Drahtzieher ausfindig zu machen.

 

 

1 Er war Minister unter Boumediène und unter Chadli.

2 Zu diesem Zeitpunkt war Abdelkader Hachani ihr Sprecher, der immer wieder Verhandlungen gefordert hat. Im November 1992 war der Imam Sahraoui zu Gesprächen mit der Regierung entsandt worden, die diese jedoch ablehnte; 1994 hatte die Regierung drei FIS-Vertreter freigelassen, um Kontakte zwischen ihr und den FIS-Verantwortlichen zu etablieren, die sie doch sehr schnell für gescheitert erklärte; die Mitteilungen der FIS-Führung an die Regierung von Juni 1995 bezeugen auch die Bereitschaft zur Beilegung des Konfliktes. Letzte Initiative ist der Brief von Rabah Kebir, nach den Präsidentschaftswahlen im November 1995.

3 Brief von Ali Benhadj an die Regierung vom 19. Juni 1995, El Munqid 7/95.

 

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