XVI- Die Mauern des Schweigens durchbrechen
XVI- Die Mauern des Schweigens durchbrechen
Durch unsere persönlichen Kontakte zu AlgerierInnen in der Abschiebehaft und der weitergehenden Asylarbeit mit ihnen, begegnen wir immer wieder Menschen, die von einer immensen Hoffnung getragen werden. Wir erleben Menschen, die einen Traum hatten und noch haben, Menschen, die einen tiefen Glauben haben. Männer und Frauen, die hofften, die Geschicke ihres Landes mitbestimmen, ihren Beitrag zur Neugestaltung Algeriens liefern zu können. Menschen, die uneigennützig sich in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt hatten. Menschen, die für kurze Zeit davon überzeugt waren, daß die Erlangung der Würde der Menschen in Reichweite ist.
Demgegenüber stehen die unzähligen Berichte und Zeugnisse über wütende Bärtige, die jede Frau am liebsten mit Gewalt ins Heim zurückdrängen, die Musik und den Tanz verbieten würden und keinen Sinn für Demokratie und Kultur hätten. « Barbaren », die im Namen der Religion die Waffen erheben, gegen all diejenigen, die sich für Freiheit und Menschenrechte einsetzen. Diese « Metzger » und « tollwütigen Ratten » – wie der algerische Schriftsteller Rachid Boudjedra sie nennt – hätten allen « Demokraten » und dem algerischen Staat den Krieg erklärt und würden eine zweite Front in Europa einrichten. Zu allem Überfluß würden sie auch noch politisches Asyl in Deutschland erhalten!
Mit wem hatten wir denn zu tun in unserer Asylarbeit? Etwa mit « blutrünstigen Messerstechern », wie immer zu hören ist? Wie konnte es dann sein, daß diese Männer und Frauen, die sich angeblich einem « Vernichtungsprojekt » verschrieben hatten – alle Andersdenkenden physisch auszuschalten – in Tränen ausbrachen, wenn sie von der Ermordung des Intendanten des algerischen Nationaltheaters Azeddine Medjoudi oder des Sängers Cheb Hasni erfuhren? Wie konnten sie, wenn sie jedem Ausländer den Tod wünschten, die Ermordung der europäischen Geistlichen verurteilen? Wie konnten sie immer wieder ihren Wunsch und ihre Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß bald alle AlgerierInnen wieder in Frieden leben?
Immer wieder mit diesen Widersprüchen konfrontiert, begannen wir systematisch die Presse, Publikationen und Aussagen der Flüchtlinge zu durchforsten und aufzuarbeiten:
Unsere Arbeit führte uns zu Einsichten und Einschätzungen, die der üblichen hier in Deutschland verbreiteten Darstellung widersprechen (bis auf wenige Ausnahmen):
– wir entdeckten eine staatliche Kriegsmaschine, die auf der militärischen wie medialen Ebene sehr gut funktioniert und sich der Komplizenschaft der westlichen Regierungen sicher ist,
– wir erkannten, daß ein Krieg wütet, der sich gegen die gesamte Bevölkerung richtet und sich dieser auch noch bedient. Die Anschläge und Morde bewaffneter Gruppen, die nicht vertuscht werden dürfen, kommen dem Militär und Geheimdienst zugute, um ihre Herrschaft und Repression zu rechtfertigen,
– wir stellten fest, daß ein Großteil der europäischen Medien und Regierungen in dieser Kriegspropaganda einstimmen, weil sie dem herrschenden FeindbildIslam und dem ökonomischen Zugriff auf Ressourcen dienlich ist,
– wir sahen, daßkurzum ein unbeschreibliches Leid das Land heimsucht und daß nur noch das « X Algérien » auf den Gräbern an die in Folterkellern und Konzentrationslagern begrabene Menschenwürde erinnert,
– wir erlebten, wie den Frauen und Männern, die aus Algerien fliehen, weil sie verfolgt oder terrorisiert werden, hier mit Verachtung begegnet wird,
Mit dieser Arbeit möchten wir dazu beitragen, daß den Menschen, die hier Zuflucht suchen, mehr Glaubwürdigkeit geschenkt und Schutz gewährt wird; daß die Nachrichtensperre, die über den Greueltaten liegt, aufgehoben wird; daß die begangenen Verbrechen aufgeklärt werden; kurzum – wie ein algerischer Oppositionspolitiker es forderte – die Mauern des Schweigens endlich durchbrochen werden.