Warum dieses Heft

Warum dieses Heft?

Seit nunmehr vier Jahren kommen zunehmend AlgerierInnen nach Deutschland und stellen einen Antrag auf politisches Asyl. Diese neue Entwicklung steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der veränderten Situation in Algerien. Die Zahlen der einreisenden Flüchtlinge sprechen für sich: Haben 1986 lediglich 22 AlgerierInnen einen Asylantrag gestellt, waren es 1990 schon 1035, und 1993 stieg die Zahl auf 11 262. Im Jahr 1994 waren es dann nur noch ein Viertel im Vergleich zum Vorjahr, aufgrund der neuen deutschen Asylgesetzgebung und der restriktiven Visapolitik der europäischen Länder. Wie wir zu erklären versuchen werden, zwingt die politische, bürgerkriegsähnliche Lage in Algerien viele zu fliehen. Ein vom Militär dominiertes Regime, das alles daran setzt, sich an der Macht zu halten, führt einen Krieg, der immer mehr Menschen in blutige Auseinandersetzungen hineinzieht und für immer größere Verunsicherung sorgt. Doch die Situation in Algerien erregt kein großes Aufsehen, da allgemein die Meinung verbreitet ist, es handele sich um einen « legitimen » Kampf des Staates gegen « islamischen Terrorismus ». Diese Einschätzung führt jedoch dazu, daß massive Übergriffe der Sicherheitskräfte, schwerwiegende Eingriffe in die Meinungsfreiheit, Verfolgungen und Folter, die alltäglich sind, verschwiegen werden. Wir hoffen, mit diesem Beitrag die Mauer des Schweigens über das, was tatsächlich in Algerien geschieht zu durchbrechen.

I-1 Algerien in den westlichen Medien

Es wird zwar regelmäßig über Algerien in den Medien berichtet, doch sehr einseitig. Das allgemein verbreitete Schreckensbild des « Fundamentalismus » hat zudem dazu geführt, daß die öffentliche Meinung in Deutschland sich zurückhaltend verhält angesichts der Gewalt, die in Algerien herrscht. Die militärische Konfrontation, die weitgehend das Klima im Lande seit vier Jahren prägt, wird meistens auf die Attentate und Morde der mutmaßlichen Islamisten reduziert. Die Vergehen der algerischen Sicherheitskräfte gegen « Fundamentalisten » und Zivilisten werden dagegen gerne übersehen, heruntergespielt oder gar gerechtfertigt.

Hinzu kommt, daß der Konflikt mit Vorliebe als eine Konfrontation zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftsentwürfen verstanden wird: auf der einen Seite die religiös-fanatischen Islamisten, die ein totalitäres Regime einführen, die Frauen verschleiern und ins Haus verbannen wollen, den Westen ablehnen und den Iran bzw. den Sudan als Vorbild haben. Auf der anderen Seite sind die freiheitsliebenden, modernen Demokraten, die sich den westlichen Werten verpflichtet fühlen und die « Barbarei » bekämpfen. Da ist klar, wer mit der Solidarität der bundesdeutschen Öffentlichkeit rechnen kann. Diese vereinfachende Sichtweise bedeutet nicht, daß diejenigen, die dem « demokratischen » Lager zugeordnet werden, in der BRD eher als politische Flüchtlinge anerkannt werden als die « Islamisten ». Doch genießen diese zumindest in den Diskussionen oder Veranstaltungen eine spontane Anteilnahme an ihrem Verfolgungsschicksal.1

Angesichts der in den Medien geführten Debatte über die « Gefahr des Islam », den « Angriff des Islam auf die Frauen », die « Bedrohung durch den Islam », den « Krieg der Kulturen »…, die nicht nur eine tiefe Ablehnung gegenüber Muslimen erzeugt, sondern die Gewißheit stärkt, der « Westen » verkörperedie allgemeingültige, universelle und für alle Menschen anzustrebende Weltanschauung, erhält der Konflikt in Algerien eine besondere Brisanz. Diese nur kurz angedeuteten Aspekte sind in der Begegnung mit asylsuchenden AlgerierInnen immer präsent. Dabei handelt es sich oft um Un- oder Halbwissen und Vorurteile, denen wir hiermit entgegenwirken möchten.

Der Personenkreis (Beratungsstellen, AnwältInnen, HeimbetreuerInnen, SozialarbeiterInnen…, aber auch Gerichte), der sich unmittelbar mit den Neuankömmlingen befassen muß und ihre Situation einzuschätzen versucht, ist oft überfordert bzw. von den hiesigen reduktiven Darstellungen und den gängigen Vorurteilen negativ beeinflußt.2

Die Situation in Algerien ist durchaus komplex und verworren. Insofern kann hier auch nicht der Ort sein, sie genügend zu erklären. Wir versuchen aber zum besseren Überblick einen kurzen Abriß der jüngsten Geschichte Algeriens zusammenzutragen, in dem es vor allem um Menschenrechtsverletzungen und staatliche Verfolgung gehen wird. Um ein tieferes Verständnis der Entwicklungen in Algerien zu vermitteln, müßte eine historische Abhandlung vorgenommen werden, die die heutige Situation, ausgehend vom durchgreifenden Kolonialismus, analysiert. Dies können wir an dieser Stelle nicht leisten.

Oberflächlich gesehen, scheinen sich in Algerien zwei Lager gegenüberzustehen. Auf der einen Seite die bewaffneten Gruppen, die sich der islamistischen Bewegung zuordnen und auf der anderen Seite das Militär. Diese vereinfachende Darstellung verschleiert eine Tragödie, die nicht auf eine militärische Auseinandersetzung zweier vergleichbarer Rivalen reduziert werden kann. Auch wenn alle BeobachterInnen und ExpertInnen sich darüber einig sind, daß im Grunde das Militär über das Land herrscht, wird die Bedeutung seiner historischen und gegenwärtigen Rolle vernachlässigt und selten in die Analyse einbezogen. Vorrang haben Erklärungen, die beispielsweise das Einparteiensystem, die sozialistische Option, die wirtschaftliche Krise oder die Zulassung einer « antidemokratischen » Partei, wie der FIS als Ursachen für die Krise anführen. Weiter unten werden wir auf die Bedeutung der Armee eingehen (Vgl. I-4).

I-2 Warum von staatlicher Gewalt sprechen?

In kaum einem anderen Land wird ein Krieg geführt, der so wenig bekannt ist, von dem so wenig Bilder zu sehen sind. In den europäischen Medien wird hauptsächlich über Anschläge und Attentate berichtet, die den bewaffneten islamistischen Gruppen zugeschrieben werden. Ohne in Zweifel ziehen zu wollen, daß in der Tat viele grauenhafte Morde von bewaffneten Personen oder Gruppen verübt werden, die sich dem islamistischen Spektrum zuordnen lassen, müssen doch drei Punkte hervorgehoben werden:

1- Die Situation in Algerien ist so undurchschaubar, daß die Urheber vieler Gewaltakte nicht bekannt sind. Offiziell wird weder von kriminellen Taten noch über die Existenz von Racheakten berichtet. Alle Verbrechen, wie Erpressungen, Diebstähle, Brände, Vergewaltigungen und Morde werden systematisch den « Islamisten » zugesprochen, die in der algerischen Presse ausschließlich mit dem Begriff « Terroristen » bezeichnet werden. In der letzten Zeit sind des öfteren Berichte bekannt geworden, die zumindest die Urheberschaft für manche Greueltaten in Frage gestellt und gezeigt haben, daß Verbrechen aus diversen Motiven verübt werden. Im Verlauf dieses Textes werden wir einige Fallbeispiele dafür anführen.3

2- Inzwischen erheben sich immer mehr Stimmen, um einige der Anschläge zu dementieren, die politischen bewaffneten Gruppen zugeschriebenen wurden und statt dessen die algerischen Sicherheitskräfte oder staatlich tolerierte Todesschwadronen dafür verantwortlich zu machen. Allerdings finden diese Stimmen in Algerien überhaupt kein und in Europa nur sehr wenig Gehör. Der spanische Schriftsteller und Journalist Juan Goytisolo, der seit vielen Jahren Algerien bereist und darüber berichtet, schreibt:

In der giftigen Atmosphäre in Algier sind Aktionen nicht identifizierter Kommandos, die unter den Sympathisanten der Islamisten Angst und Schrecken verbreiten, bekannt und an der Tagesordnung. Eine mysteriöse Organisation Freier Algerischer Jugendlicher schwört den Terroristen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und fordert die Entführung und Ermordung von Familienangehörigen bekannter Mitglieder der FIS oder von Personen, die diesen nahestehen. Zahlreiche Strafanzeigen sprechen davon, daß vermummte Männer mit Tarnanzügen während der Ausgangssperre die Wohnungen der Verdächtigen stürmen; die Leichen der Abgeführten liegen im Morgengrauen irgendwo auf den Straßen des Viertels, oder werden, wie hartnäckige, von der Presse in Umlauf gebrachte Gerüchte besagen, aus den vor einem halben Jahrhundert unter den französischen Kommissariaten gebauten Verhörkellern geholt, in Plastiksäcken, um sie heimlich zu verscharren.4

3- Die Gewalt, die von bekannten oder unbekannten Gruppierungen ausgeht, muß dokumentiert und verurteilt werden. Dies darf aber keinesfalls dazu führen, daß aus politischer Opportunität die Repression, die vom Staat, den Sicherheitskräften und der Armee ausgeht, verschwiegen oder sogar legitimiert wird.5Das Regime in Algerien führt einen Krieg, der sich schon lange nicht mehr nur gegen bestimmte Personen oder Gruppen richtet, sondern der mittlerweile die gesamte Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht. Daß die sich als Demokraten bezeichnenden Personen oder Kräfte nicht davon verschont bleiben, sollten die Morde an Staatspräsident Mohammed Boudiaf, dem ehemaligen Geheimdienstchef und Regierungschef Kasdi Merbah oder dem renommierten Psychiater Mahfud Boucebci hinreichend klargestellt haben. Aber darauf kommen wir noch später zurück.

Mittlerweile ist es eine Binsenwahrheit, daß in Algerien zwischen 50 000 und 70 000 Menschen umgekommen sind, oder anders gesagt, etwa 1000 Menschen jede Woche den Tod finden.6 Die meisten Journalisten geben diese Zahlen an, um einige Zeilen weiter über die Greultaten der « Islamisten » zu berichten. Die staatliche Zensur und der selbstauferlegte Maulkorb führen dazu, daß die Regierungsdarstellung übernommen wird, nämlich daß die enorme Zahl der Toten von den bewaffneten Gruppen verursacht wird. Es wird nicht hinterfragt, wer unter welchen Umständen das Leben verliert, eine Frage, die etwas mehr Aufschluß über die Drahtzieher geben würde. Wenn von algerischen Sicherheitskräften « Terroristen » umgebracht werden, dann geschieht dies in der Regel aus Notwehr oder weil diese einen Fluchtversuch unternommen haben. Diese Sprachregelung wird von Regierungsseite systematisch gebraucht, um jeden Mord, den die Sicherheitskräfte verüben, zu legitimieren. Dies erinnert bitter an vergangene Zeiten, als die koloniale Repression sich auf die gesamte Bevölkerung niederschlug und jeder Algerier als « Terrorist » deklariert wurde.7 In Frankreich zum Beispiel wurden damals junge Algerier nach ihrem « algerischen » Nackenhaarschnitt inspiziert und von der Polizei auf das Revier gebracht. Heute hat der französische Ex-Innenminister Pasqua diese Praktiken im Großmaßstab wieder eingeführt und Passanten werden ihrer Hautfarbe wegen als « Integristen », « Terroristen » und vor allem als « Illegale » identifiziert.8

In Algerien führt die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen nach äußeren Merkmalen (junge Männer in Jeans und Turnschuhen, Männer mit Bart…) dazu, daß Mißtrauen und Ängste geschürt werden, die die offiziellen Medien immer wieder aufs neue beleben. Es wird scharf zwischen den guten und den bösen « Opfern » unterschieden: während die einen freiheitsliebende, loyale StaatsdienerInnen oder unschuldige MitbürgerInnen sind, können die anderen nur gewalttätige Umstürzler sein. Daß sich unter diesen Opfern alte Männer, Kinder oder unbeteiligte Frauen und Männer befinden, wird dabei gerne übersehen. In der Statistik (es gibt keine detaillierte und systematische Erfassung) erscheinen sie alle unter der Rubrik « TäterInnen », es sei denn, bestimmte Interessengruppen schlagen daraus Profit.9

Das algerische Militär braucht diesen Krieg. Er dient der Strategie der Machterhaltung. Der Terror im Land soll die Armee unverzichtbar machen und ihre umfassende Repression legitimieren. Dadurch wird eine Situation geschaffen, in der die Bevölkerung in Atem gehalten wird und nicht dazu kommt, sich über soziale und ökonomische Verschlechterungen zu beschweren. Die derzeitige Militärregierung macht sich daran, die Wirtschaft des Landes vollkommen umzustrukturieren, besser gesagt, zu ruinieren. Im Vordergrund stehen dabei vor allem eine (vom IWF diktierte) Sparpolitik, Rationalisierungen, Entlassungen und Privatisierungen. Der Dinar wurde abgewertet, die Subventionen gestrichen und die Arbeitslosigkeit steigt weiter (offizielle Arbeitslosenrate: 25%, doch ist die tatsächliche Zahl weitaus höher, vor allem, wenn die Frauen einbezogen werden). Aber nicht nur im sozialen Bereich sind die Rückschläge gewaltig spürbar. Die politische Weiterentwicklung ist, wie wir sehen werden, völlig blockiert durch einen Herrschaftsapparat, der eine Demokratisierung zwar fürchtet, aber sich des Rückhalts im Westen sicher sein kann. Denn die Terrorszenarien rechtfertigen die Pressezensur, die Versammlungsverbote und die Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit. Allerdings wird nicht allein die islamistische Bewegung von Restriktionen getroffen: nicht nur die Aktivitäten der meisten Parteien sind dadurch zum Erliegen gebracht worden, sondern auch die unzähligen Vereine und Assoziationen, die nach 1989 ins Leben gerufen wurden, können sich kaum noch artikulieren, geschweige denn agieren.10

Die algerischen Generäle brauchen ein hohes Maß an Gewalt, um sich an der Macht zu halten. Dabei bedient sich die angewandte Strategie der blutigsten Methoden: zum einen sind Anschläge notwendig, um sie den Islamisten zuzuschreiben (z.B. die Ermordung Boudiafs, der Anschlag am Flughafen von Algier, Vgl. VI-6), zum zweiten wird durch die Maßnahmen der algerischen Sicherheitskräfte gezielt jedes Segment der Gesellschaft getroffen, damit die Betroffenen (Kinder, Frauen, Berber, alte Widerstandskämpfer usw.) sich von der Sympathie und Unterstützung für die Islamisten abwenden. Drittens ist der Krieg notwendig, um den Ausnahmezustand aufrechterhalten und gegenüber dem Ausland rechtfertigen zu können. Gleichzeitig hindert dies das Militär nicht daran, sich als Garant, ja sogar als Bauherr der Demokratie zu präsentieren. Bisher ist es dem Regime gelungen, sich als einzig stabilisierendes Element in diesem von « Chaos » und « Grauen » überzogenem Land darzustellen. Die Rechnung der alten Machthaber scheint kurzfristig aufzugehen, aber zu welchem Preis?11

Da in den hiesigen Medien vor allem über die tatsächlichen oder vermuteten Verbrechen der « Islamisten » berichtet wird, wollen wir mit dieser Broschüre in erster Linie den Krieg, den die Junta gegen die Bevölkerung führt, und der sonst von den Medien ausgeblendet wird, dokumentieren.

Wir wollen dadurch nicht bagatellisieren, daß Anschläge von bewaffneten Gruppen auf « unerwünschte » Personen verübt werden, Druck auf die Bevölkerung durch Erpressungsgeldern ausgeübt, Menschen entführt, Frauen vergewaltigt, Bomben gelegt werden usw. Doch stellt sich die Situation in Algerien nicht so dar, als gäbe es einen gleichwertigen « doppelten Terrorismus ». So bemerkt François Burgat u. E. zurecht, daß

die ‘beiden algerischen Terrorismen’ keine Zwillinge (sind): der eine hat sehr bewußt den anderen geboren und ihm darüber hinaus geholfen, sich zu entwickeln […] Wenn der ‘islamische’ Terrorismus sehr wohl auf den Terrorismus des Regimes verzichten könnte, ist das Umgekehrte noch lange nicht der Fall. Denn die Militärs fürchten weitaus weniger die Gewalt der blinden Bomben, die sie in ihrer Rolle der ‘Hüter des zivilen Friedens’ bestätigen, als die der Wahlzettel, die die Tragweite ihres Diskredits beweisen würden.12 (Zu den letzten Wahlen, Vgl. IV)

I-3 Kleiner geschichtlicher Überblick

Algerien erlangte seine Unabhängigkeit 1962 nach 132 Jahren französischer Kolonialherrschaft und etwa acht Jahren unerbittlichen Befreiungskrieges. Diese schmerzhafte koloniale Erfahrung war gekennzeichnet durch eine Anbindung Algeriens an « das Mutterland » Frankreich und einen Siedlerstaat, der die AlgerierInnen nicht nur enteignete, sondern massiv von ihren Böden vertrieb. Darüber hinaus versuchte der Kolonialstaat, die islamische und arabische Kultur des Landes auszulöschen, indem er sie verachtete und als rückschrittlich deklarierte. Um « zivilisiert » zu sein, mußte der islamische Personenstatus verleugnet und um eine Aufnahme in die Klasse der französischen Citoyens (Bürger) angehalten werden. Ansonsten blieb man Sujet (Untertan). Algerien war Rohstofflieferant für Frankreich, und umgekehrt exportierte Frankreich Fertigprodukte nach Algerien. Die Abhängigkeit von der Metropole blieb nach 1962 bestehen, umso mehr, als kaum qualifizierte algerische Kräfte zur Verfügung standen. Die wirtschaftliche « Zusammenarbeit » mit Frankreich verschärfte noch die Abhängigkeit. Im Zuge der Entkolonialisierung und der sozialistischen Orientierung griff Algerien auf die Unterstützung und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zurück. Die Planwirtschaft, der zentralistische Staat, in dem die Erdöleinnahmen einen besonderen Stellenwert erhielten, und eine Einheitspartei kennzeichnen diese Periode, die vor allem mit dem Namen des Präsidenten Houari Boumediène (1965-1978) verbunden ist. Sein Nachfolger Chadli Bendjedid (1979-1991) stand zwar in der gleichen Tradition, mußte aber aufgrund geringerer Einnahmequellen durch den Erdölexport (inzwischen waren die Preise um über die Hälfte gesunken) ab 1986 zögerliche Wirtschaftsreformen zulassen. Diese führten vor allem dazu, daß eine neue Schicht von Spekulanten und Gewinnern aus dieser begonnenen Liberalisierung hervortrat, die ihren Reichtum frech zur Schau stellte. Während der gesamten Periode (von 1962 bis 1988) war eine politische Betätigung außerhalb der Einheitspartei und der Massenorganisationen quasi verboten. Die wenigen Versuche, Organisationen ins Leben zu rufen (z.B. an den Universitäten) wurden bis auf Ausnahmen schnell unterbunden. Die islamistische Opposition schaffte es jedoch, sich durch ihre Tätigkeiten in Moscheen und auf der Ebene von Stadtvierteln und Schulen zu verankern. Ein Protest konnte sich nur in gewaltsamen Demonstrationen entladen, so der « Berber-Aufstand » von 1980, die Demonstrationen von 1986 und 1987. Im darauffolgenden Jahr erschütterten große Streiks die Wirtschaft des Landes. Mit der zunehmenden ökonomischen Verschlechterung und der Zuspitzung der sozialen Krise bedurfte es nur eines Funkens, um die Explosion auszulösen. Dies geschah im Oktober 1988, allerdings auch als Ausdruck der Krise auf der staatlichen Ebene. Liberalisierungsbefürworter und Fraktionen der alten Garde der Generäle und der Einheitspartei lieferten sich schon seit langem unerbittliche Kämpfe. Mit dem Versprechen auf « Demokratisierung » glaubten erstere, die Konfrontation zu gewinnen. Zum ersten Mal in der Geschichte des unabhängigen Algerien wurden 1989 Oppositionsparteien zugelassen und freie Wahlen in Aussicht gestellt. Die Front Islamique du Salut (FIS, Islamische Rettungsfront) erlangte bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 die Mehrheit der Kommunal- und Distriktverwaltungen (ein Umstand, den die Strategen nicht vorausgesehen hatten) und hätte trotz Infiltrationen, Hindernissen und Verfolgung (Generalstreik von Juni 1991, Vgl. VI-2) die Parlamentswahlen im Dezember 1991 und Januar 1992 gewonnen, wenn nicht das Militär geputscht, den zweiten Wahlgang abgebrochen, den Ausnahmezustand verhängt und jede Opposition verfolgt hätte. Seitdem herrscht in Algerien ein Krieg, der nicht diesen Namen trägt. Lieber wird von « fundamentalistischen » Gruppen oder der FIS gesprochen, die sich um ihren Sieg betrogen fühlten und dem Regime den Kampf angesagt hätten. Im November 1994 und Januar 1995 trafen sich schließlich die größten Oppositionsparteien in Rom, unter ihnen die FIS, und erarbeiteten eine Plattform zur « Lösung der Krise ». Dieser Vorstoß der Opposition wurde vom Regime heftig bekämpft. Um sich nicht die Initiative aus der Hand nehmen zu lassen, beschloß die Staatsführung, Präsidentschaftswahlen durchzuführen, die dem im Januar 1994 ernannten Präsidenten Zeroual zu einer « demokratischen » Legitimität verhelfen sollten. (Vgl. IV) Währenddessen wird der Krieg unvermindert weitergeführt, auch um das vom Internationalen Währungsfond auferlegte Strukturanpassungsprogramm durchzusetzen. (Vgl. V)

I-4 « Das Land hat keine Armee, sondern die Armee hat ein Land »

Um den jetzigen Krieg verstehen zu können, muß von einer Grundannahme ausgegangen werden: das Militär ist das Herz und die Sécurité Militaire (militärischer Sicherheitsdienst) das Hirn des algerischen Staates, und das nicht seit vier Jahren, sondern spätestens seit der Unabhängigkeit im Jahre 1962. Dieser Umstand gerät heute oft in Vergessenheit, weil das Militär über Jahrzehnte im Hintergrund agierte und die aus dem Befreiungskrieg hervorgegangene Einheitspartei FLN die exponierten Politiker gestellt hat. Doch seit das System der « indirekten Herrschaft » nicht mehr aufrechterhalten werden kann, ist die Armee gezwungen, manch einen ihrer Vertreter auf die Bühne zu hieven und zunehmend offen die Geschicke des Landes in die Hand zu nehmen. Dies geschah im Oktober 1988, als die Demonstrationen großer Bevölkerungsteile massiv von der Armee beschossen wurden; 1991, als ein Streik der FIS vom Militär aufgelöst und Hunderte von Aktivisten verhaftet und in Wüstenlager eingesperrt wurden; Anfang 1992, als ein Staatsstreich des Militärs Präsident Chadli Bendjedid zum Rücktritt zwang und ein fünfköpfiges Gremium, das Haut Conseil d’État (HCE, Hoher Staatsrat) an die Spitze des Staates berief, darunter der einflußreiche General Khaled Nezzar; Ende 1993, als die Amtszeit des ehemaligen Präsidenten abgelaufen war und ein Militär, nämlich Liamine Zeroual, mangels anderer « Mitstreiter » zum Staatschef ernannt wurde; und schließlich vor kurzem, als durch Wahlen, dieser im Amt bestätigt und « offiziell legitimiert » wurde.

Die wichtigen Entscheidungen werden in einer Art « Konklave »13 getroffen, das die bedeutendsten Generäle und höheren Offiziere versammelt: die Militärchefs der verschiedenen Regionen des Landes, die Verantwortlichen der verschiedenen Abteilungen der Armee und Gendarmerie sowie die Chefs der Geheimdienste treffen sich in « Ausnahmesituationen » und bestimmen die Sicherheits- und Informationspolitik des Landes. Die Sozial- und Kulturpolitik überlassen sie der Regierung, ohne sie dabei aus den Augen zu verlieren. Dieses Konklave besteht aus den einflußreichsten Militärs, die jeweils über einen eigenen « Apparat » verfügen und in Rivalität zueinander stehen. Die verschiedenen Sicherheitsdienste (DRS: Direction du Renseignement et de la Sécurité, eine Art Dachorganisation für DSA: Direction de la Sécurité de l’Armée, DSI: Direction de la Sécurité Intérieure und DCE: Direction du Contre-Espionnage) sind vertreten und speisen die Generäle mit Informationen und Plänen. Diese sind bemüht, Männer an die Spitze zu hieven, die einem Konsens des « Konklave » entsprechen, was allerdings auch bedeutet, daß dem ernannten Staatsoberhaupt nur eine geringe Bewegungsfreiheit gewährt wird. Was mit denjenigen passiert, die eigenmächtig die Zügel lenken wollen, haben die Absetzung von Präsident Chadli Anfang 1992, die Ermordung von Boudiaf Mitte 1992 (Vgl. VI-5), und 1993 von Kasdi Merbah (Offizier, Chef des Geheimdienstes von 1962-1979), der mißlungene Anschlag auf Khaled Nezzar (General, Chef der Landstreitkräfte, 1990 Verteidigungsminister und ab 1992 Mitglied des Hohen Staatsrates) gezeigt. Einer der größten Konflikte, der die Führung der Armee durchzieht, ist die Rivalität zwischen den Generälen, die ihre Laufbahn im Befreiungskrieg begannen und den Offizieren, die in der französischen Armee dienten und erst später sich dem Befreiungskrieg anschlossen. Während Houari Boumediène (Präsident von 1965-1978) die erste Gruppe (die « Nationalisten ») bevorzugte, schien Chadli Bendjedid (Präsident von 1979-1992) der zweiten (die « Liberalisierungsbefürworter ») zu mehr Einfluß verholfen zu haben. Letztere ist im Konklave die mächtigere und pflegt gute Beziehungen zu Frankreich.

Liamine Zeroual ist einige Jahre nach einem erzwungenen Rückzug wieder in die höchsten Ämter gehoben worden, als er 1993 zum Verteidigungsminister und Anfang 1994 zum Staatschef ernannt wurde. Es ist anzunehmen, daß er derjenige ist, der vorläufig am besten die Interessen der Militärklasse in ihrem Bestreben, den Anschein einer Legitimität nach außen zu wahren, vertritt. So wird Zeroual sowohl in Algerien wie auch im Ausland als Befürworter des Dialogs präsentiert und schließlich als der Mann des nationalen Konsens gefeiert. Doch während er 1994 nach außen hin den Dialog pries, lief im Hintergrund ein ganz anderes Szenario ab: General Lamari, seit 1993 Oberbefehlshaber der Armee und verantwortlich für die Anti-Terror-Einheiten, ist bekannt für seine extreme ablehnende Haltung bezüglich eines Dialogs mit Islamisten. Er erhält ausgerechnet zum Zeitpunkt der « Gespräche » mit der FIS im Sommer 1994 die Handlungsvollmacht von Präsident Zeroual. Drei Tage vor der Verkündung des Scheiterns der Gespräche mit der FIS wird Lamari befördert und erhält den – neugeschaffenen – Dienstgrad General du Corps de l’Armée.14 Während die Gesprächangebote mit der FIS und den anderen Parteien, unter Bedingungen, die das Militär stellte, die Bereitschaft der Führung für einen Dialog bekunden sollten, führten die Armee und die Sondereinheiten im Sommer und vor allem im Herbst eine Großoffensive, die das ganze Land in Angst und Schrecken versetzte und die von Frankreich unterstützt wurde.

Am 17. November 1994 ist in der französischen Wochenzeitung « VSD » in einem Artikel « Algerien: Die Superkopter von Pasqua gegen die Islamisten » zu lesen: « Mit ihren 37 Angriffshubschraubern Mil-Mi 24 ‘Mind’, die mit unserer Hilfe erneuert wurden, sowie deren in Frankreich ausgebildeten Besatzungen muß es der algerischen Regierung gelingen, die islamistischen Untergrundherde im Land bis Mitte 1995 komplett zu eliminieren. »

Im Sommer 1994 hatte ein interministerieller Verteidigungsrat in Paris beschlossen, Algier eine entscheidende Hilfestellung zu geben, die sich in einem bis heute geheimgehaltenen Militärabkommen konkretisierte. Auf der Grundlage dieser von Innenminister Charles Pasqua und dem Chef der Hardliner in Algier, General Lamari (Generalstabschef) vorbehaltslos unterstützten politischen Entscheidung haben die Spezialisten der DGSE (französische Spionageabwehr) und der DRM (Direction du Renseignement Militaire) Pläne für einen modernen Antiguerillakampf ausgearbeitet, die auf den technologischen Errungenschaften des Golfkriegs beruhen. […] 37 Mi-24-Helikopter wurden also in Schichtarbeit von einer Firma der Gruppe Aérospaciale neu motorisiert und mit Sichtgeräte, Lichtintensivierern und mit Zielbeleuchtung versehenen Schuß-Systemen ausgestattet. Wärmeaufspürgeräte können Bodenverstecke bis zu zwei Meter Tiefe finden. […] Diese « fliegende Angriffspanzer » benötigen allerdings eine komplexe Logistik. « Deshalb », so stellt « VSD » fest, « befinden sich rund fünfzig französische Militärberater bereits vor Ort; weitere werden Ende des Jahres erwartet.15

Die Haltung Frankreichs begünstigt den Bürgerkrieg. Ich sage es mit voller Verantwortung: Heute hat Innenminister Pasqua das Thema ‘Algerien’ in den Händen. Er unterstützt die Regierung in Algier bedingungslos. Es sind nicht nur modernste Waffen nach Algerien gebracht, sondern in den vergangenen Monaten sind auch Experten ausgebildet worden. Am 1. November ist in Algerien eine neue Regelung in Kraft getreten. Die Verantwortlichen Frankreichs liegen falsch, wenn sie glauben, daß ein totaler Krieg gegen die Islamisten, das Problem lösen kann. 16

Gegen die Lösungsvorschläge der versammelten Opposition in Rom (Vgl. III) inszenierten die Staatsorgane « spontane Volksproteste » und es gelang ihnen, Parteien zu finden, die sich auf das Spiel schließlich einließen und an den vorgesehenen Präsidentschaftswahlen teilnahmen.17 Die Strategie des « Terrors » sollte die Armee als Retterin der Nation erscheinen lassen. Eine Rolle, die sie mit den im November abgehaltenen Präsidentschaftswahlen mit Bravour zu spielen vermochte. Doch Zeroual sind auch nach der Wahl weiterhin die Hände gebunden. Viele BeobachterInnen stellen ihn gerne als einen Mann vor, der nun endlich mit der Erlangung der « Volkslegitimität » seinen Versöhnungskurs gegenüber den Militärs durchsetzen kann. Er bleibt jedoch ein Mitglied des Serail, der vor allem die Interessenskonflikte innerhalb dessen zu verwalten haben wird. Der Eindruck des starken, unabhängigen und über alle parteipolitischen Streitigkeiten erhabenen « Vaters der Nation » entspricht der Rolle, die in diesem System der « indirekten Herrschaft » des Militärs jedem Präsidenten zugeteilt wurde.18

Das Militär und das Netz das es umgibt fürchten eine wirkliche Demokratisierung des Landes, weil damit ihre zahlreichen Privilegien gefährdet wären. Die Gefahr für das Regime kommt nicht nur von den Islamisten, sondern von allen Kräften, die für eine grundlegende Veränderung des Regimes kämpfen. So fürchten die alten Machthaber ebenso ein Erstarken der FFS und ihres Vorsitzenden Ait-Ahmed, eine charismatische und populäre Figur, die durch mehrere Demonstrationen ihre Mobilisierungskraft unter Beweis stellte.

Die FFS […] konnte hoffen, eine schweigende Mehrheit, die erschöpft und angewidert von der Gewalt ist, zu mobilisieren. Man muß jedoch feststellen, daß die Verriegelung des politischen Betätigungsfeldes, die Polarisierung der Gewalt und die Zunahme der Spannungen in der Kabylei (Berbergebiet im Norden des Landes, Anm.d.Ü.), wo der Staat die Provokationen verstärkt hat, um diese Region in den anti-terroristischen Kampf einzubinden, ihren Bewegungsspielraum drastisch verringert haben.19

Die den Parteien, Assoziationen, Medien und Einzelpersonen auferlegten Einschränkungen, bezeugen dies. Die Staatsmacht verfährt seit langem nach der Methode « Zuckerbrot und Peitsche »: das Land wird von einer massiven staatlichen Repression durchzogen, die nicht nur Aktivisten oder Sympathisanten aus dem islamistischen Lager trifft.20 Sind politische Akteure bereit, sich auf das Spiel des Regimes einzulassen, wird ihnen eine kleine Bewegungsfreiheit zugestanden. Stellt die Opposition jedoch bestimmte Bedingungen, wie die Forderung nach einem Dialog mit der verbotenen FIS, wird sie aus dem politischen Leben des Landes ausgeschlossen. Der Vorsitzende der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) z.B. soll nach drei Jahren Aufenthalt in Algerien wieder ins Exil gegangen sein, nicht etwa weil er sich von den Islamisten bedroht sah, sondern von einer von den Generälen aufgestellten geheimen Liste der « unerwünschten » Persönlichkeiten wußte.21

I-5 Bewaffnete Gruppen und/oder Todesschwadronen

Kurz nach dem Abbruch der Parlamentswahlen im Januar 1992 gingen einige FIS-Aktivisten in den Untergrund oder schlossen sich den wenigen, aber schon bestehenden kleinen Gruppen an, die den Gang zu den Urnen verweigert hatten. Die Gründe hierfür waren vielfältig: z.B. eine grundsätzliche Ablehnung « demokratischer Spielregeln » oder die Beurteilung, daß nach dem Streik der FIS im Juni 1991 und der Verhaftung der beiden Führer der Partei (Vgl. VI-2), der legalistische Weg versperrt sei. Spätestens mit der großen Verhaftungswelle, die nach dem Abbruch der Wahlen Ende Februar 1992 einsetzte und noch nach dem Verbot der FIS im März 1992 anhielt, wurden viele gewählte FIS-Deputierte, Vertreter der Kommunen und Distrikte, Imame, Studenten, Sympathisanten usw. in den Untergrund oder ins Exil getrieben. Während viele in der FIS immer wieder an die staatlichen Verantwortlichen appellierten, um die Wiederaufnahme des unterbrochenen Wahlprozesses zu fordern, haben andere im bewaffneten Widerstand die einzige Antwort auf den Staatsstreich gesehen.22 Mitte des Jahres formierten sich die ersten Untergrundgruppen des Mouvement Islamique Armé (MIA, Bewaffnete Islamische Bewegung) und des Groupe Islamique Armé (GIA, Bewaffnete Islamische Gruppe) sowie eine Vielzahl kleinerer bewaffneter Gruppen. Eine MIA hatte bereits Anfang der achtziger Jahre in kleinen bewaffneten Einheiten agiert, mit dem Ziel, einen islamischen Staat mit Waffengewalt zu erkämpfen. Sie wurde 1987 mit einem letzten militärischen Schlag vernichtet.

Ende 1993 entstand die Armée Islamique du Salut (AIS, Islamische Rettungsarmee), die sich in der Hauptsache aus FIS-Anhängern, die aus den Gefängnissen entlassen wurde, rekrutierte. Einem Teil der Mitglieder der AIS war die Flucht aus der Haft gelungen. Die AIS gilt als bewaffneter Arm der FIS. Sie scheint der Linie der FIS zu folgen, so z.B. auch die mit anderen Oppositionsparteien erarbeitete Plattform von Rom zu unterstützen.23 Sie führt vor allem Kämpfe mit Sicherheitskräften und Soldaten und wird allgemein nicht für Anschläge auf Zivilisten verantwortlich gemacht. Die GIA machte in besonderer Weise auf sich aufmerksam mit ihrem Bekenntnis zur Ermordung von Kasdi Merbah im August 1993. Dieser war jahrelang Chef des Geheimdienstes und kurzzeitig Regierungschef gewesen. Nach dem Erlaß eines Parteiengesetzes 1989 gründete auch er eine Partei. Er soll sich nach dem Verbot der FIS und der Blockierung der politischen Situation für Verhandlungen zwischen ihr und der Regierung eingesetzt haben und war ins Ausland geflogen, um mit FIS-Verantwortlichen Gespräche zu führen. Nach seiner Rückkehr wurde ein Anschlag auf ihn verübt, der von vielen dem Regime zugeordnet wird.

Die GIA ist auch in Europa bekannt geworden, da sie für die Ermordung von Ausländern ab Herbst 1993 und die Entführung eines Flugzeuges Ende 1994 verantwortlich gemacht wird. Sie erscheint als besonders kompromißlos und entschlossen, obwohl eigentlich niemand so recht weiß, wer sich hinter diesem Kürzel verbirgt. Ein Problem bei der Feststellung der Urheberschaft der verübten Anschläge ist der Umstand, daß in den wenigsten Fällen Bekennerschreiben veröffentlicht werden, viele Schreiben sich als gefälscht erweisen und natürlich die Pressezensur jegliche Klarstellung, Diskussion, Verurteilung usw. unter den verschiedenen repräsentativen Fraktionen der sogenannten « islamischen Bewegung » unmöglich macht. 1994 ging die MIA in der GIA auf. Teile der AIS und die GIA sollen sich Ende 1994 vereint, doch ein Jahr später wieder getrennt haben u.a. auch wegen der Kritik an der Ermordung von Zivilisten, vor allem von Frauen. Im Dezember 1995 erfuhr die Öffentlichkeit von der Ermordung von etwa 30 ehemaligen FIS-Kadern, die sich der GIA angeschlossen hatten und von letzterer liquidiert wurden, unter ihnen der berühmte Mohammed Said.

Es ist durchaus nützlich für das Regime, die Amalgame zwischen der FIS (als politische Organisation), der AIS (als ihr bewaffneter Arm) und der GIA (als undurchschaubare, aber besonders gewalttätige Formation) zu produzieren oder zu festigen, um die FIS in den Augen der Bevölkerung zu diskreditieren. So erfährt die Öffentlichkeit nur selten von Distanzierungen und Verurteilungen der FIS in Bezug auf Anschläge auf die Bevölkerung,24 wie im Fall des Bombenanschlages auf einem Friedhof am 1. November 1994, der der FIS zugeschrieben wurde und der Beginn einer großangelegten Offensive des Militärs rechtfertigte.25

Über die GIA wird viel spekuliert. Sie wird dargestellt als eine hierarchische Organisation, die über ein Zentralkommando und Abteilungen verfügt. Im Grunde weiß man wenig über diese Organisation, doch mehren sich die Stimmen, die von autonomen Gruppen sprechen, die unabhängig voneinander agieren. Viele glauben auch, daß sie ursprünglich eine Kreation des Geheimdienstes ist, die sich später verselbstständigt haben soll:

Die Abriegelung des politischen Terrains hat natürlich das Wesen der Beziehungen zwischen der Staatsmacht und den Islamisten verändert. Der Kampf um die Macht ist frontaler, die bewaffnete Konfrontation ist der bevorzugte Träger geworden. Aber die Realität ist komplexer als die übliche Beschreibung eines Antagonismus zwischen zwei ideologischen Logiken, oder vor allem zwischen zwei unversöhnlichen Logiken der Machtausübung. Es ist heute praktisch unumstritten, daß der extremistischste Flügel der islamistischen bewaffneten Gruppen, die GIA, ursprünglich zum größten Teil von der algerischen Armee gegründet wurde. Es ging wieder einmal darum, durch die Zuspitzung der Gewalt, wie vorher durch die manipulierte Öffnung des politischen Terrains, das Durcheinander zu unterhalten, um die Macht zu bewahren. Wieder einmal hat diese Instrumentalisierung die Ziele des Serails weit übertroffen.26

Was zumindest stutzig stimmt, sind die vielen gezielten Anschläge auf Personen, die sich in irgendeiner Form für eine Beilegung des Konflikts einsetzten. Getroffen wurden oft « moderate » Islamisten, populäre Journalisten, oder Personen, wie Mahfud Boucebci, der als Psychiater, zwei Tage vor seiner Ermordung, abgelehnt hatte, einen Bericht zu schreiben, der die Geistesstörung des mutmaßlichen Mörders von Boudiaf bescheinigen sollte.27 Er war außerdem Vorsitzender der Kommission, die die genauen Umstände des Anschlages auf den Schriftsteller und Journalisten Tahar Djaout (Mai 1993) untersuchen wollte, da die Geständnisse von dem vermeintlichen Attentäter unter der Folter erpreßt worden waren. Boucebci wurde einen Tag nach der Veröffentlichung eines Appells ermordet, der die offizielle Version über diesen Mord in Zweifel zog. In diesem Appell steht: « Zu viele politische Morde bleiben in unserem Land unbestraft. Die Bilder untergeordneter Personen, die im Fernsehen zur Schau gestellt werden, werden nicht die Gesichter der wahren Handlager maskieren ».28 (Vgl. VIII-3-3) Argwohn lösen auch die Morde an Frauen aus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt plötzlich zunahmen. Unter den Opfern sind manche bekannt, als Angehörige von Mudjahidin-Familien, d.h. deren Familienangehörige zu den bewaffneten Gruppen gehören, andere sind weibliche Familienangehörige von Sicherheitskräften, an denen Rache geübt wird. Die Zeugnisse desertierter Polizisten, die auch hier dokumentiert werden, (Vgl. VIII-3-6) zeigen, wie Anschläge von Sicherheitskräften verübt werden, um sie den « Terroristen » zuzuordnen.29 Gewiß gibt es keine Beweise, doch verdichtet sich der Eindruck, daß ganz bewußt der Terror gegen die verschiedenen Gesellschaftsgruppen von Spezialeinheiten der Sicherheitsdienste angewandt wird.

Folter und inoffizielle Hinrichtungen sind nach Arnold Hottinger (Publizist) ebenso an der Tagesordnung wie die Heimtücke, die Islamisten für diese Taten verantwortlich zu machen. Wie viele Gewaltakte in Wirklichkeit manipuliert sind und wieviele tatsächlich auf das Konto der Islamisten gehen, ist Hottinger zufolge heute schwerer zu beurteilen denn je. Hottinger schließt nicht aus, daß der algerische Staatssicherheitsdienst auch in die Bombenattentate in Frankreich verwickelt sein könnte.30

Diese Ausführungen sollen deutlich machen, daß die Gefährdung nicht allein von « islamistischer Seite » besteht, sondern die Situation häufig sehr undurchsichtig ist und von daher viele Fragen aufwirft und nicht automatisch erlaubt, jede Gewalttat schablonenhaft den « Islamisten » zuzuschreiben. Rabha Attaf und Fausto Giudice gehen noch weiter in ihrer Analyse der Verantwortung des Regimes, wenn sie schreiben:

Was die französischen Spezialisten durch ihre originellen Methoden, die sie in ihrem verlorenen Kampf gegen die vietnamesischen Kommunisten lernten, ausrichten konnten, gelingt ihren algerischen Nacheiferern noch besser. Den von den Franzosen geschaffenen falschen nationalistischen Maquis – eine andere Kriegstechnik, die am Ursprung der Bleuïte31 steht – entsprechen heute die falschen « islamistischen Maquis », die in Wirklichkeit Maquis… der Armee sind! Gestern hießen sie z.B. « la force K ». Heute heißen sie « die GIA ». Aber die GIA existiert nicht. Die « GIA »s, islamistische bewaffnete Gruppen wiederum existieren. Aber die Repräsentation, die unter dem Kürzel « GIA » gegeben wird – eine radikale Organisation mit pyramidaler Struktur, an deren Spitze ein höchster Emir, um nicht zu sagen ein Khalif und regionale Unter-Emire stehen – entspricht nicht der Realität des aufständischen Terrains in Algerien. Dieses ähnelt in der Tat der Jamaat Islamiya Oberägyptens: eine große Anzahl von aktivistischen Gruppen, die unabhängig voneinander in dieselbe Richtung agieren. Diese Gruppen entstanden aus der Notwendigkeit der Selbstverteidigung der ‘popularen’ Viertel, die einer intensiven militärischen und polizeilichen Terrorisierung ausgesetzt waren, und praktizieren keinen « blinden Terrorismus », im Gegensatz zu dem, was die Offiziellen, über die Medien vermittelt, uns gerne glauben machen wollen. Aber je dicker die Lüge und erschreckender das Kürzel, desto besser geht es durch!32

Diese verschiedenen Ausführungen zu den bewaffneten Gruppen zeigen, wie vorsichtig die Darstellungen über den sogenannten « islamistischen Terror » gehandhabt werden müssen. Die Forderung nach einer politischen Behandlung scheint in diesem Kontext vernünftig:

Was die Verantwortung der bewaffneten Gruppen an den Ermordungen von Frauen, Intellektuellen oder Ausländern betrifft, habe ich in dem Gespräch erwähnt, daß die Plattform von Rom die Bildung einer unabhängigen Untersuchungskommission vorschlägt, um die Wahrheit erkennen zu lassen und die Verantwortlichkeiten festzustellen. Die Ausnahmegesetzgebung, die allgemeine Konfusion und Dekomposition, die der Krieg hervorgebracht hat, erlauben es in der Tat nicht, eine Anklage zu erheben, außer für diejenigen, die in direkter Beziehung mit den bewaffneten Gruppen oder den Sicherheitskräften stehen, ohne die ‘Selbstverteidigungsmilizen’, die von der Regierung bewaffnet werden oder andere Gruppierungen desselben Typs zu vergessen. Andererseits habe ich erklärt und ich halte daran fest, daß man nicht die Übergriffe eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen mit denen des Regimes gleichsetzen kann. In der Tat können die Individuen aufgrund ihrer Taten festgenommen und verurteilt werden, während das Regime in der totalen Straflosigkeit agiert, dadurch, daß es eine unmenschliche Repression anwendet, auf extralegale Tötungen und systematische Folterung zurückgreift, und die elementarsten Rechte der Gefangenen nicht garantiert.33

Darüber hinaus wird immer offener und öfter von Todesschwadronen berichtet, die nicht nur Anschläge auf einzelne Personen ausüben, sondern Strafexpeditionen gegen die Bevölkerung ausführen (siehe Bericht, VIII-3-4, Fall 13).34 Ohne mit Sicherheit sagen zu können, wer sich hinter Kürzeln wie OSRA (Organisation de Sauvegarde de la République Algérienne, Organisation zur Rettung der Algerischen Republik) oder OJAL (Organisation des Jeunes Algériens Libres, Organisation der Freien Jungen Algerier) verbirgt, scheinen sie kein anderes Ziel zu verfolgen, als vermeintliche « Islamisten » und ihre UnterstützerInnen zu ermorden. Ihnen wird der Tod Tausender Menschen angelastet, und sie sollen zahlreichen arabischsprachigen Intellektuellen, Journalisten und islamistisch orientierten Personen schriftlich gedroht haben.35 Soweit uns bekannt, tauchte die OSRA zum ersten Mal im Herbst 1993 auf, im Zusammenhang mit der Entführung des Vorsitzenden der Hamas-nahen Assoziation El-Irchad wa El-Islah. Allerdings bekannte sich alsbald auch die GIA zu der Entführung Bouslimanis, dessen Leiche zwei Monate später gefunden wurde. Die OJAL wurde durch ihre Drohung bekannt, für jede ermordete nicht-verschleierte Frau zwanzig Hijab-tragende Frauen und zwanzig bärtige Männer zu töten. Kurz darauf wurden auch zwei verschleierte Frauen getötet.36 Schon während der Revolte im Oktober 1988 waren des öfteren zivile Männer gesehen worden, die in die Menge schossen, oder nicht gekennzeichnete Autos fuhren, die Jugendliche aus den Häusern holten usw.37

 

 

1 In Europa werden bei fast allen Veranstaltungen zu Algerien nur « Demokraten » und Feministinnen eingeladen. Wir setzen den Begriff Demokraten in Anführungsstrichen, da viele unter ihnen eher der Fraktion der Éradicateurs (Ausmerzer) zugerechnet werden können, d.h. der Fraktion, die den Militärs einen politischen Rückhalt liefert und die militärische Lösung des Konfliktes bevorzugt.

2 Eine Mitarbeiterin eines psychosozialen Zentrums hat die Zusammenarbeit mit einem FIS-Mitglied abgelehnt, da sie niemanden unterstützen möchte, der Frauen unterdrückt und ermordet!

3 « Als der Soziologe Luis Martinez 1993 in Eucalyptus, einem Vorort von Algier, Feldforschungen über die Islamisten betrieb, stellte er fest, daß anstelle der ‘wahren’ Islamisten, die nach der Annullierung der Wahlen im März 1992 aus Angst vor Repressionen ihre Bärte abrasierten und das arabische Gewand ablegten, neue bärtige ‘Eiferer’ auftauchten, die man für Polizeispitzel hielt. […] Gleichzeitig tauchten Verbrecherbanden auf, die unbehelligt von den Polizeikräften agierten und teilweise sogar mit den jetzt im Untergrund aktiven ‘wahren’ Islamisten zusammenarbeiteten. In dieser Verquickung vermuten manche der Bewohner des von Martinez untersuchten Viertels den gezielten Versuch der Regierung, Anarchie zu schaffen. » Joseph Croitoru, FAZ, 16. November 1995.

4 Ein algerisches Tagebuch, Frankfurt 1994, 81. Siehe auch die von amnesty international im August 1994 veröffentlichte Publikation: Algerien, Schluß mit Unterdrückung und Gewalt! Auf Seite 14 ist zu lesen: « Das Telefonnetz, staatseigene Betriebe und anderes Staatseigentum wurden zerstört und beschädigt, Schulen und Wälder wurden niedergebrannt. Bewaffnete islamistische Gruppen haben für einige dieser Taten die Verantwortung übernommen, aber in anderen Fällen haben sie bestritten, die ihnen vorgeworfenen Taten begangen zu haben, und haben ihrerseits den Sicherheitskräften vorgeworfen, für diese Taten verantwortlich zu sein. »

5 Siehe beispielsweise den in « Die Zeit » veröffentlichten Artikel: Journalisten im Fadenkreuz, 16. November 1995, in dem auf sehr eindringliche Weise suggeriert wird, die Verantwortung für die algerische Tragödie würden die « Integristen » tragen und Gruppen wie Journalisten oder Frauen seien Opfer ausschließlich ihrer Barbarei. Demgegenüber stehen zahlreiche Äußerungen sowohl von algerischen Journalisten wie auch von Feministinnen, die deutlich machen, wie manche Kreise in Algerien und in Europa die Opfer von Attentaten für ihre politischen Ziele instrumentalisieren und mißbrauchen. Siehe Fußnote 8.

6 Die FIS (Front Islamique du Salut) gibt sogar die Zahl von 110 000 Toten an!

7 Benjamin Stora analysiert auf sehr anschauliche Weise die Berichterstattung in Frankreich, das Vokabular, das in Bezug auf die aktuellen Ereignisse in Algerien benutzt wird und richtet die Aufmerksamkeit auf die Kontinuitätslinien in den Einstellungen, den benutzten Begriffen und der Behandlung in den Medien während des algerischen Befreiungskrieges 1954-1962, Deuxième guerre algérienne? Les habits anciens des combattants, Les Temps Modernes, Januar 1995.

8 Der von der Regierung eingesetzte Plan Vigipirate zur « Terrorismusbekämpfung » soll zur Ausweisung von 59 000 Ausländern ohne Aufenthaltsstatus geführt haben, RFI (Radio France International), Anfang Januar 1996.

9 In den Medien werden besonders gerne die Übergriffe der Islamisten auf Frauen strapaziert wie folgende Titel zeigen: Entrechtet, vergewaltigt und getötet (Sabine Kebir, Frauensolidarität, 3/1995), oder Die algerische Frau als Kriegsbeute, eine anonyme algerische Wissenschaftlerin, TAZ, 2. Februar 1995. Louisa Hanoune, Vorsitzende einer trotzkistischen Partei und Feministin, schreibt: « Bei Strafexpeditionen und Repressalien gegen die Zivilbevölkerung werden Frauen, Schwestern und Töchter der Kämpfer oder auch nur gesuchter Bürger keinesfalls ausgespart. Frauen sind verhaftet, geschlagen worden. Warum haben die algerischen ‘Feministinnen’, die seit drei Jahren das Privileg genießen, Zugang zu den Medien zu haben, niemals gegen diese Auswüchse protestiert? Ist es nicht ein merkwürdiges Verständnis von Frauenrecht, das gewisse Verletzungen anklagt und andere wiederum rechtfertigt? Es ist kein Zufall, daß engagierte ‘Feministinnen’ von dem aus dem Staatsstreich hervorgegangenen Regime auf Ministerposten gesetzt oder zu ‘Abgeordneten’ eines nicht gewählten und daher unrechtmäßigen Parlaments ernannt worden sind. Das bringt schließlich beachtliche materielle Vorteile mit sich. Wie aber soll die Frauenbewegung glaubwürdig bleiben, wenn sie von einigen als Trittbrett zur Macht oder als Geschäftsgrundlage im Ausland benutzt wird?, in: Nur freie Wahlen sichern Frauenrechte, TAZ, 2. Februar 1995.

10 Der Vorsitzende der Sozialistischen Kräfte (FFS) Ait-Ahmed erwähnte in seiner Rede auf dem Kongreß der Sozialistischen Internationalen am 9. Dezember 1995: « Die Unterzeichner des Nationalvertrages (Plattform von Rom, III) haben nur eine einzige Versammlung in sechs Monaten organisieren können: Am 9. Juni in Algier war der Saal Harcha voll. War dies der Grund, um zwei Tage der ‘offenen Tür’ zum Thema Menschenrechte in der Hauptstadt, sowie zwei in Oran und Constantine vorgesehene Versammlungen zu verbieten? », erschienen in der algerischen Wochenzeitung, El Haq’, 19.-25. Dezember 1995.

11 Der SPIEGEL reproduziert genau das von den algerischen Machthabern intendierte Bild, wenn er schreibt: « Algeriens erste Präsidentschaftswahlen mit mehreren Kandidaten sind eine Première in der arabischen Welt. » Catherine Jentille stellt fest: « Das Regime hat ein neues zu verteidigendes Image gefunden: das des Bollwerks gegen den islamischen Integrismus. Also vergessen sind die Menschenrechtsverletzungen und die grausame Repression gegen die Islamisten, die Folter, die extralegalen Tötungen und die willkürlichen Festnahmen. Es geht nicht darum zu fragen, wie man soweit gekommen ist. Man erweckt sogar den Anschein zu glauben, daß ein Minimum von Demokratie bewahrt wurde. Bis in seine Agonie erlaubt sich das algerische Regime den Luxus sein Image zu pflegen. » L’image de marque: un moyen de pouvoir, in: Le Drame Algérien, Paris 1995, 146.

12 François Burgat, Algerien: Der Islamismus gegen die Intellektuellen?, Silsila, Zeitschrift gegen Rassismus und Imperialismus, 6/7, 1996, 38.

13 Samir Zellal, Le conclave, Alternatives Algériennes, Nr. 1, September 1995, 9.

14 Le Monde, 11. November 1994.

15 Samuel Schirmbeck, Hinter den Schleiern von Algier, Hamburg 1996, 392.

16 Interview mit Ait-Ahmed, FR, 6. Dezember 1994. « Seit mehreren Wochen finden sich Charterflugzeuge gegen drei oder vier Uhr morgens auf dem Flughafen Houari Boumediène ein », um « französisches Kriegsmaterial auszuladen, verlautbaren algerische Quellen ». Le Monde, 11. November 1994.

17 Die Strategie des Militärs besteht darin, die starken Oppositionsparteien (FIS und FFS) auszuschalten und die Strömungen, die sie repräsentieren, von konformen Stellvertreter-Parteien in ein « nationales Konzept » einzubinden, während Bestrebungen sichtbar sind, die ehemalige Einheitspartei FLN wieder in den Schoß des Regimes zu integrieren.

18 Malika Medahi, Zeroual: un président sur le fil du rasoir, Alternatives Algériennes, September 1995, 6. Hinzu kommt, daß etwa ein halbes Jahr nach seiner « offiziellen » Wahl keine bemerkenswerten Schritte zur Beilegung des Konfliktes erkennbar sind.

19 Almaa Adel, Le Front des Forces Socialistes, in: Le Drame Algérien, 154. Der bekannte algerische Historiker Mohammed Harbi erwähnt die Haltung des Regimes, als die Oppositionsparteien 1989 um eine offizielle Anerkennung warben: « Zur gleichen Zeit vervielfachen sich die Bemühungen, die die Anerkennung der Front der Sozialistischen Kräfte zu verhindern suchen. La fausse « démocratie » de l’après-88, Le Drame Algérien, 135.

20 Le Monde berichtet beispielsweise von der Festnahme von sechs FFS-Aktivisten am 12. November, im Vorfeld der Präsidentschaftswahl. Drei von ihnen wurden freigelassen, während die drei anderen zwei Tage später immer noch verschwunden waren, 14. November 1995.

21 Hubbel, Witze wider den Wahnsinn, Die Woche, 2. Dezember 1994.

22 Ein kleiner Überblick über verschiedene Tendenzen in der islamistischen Bewegung Algeriens und die bewaffneten Gruppen ist zu lesen in Hugh Roberts: Die Rebellion wird zur schwärenden Wunde, die algerischen Streitkräfte heizen den Konflikt mit den Islamisten weiter an, Überblick 1/95.

23 Der Chef der AIS, Madani Mezrag schrieb acht offene Briefe an « das algerische Volk, die politischen Organisationen und Persönlichkeiten, die alten Widerstandskämpfer, Präsident Zeroual, die Armee und die Sicherheitskräfte, die Kämpfer, die Imame und Religionsgelehrte und die Führer der FIS ». Darin klärt er die Position der AIS und formuliert die Forderung nach verbindlichen Empfehlungen von der FIS-Führung an die Kämpfer und drückt seine Bereitschaft aus, der politischen Führung der FIS zu folgen. Mots de Vérité, FIS, April 1995, siehe auch Handelsblatt, 10. Mai 1995, Jeune Afrique, 6.-12- April 1995.

24 Während zwischen 1992 und 1994 die FIS-Repräsentanten widersprüchliche Erklärungen abgaben bezüglich der Attentate auf zivile Personen und manchmal diese rechtfertigten, veröffentlichte die « Parlamentarische Delegation » der FIS im Februar 1994 eine « Erklärung gegen die Gewalt », in der sie « zur Beendigung der Attentate auf Zivilisten in Algerien » aufruft. In Ghania Mouffok, Être journaliste en Algérie, Paris 1996, 102. Siehe auch AFP-Meldung, le FIS dénonce les meurtres des femmes, enfants et intellectuels en Algérie, 17. März 1995 und im Wortlaut abgedruckt in der algerischen Wochenzeitung La Nation, 21.-27. März 1995.

25 « Als am 1. November 1994 eine Bombe in einem Friedhof in Mostaganem hochging und vier junge Pfadfinder tötete, die sich zur Feier des vierzigsten Jahrestag des ‘Toussaint rouge’ von 1954 versammelt hatten, waren die Kameras dort seit zwei Tagen aufgebaut, obgleich eigentlich nichts ihre Anwesenheit an einer der unzähligen Stätten des Gedenkens an den bewaffneten Aufstand von 1954 rechtfertigte. Der Schrecken, der mit der Ankündigung durch Präsident Zeroual zusammenfällt, daß ‘der Dialog mit der Gewaltbereiten FIS unmöglich ist’ und die begonnenen Verhandlungen mit der FIS abgebrochen werden, wird diesmal von der Wirkung einer Quasi-Direktausstrahlung profitieren ». Burgat, 44.

26 Dieser Auszug stammt aus einem Text, den ein sehr hoher algerischer Beamter mit einem hohen französischen Funktionär geschrieben hat. Er befindet sich nun im Exil in Frankreich und bleibt anonym. Quelle politique pour l’Algérie?, Esprit, November 1995.

27 Burgat, 43.

28 Ghania Mouffok, 91. Juan Goytisolo schreibt in dem schon zitierten Buch: « Ein Komitee, das die Wahrheit über den Mord an Tahar Djaout an den Tag bringen soll, ist keinen einzigen Schritt vorangekommen. Eines der Mitglieder, mit dem Opfer befreundet, wurde seinerseits niedergeschossen und starb. Anderen wurde unmißverständlich gedroht », 84.

29 In der Zeitung Le Monde vom 7. März 1995 findet sich der Bericht eines Polizisten, der in eindringlicher Art beschreibt, wie Sicherheitskräfte Polizisten ermorden, um die Urheberschaft den Islamisten zuzuschreiben, Wir geben ihn auf in Kapitel VIII-3-6 wieder.

30 Er fährt fort: « Denn die algerische Regierung, die sich als Repräsentantin des Westens im Kampf gegen den Islamismus ausgibt, könnte die für den hochverschuldeten algerischen Staat lebenswichtige finanzielle Unterstützung auf diese Weise den Europäern leichter abringen. » Bericht von Joseph Croitoru über eine Tagung in Freiburg: Algeriens unvollendete Befreiung, FAZ, 10. November 1995.

31 Die Bleuite bestand darin, « Aktivisten und Verdächtige zu identifizieren, festzunehmen, zu foltern und wieder in Umlauf zu bringen. Wenn sie wieder frei waren, wurden sie von ihren Kameraden verdächtigt und hingerichtet. » Algerien, Die Große Blaue Furcht, Silsila 6/7, 25.

32 idem.

33 Louisa Hanoune, Vorsitzende der PT (Parti des Travailleurs d’Algérie) und Unterzeichnerin der Plattform von Rom, in: La Nation, 6.-12. Juni 1995.

34 UNHCR-Bericht, Oktober 1995, 13. Amnesty international weist auch immer wieder auf die mögliche Existenz von Todesschwadronen hin: « anti-islamistische Gruppen, die angeblich mit den Sicherheitskräften in Verbindung stehen, haben Berichten zufolge ebenfalls Zivilisten, denen sie islamistische Sympathien zuschrieben, entführt, getötet oder mit dem Tod bedroht. », Algerien, Schluß, 9.

35 Juan Goytisolo berichtet seinerseits:  » Mehrere Anwälte und Mitglieder der algerischen Liga für Menschenrechte haben, nachdem sie – wie übrigens auch amnesty international – die allenthalben praktizierte Folter und die außergerichtlichen Hinrichtungen beim Namen genannt haben, ebenfalls Morddrohungen erhalten. Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfuhr, wurde einer von ihnen von einem nahen Verwandten gewarnt, sein Name stehe auf einer Todesliste, worauf er das erste Flugzeug nach Paris nahm. », 81.

36 « Kurz nach Bekanntgabe und Veröffentlichung dieser Todesdrohungen in der algerischen Presse, am 29. März 1994, wurden zwei verschleierte Gymnasiastinnen an einer Bushaltestelle am Stadtrand von Algier erschossen. », Algerien, Schluß, 34. F. Burgat schreibt zu diesem Vorfall, daß die Frau, die ermordet wurde und die OJAL veranlaßte diese Drohung nicht nur auszusprechen, sondern auch in die Tat umzusetzen, nicht von Islamisten ermordet worden war, sondern von ihrem Freund, weil sie sich von ihm trennen wollte. Bis heute wird ihr Fall immer wieder hervorgebracht, um zu zeigen, daß sie zu den Frauen gehört, die von Islamisten ermordet wurden, weil sie « es ablehnen den Schleier zu tragen », Burgat, 44.

37 José Garçon, Les émeutes d’Octobre 1988, Le Drame Algérien, 133. Abed Charef, Octobre ’88, un chahut de gamins? Alger 1990, 107 und 114.

 

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