Ratlosigkeit nach dem Aufruhr in Algier

Ratlosigkeit nach dem Aufruhr in Algier

Tief sitzender Zorn der Berber in der Region Kabylei

Nach der Massendemonstration vom Donnerstag in Algier herrscht Ratlosigkeit darüber, wie eine politische Beruhigung im Land erreicht werden könnte. Die Polizei hat ein Blutbad knapp vermieden, aber die Berber verzichten nicht auf ihre Forderungen. Proteste finden immer mehr auch in anderen Regionen statt.

Mr. Madrid, 15. Juni 2001

In Algier haben am Donnerstag, wie bereits berichtet, Hunderttausende gegen die Repressionspolitik des Regimes in der vor allem von Berbern bewohnten Kabylei demonstriert. Sowohl die sich Koordination der Dorfkomitees nennenden Organisatoren wie auch die Polizei waren angesichts des Massenandrangs nicht in der Lage, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Marsch artete deshalb in einen Aufruhr in mehreren Quartieren der Hauptstadt aus mit Plünderungen, Brandanschlägen und Barrikaden. Die Polizei hatte vor allem den Auftrag, ein Vorrücken der Demonstranten über den Platz des Ersten Mai hinaus in Richtung des Präsidentenpalasts zu verhindern. Die zumeist jungen Berber empfanden dies als Provokation und reagierten feindlich auf die Polizei. Deren Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas erzürnte die Demonstranten erst recht. Das Innenministerium erklärte am Abend, dass die Polizei alles unternommen habe, um eine Katastrophe zu vermeiden. Der von Augenzeugen bestätigte Einsatz von Schusswaffen wurde offiziell dementiert. Laut Berichten aus Spitälern mussten auch Schusswunden behandelt werden. Zwei Journalisten bezahlten ihren Einsatz mit dem Tod, sie wurden von einem Autobus, den die Demonstranten behändigt hatten, und im allgemeinen Taumel erdrückt. Die Zahl der Verletzten wurde auf über 600 geschätzt. Die Polizei jagte Verwundete auch im Innern eines Spitals.

Offizielle Diffamierung ohne Erfolg

Anders als bei den Unruhen vom Oktober 1988, als die Polizei in die Menge geschossen hatte und über 500 Tote zu beklagen waren, und anders als bei den Unruhen, die seit zwei Monaten die Kabylei erschüttern, reagierten die Sicherheitskräfte diesmal zurückhaltender. Ein neues Massaker hätte im Ausland bares Unverständnis ausgelöst und im Inland die schwelende Krise des Regimes in einen politischen Notstand verwandelt. Die Zahl der Manifestanten wurde auf über eine Million geschätzt. Es handelte sich um eine kabylische « Generalmobilmachung », aber nicht um eine separatistische Rebellion. Die Polizei mobilisierte zwar Jugendgruppen aus dem Quartier Belcourt, die gegen die Berber vorgehen sollten, und es kam zu Protesten und Steinwürfen arabischer Hauptstadtbewohner gegen die Demonstranten. Mit seinem Versuch, aus den Kabylen vom Ausland her gesteuerte antinationale Aufrührer zu machen, ist das Regime aber bereits gescheitert. Die Proteste gegen Präsident Bouteflika und die Generäle häufen sich auch in anderen Städten, vor allem im Osten des Landes. Von einer landesweiten Bewegung kann aber noch nicht die Rede sein. Nur die Kabylen sind motiviert und solidarisch genug, um für mehr demokratische Rechte und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu kämpfen.

Die Koordination der Dorfkomitees wollte ihr Manifest vom 17. Mai im Präsidentenpalast übergeben. Sie fordert darin den sofortigen Abzug der Gendarmerie, welche für die 80 Toten in der Kabylei verantwortlich sei, sowie Straffreiheit für die Demonstranten und die Verurteilung der verantwortlichen Offiziere und Polizisten. Auch fordert sie Hilfe für die Opfer oder die Hinterbliebenen und verlangt die offizielle Anerkennung der Berbersprache sowie einen sozialen und wirtschaftlichen Dringlichkeitsplan für die Kabylei.Die Dorfkomitees sind ein traditioneller Bestandteil der kabylischen Basisdemokratie. Nach Ansicht des Front des forces socialistes, der wie die andere Berberpartei, das Rassemblement culturel et démocratique, von der Protestbewegung überrollt und an den Rand gedrängt worden ist, überschreitet jetzt jedoch die Koordination der Dorfkomitees ihre Kompetenzen. Das Regime hat sie nicht als Gesprächspartner anerkannt, aber bisher auch nicht erkennen lassen, wie es die Krise meistern will. Die Stellung von Präsident Bouteflika ist schwächer denn je, und die im Hintergrund agierenden und profitierenden Generäle können auch nicht mehr auf die einhellige Unterstützung durch die gesamte Armee zählen.

Unkontrollierbare Wut

Die Kabylenbewegung steht ihrerseits vor dem Problem, wie sie ihren Protest kanalisieren kann. Die Plünderungen in den Lagerhäusern des Hafens von Algier – an denen sich auch arabische Quartierbewohner beteiligten -, die Zerstörung staatlicher Büros und Firmen, die Zerstörung zahlreicher südkoreanischer Neuwagen (ein Statussymbol der wenigen Neureichen) zeugten von einem hohen Grad unkontrollierbaren Zorns. Obwohl die am Vortag von Präsident Bouteflika eröffnete Internationale Messe von den Demonstranten verschont worden war, musste sie vorübergehend geschlossen werden; der französische Staatssekretär für den Aussenhandel musste in sein Hotel zurückkehren. Hunderttausende von Demonstranten konnten das Stadtzentrum gar nicht mehr erreichen, weil die Ostautobahn blockiert war; sie mussten mit ihren zum Gedenken an die Todesopfer der Unruhen mitgetragenen schwarzen Fahnen und Spruchbändern wieder zum Sammelplatz, zehn Kilometer ausserhalb des Zentrums, zurückkehren, wo sie am frühen Morgen mit Bussen und Lastwagen eingetroffen waren. Auf einem Spruchband war zu lesen: « Ihr könnt uns nicht töten, denn wir sind schon tot. »