« Revolte oder Revolution? »

« Revolte oder Revolution? »

Armut, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung machen aus den Berberdemonstrationen in Algerien einen Volksaufstand

Ralph Schulze, Madrid, St. Galler Tagblatt, 20.Juni 2001

Ein Flächenbrand

Der Aufstand der algerischen Berber, der vor acht Wochen in der östlichen Kabylei-Region begann, weitet sich wie ein Flächenbrand über das ganze Land aus. Ein seit Jahrzehnten unterdrücktes Volk rebelliert gegen seine Herrscher, die den Menschen Freiheit, Demokratie und Perspektiven vorenthalten. « Revolte oder Revolution? », fragt die Zeitung « Liberté », die selbst noch keine Antwort darauf hat, wo die politische Reise des nordafrikanischen Landes enden könnte. Das Blatt « Le Matin » konstatiert: « Die Wut greift immer mehr um sich. » Seit zwei Monaten, als nach dem gewaltsamen Tod eines Jugendlichen auf einer Polizeiwache der Berberaufstand begann, vergeht kein Tag ohne Manifestationen, die meist in blutigen Strassenschlachten zwischen Demonstrantenheeren und Polizeiarmeen enden: In der Hauptstadt Algier, der westlichen Grossstadt Oran, dem östlichen Industriezentrum Skikda, der südlich Algiers liegenden Islamistenhochburg Blida, der Berberstadt Tizi-Ouzou – das ganze Land erhebt sich.

Steine, Stangen, Molotowcocktails

« Wenn ihr Krieg wollt, könnt ihr ihn haben », brüllten die Demonstranten den schwer bewaffneten Polizisten entgegen, die den Menschenmassen in Algier den Weg zum Präsidentenpalast versperrten. Steine, Eisenstangen und Molotowcocktails fliegen, einige Jugendliche schwingen Äxte und Messer. Die Polizei antwortet zunächst mit Tränengas und Wasserwerfern. Als Demonstranten beginnen, Algiers Innenstadt in Trümmer zu legen, den Busbahnhof in Brand stecken, Staatsunternehmen verwüsten, schiessen Polizisten mit scharfer Munition. Schätzungen zufolge wurden bei den seit Ende April laufenden Protesten rund 100 Menschen getötet und weit über 2000 verletzt.

Armut und Arbeitslosigkeit

Die Forderungen der Menschen auf den Strassen sind allerorten dieselben: « Keine Unterdrückung », « Wir wollen Demokratie und Freiheit », « Schluss mit der Erniedrigung », « Mörder-Macht », « Bouteflika-Diktator ». Hinzu gesellen sich die Rufe der Berber, die rund ein Drittel der 30 Millionen Menschen in Algerien stellen und eine Anerkennung ihrer Sprache und Kultur fordern. Fast ausschliesslich ist es die junge Generation, die sich auf den Strassen gegen das verkrustete Militärregime von Abdelaziz Bouteflika erhebt. Denn die Jungen trifft die Misere des Staates am stärksten. Zwei Drittel der algerischen Bevölkerung sind jünger als 35 Jahre. Zehn Jahre Bürgerkrieg mit den 1992 in den Untergrund gedrängten Islamisten, immer mehr Armut und Arbeitslosigkeit haben der jungen Generation des Landes jede Hoffnung geraubt.

« Ausländisches Komplott »

Staatspräsident Bouteflika, der den im Hintergrund regierenden Generälen bereits den Rücktritt angeboten haben soll, hält den Volksaufstand für ein « ausländisches Komplott ». Hilflose Äusserungen, die signalisieren, dass die Tage des Regimes gezählt sind. Noch verhalten sich die Militärs ruhig. Doch Beobachter schliessen nicht aus, dass die Generäle zum Machterhalt bald wieder die Panzer gegen das Volk rollen lassen. Ganz so, wie sie es etwa 1988 machten, als die hungernde Bevölkerung wegen des drastischen Anstiegs der Lebensmittelpreise rebellierte.