Berber-Unruhen weiten sich auf die gesamte algerische Bevölkerung aus
Demonstranten protestieren gegen fehlende Reformen, Ungerechtigkeit und Korruption – Präsident Bouteflikas Stellung wird immer unhaltbarer
Von Jochen Hehn und A.B. Lahouari, Die Welt, 18. Juni 2001
Paris – Die seit zwei Monaten anhaltenden blutigen Unruhen in der Berberregion Kabylei drohen sich immer mehr zu einer landesweiten Revolte des gesamten algerischen Volkes auszuweiten. Wie der gewaltsam verlaufene Massenaufmarsch von einer Million Menschen am letzten Donnerstag in der Hauptstadt Algier gezeigt hat – vorläufige Bilanz: vier Tote, 480 Verletzte, 510 Verhaftungen -, haben sich inzwischen Tausende von meist jugendlichen Nichtberbern den Protestaktionen angeschlossen. Die Forderungen der Berber nach mehr Autonomie, nach Anerkennung des Tamazight als zweite offizielle Landessprache (neben dem Arabischen) und nach einer Beendigung der jahrzehntelangen Benachteiligung ihrer Region durch die Zentralmacht haben sich viele der Demonstranten nicht nur zu Eigen gemacht. In ihren Protesten geben sie darüber hinaus zu verstehen, dass sie die miserablen Lebensbedingungen, das Ausbleiben der versprochenen Reformen sowie die herrschende Ungerechtigkeit, « hogra » genannt, und die verbreitete Korruption unter den Mächtigen nicht länger hinnehmen wollen.
Die Unruhen hielten auch am Wochenende an. In mehreren Städten der Berberprovinzen Béjaia, Sétif, und Tizi Ouzou verbarrikadierten jugendliche Demonstranten Straßen. Sie stürmten öffentliche Gebäude und lieferten sich mit Ordnungskräften Straßenschlachten. In Tichy, einem eleganten Badeort 20 Kilometer von Béjaia entfernt, fackelten sie mehrere Villen reicher Geschäftsleute und hoher Funktionäre ab. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Protestaktionen nicht nur gegen Einrichtungen des Staates, sondern immer mehr auch gegen « Symbole der Korruption » gerichtet sind.
Die Unruhen erinnern an den « Aufstand der Jugend », der sich aus ganz ähnlichen Motiven im Oktober 1988 gegen das herrschende System entladen und innerhalb weniger Tage auf fast alle Ballungsräume übergegriffen hatte. In einer brutalen Gegenaktion schlug damals das Militär die Revolte nieder. 500 Menschen wurden erschossen und Tausende eingekerkert. Der damalige Präsident Chadli Bendjedid nutzte die Lage, um das politische und wirtschaftliche System zu liberalisieren und konnte sich damit einige Zeit an der Macht halten. Doch als zwei Jahre später die Islamische Heilsfront (FIS) bei den Wahlen als Sieger hervorging, wurde die FIS verboten und der Ausnahmezustand verhängt. Den mit den Islamisten provozierten Bürgerkrieg – Bilanz: über 100 000 Tote – hat der im März 1999 zum Präsidenten gewählte Abdelaziz Bouteflika zwar offiziell beendet. Aber das Morden konnte durch seine Versöhnungspolitik bis heute nicht gestoppt werden.
Das Schweigen des Präsidenten und des exklusiven Klans der Generäle, der die wahre Macht in Algerien in seinen Händen hat, wird in einigen algerischen Zeitungen als « Angst der Generäle » vor einer unkontrollierbaren Ausweitung der Proteste interpretiert. Doch die seit drei Tagen über das staatliche Fernsehen verbreiteten Sendungen könnten auch auf ein erneutes massives militärisches Vorgehen hinweisen, nachdem die Berber ausreichend isoliert wurden.
Der Erfolg einer solchen Taktik hängt jedoch davon ab, in welchem Maße sich die Bevölkerung in den Ballungsgebieten mit den Berbern solidarisiert hat. Zeugen der Massendemonstration vom Donnerstag sprechen von einer großen Sympathie der Bevölkerung von Algier für die Demonstranten.
Der Aufstand der Berber gegen die Staatsmacht wird von keiner politischen Formation gesteuert – weder von der Berberpartei FFS, die in der Kabylei ihre Hochburg hat, noch von der sozialdemokratischen RCD, die Bouteflikas Regierung angehört und ebenfalls in der Kabylei fest verankert ist. Die wahre Macht geht in der Konfliktsteuerung von den « aarchs » aus, jenen traditionellen Bürgerkomitees der Gemeinden und Städte in der Kabylei, die im täglichen Leben Hochzeiten und Beerdigungen organisieren oder auch Familienstreite schlichten. Seit der Erschießung eines Jugendlichen in einer Polizeistation am 18. April und dem brutalen Eingreifen der Polizei haben sich die « aarchs » zusammengeschlossen, um mit der zentralen Staatsmacht den Kampf aufzunehmen.
Je länger sich die Revolte hinzieht, desto unhaltbarer dürfte die Stellung von Präsident Bouteflika werden. Wie 1988 Chadli, so könnte auch er jetzt das Bauernopfer der Generäle werden.