Demonstration verwandelte Algier in ein Schlachtfeld

Demonstration verwandelte Algier in ein Schlachtfeld

Ruinen und Autowracks säumen die Straßen der Berber-Kundgebung
/ Generäle lehnen Rücktritt des Präsidenten ab

Von Axel Veiel (Madrid), Frankfurter Rundschau, 16. Juni 2001

Am Tag danach sieht es aus, als wäre der Krieg über Algier hinweggefegt. Dabei war das Zentrum der Stadt nur Schauplatz einer weiteren, wenn auch besonders großen, besonders gewalttätigen Protestkundgebung gegen die Staatsmacht. Eine halbe Million Demonstranten, zwei Tote und 500 Verletzte, so lautet diesmal die Bilanz.

Der Seewind hat die Rauchsäulen wieder verweht. Zurückgeblieben sind Autowracks und Brandruinen. Scherben, Steine und schwelende Reifen säumen die Straßen. Die Hafendepots internationaler Handelsgesellschaften sind geplündert und ausgebrannt. Zahlreiche öffentliche Gebäude, Banken, Hotels und Geschäfte haben dem Volkszorn ebenfalls nicht Stand gehalten. Wo in der Verkaufsniederlassung einer südkoreanischen Autofirma Neuwagen hinter Glas glänzten, türmen sich am Freitag die Trümmer.
Begonnen hatten die Unruhen Mitte April in der überwiegend von Berbern bewohnten Kabylei, nachdem ein Jugendlicher auf einer Polizeiwache getötet worden war. Was zunächst aussah wie der Protest einer für die eigene Sprache und Kultur kämpfenden Minderheit gegen die Selbstherrlichkeit der Machthaber und die von ihnen betriebene Arabisierung, erwies sich bald als wesentlich weiter reichende Revolte. In der Kabylei, in Algier und anderen Landesteilen gingen die Menschen bald nicht mehr nur für die Sache der Berber auf die Straße.

Allenthalben brachen sich auch Zorn und Enttäuschung Bahn über die politischen und sozialen Missstände im Lande. Zumal die Jugend gegen Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und die Arroganz der Staatsmacht zu rebellieren begann.

So war es auch am Donnerstag. In Bussen und einem Sonderzug waren die Menschen in die Hauptstadt gekommen. Die Komitees der Berberstämme und Dörfer der Kabylei hatten zum Protest aufgerufen. Die Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) und die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) schlossen sich dem Appell an. Erstmals seit Ausbruch der Unruhen machten die beiden um die Gunst der Berber konkurrierenden Parteien damit gemeinsame Sache.
Der Aufmarsch wurde zu einer der größten Protestkundgebungen gegen die Staatsmacht seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1962. Nur 1991, als die Islamische Heilsfront FIS noch den Volkszorn artikulierte, waren noch mehr Menschen auf die Straße gegangen. Damals drangen die Demonstranten sogar bis zum Präsidentenpalast Al Mouradia vor. Diesmal versuchten die Sicherheitskräfte, den Protest auf das Gelände nahe des Hafens zu beschränken.

Panzerwagen und Polizei verstellten den Weg zum Amtssitz Präsident Abdelaziz Bouteflikas, wo die Demonstranten einen Forderungskatalog überreichen wollten.

Das war das Signal. Was als « Marsch für die Demokratie » begonnen hatte, als Kundgebung für den Rückzug der Gendarmerie aus der Kabylei und die Anerkennung der Berbersprache Tamazigh als zweite algerische Sprache neben dem Arabischen, geriet zum Volksaufstand.
Ein Steinehagel prasselte auf die blau uniformierte Polizei nieder. Hunderte von Jugendlichen versuchten, den Sicherheitskordon zu durchbrechen. « Wenn ihr Krieg wollt, könnt ihr ihn haben! » schallte es hinauf zum Präsidentenpalast. Die Polizei antwortete mit Wasserwerfern und Tränengas.

Noch in der Nacht starben zwei Journalisten, die ein Bus überrollt hatte. Demonstranten hatten das Fahrzeug aus einem brennenden Depot entwendet.

Ob in der Hauptstadt oder draußen in der Provinz: Es muss in Algerien nicht mehr viel zusammenkommen, damit sich der Volkszorn entlädt. Es genügt ein Anzeichen, ja ein Anschein von Hogra, wie die Algerier Ungerechtigkeit und Arroganz der Staatsmacht nennen. In Khenchela etwa, im Südosten des Landes, reichte es kürzlich aus, dass ein Unteroffizier ein am Straßenrand wartendes Mädchen in seine teure Limousine bat. Jugendliche stellten den Uniformierten zur Rede, versuchten, ihn zu verprügeln, zogen dann zum Rathaus, legten Feuer, plünderten öffentliche Gebäude. « Angesichts der Geringschätzung, die uns entgegenschlägt, können wir nur noch mit Brandschatzen und Zerstörung antworten », rechtfertigte sich einer Randalierer gegenüber einem algerischen Journalisten.

« Der Präsident muss noch heute zurücktreten », forderte in der Hauptstadt eine Algerierin vor laufenden Fernsehkameras. Wenn zutrifft, was der Algerien-Korrespondent der in London herausgegebenen arabischen Zeitung Asharq al Awsat kürzlich berichtete, täte der Staatschef nichts lieber als seinen Hut nehmen. Dem Blatt zufolge soll Generalstabschef Mohamed Lamari ein Rücktrittsgesuch des Präsidenten rundweg abgelehnt haben. Die Generäle, die in Algier de facto die Macht in Händen halten, haben offenbar keinen Anderen, der an Stelle Bouteflikas fortan den Kopf hinhalten könnte.

Die Militärs wollen schließlich nicht selbst für eine Entwicklung einstehen, die das Volk auf die Barrikaden treibt. Ein Kaufkraftverlust von 35 Prozent in den 90-er Jahren, ein Tageseinkommen von einem US-Dollar für 40 Prozent der Bevölkerung, eine Arbeitslosigkeit von 30 Prozent, das ist es, was die Machthaber den Algeriern zumuten. Wobei Armut und Arbeitslosigkeit vor allem Jugendarmut und Jugendarbeitslosigkeit sind in einem Land, in dem zwei Drittel der Menschen noch keine 30 Jahre alt sind. Hinzu kommt die Hogra: Die Ungerechtigkeit, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in dem mit Erdölquellen gesegneten Land, die Arroganz der Staatsmacht. Aber auf ihre Machtfülle verzichten – das wollen die Generäle schon gar nicht.