In Algerien rebelliert eine Jugend ohne Zukunft

In Algerien rebelliert eine Jugend ohne Zukunft

Der Maghreb-Staat wird zu einem sozialen Pulverfass – Chancen sehen viele Protestierende nur noch im Ausland

Houria Fallali, Petra Klingbeil, Salzburger Nachrichten, 16. Juni 1996

« Es ist noch keine Revolution, aber ein kleiner Funke genügt, und der Vulkan bricht aus », sagte ein politischer Beobachter am Freitag nach den Massendemonstrationen in Algier. Am Donnerstag machte sich eine Million vorwiegend junger Menschen in die Hauptstadt auf, um ihrem Zorn gegen die ihrer Überzeugung nach korrupte Machtpolitik von Präsident Abdelaziz Bouteflika freien Lauf zu lassen. « Die Regierung ist eine Mörderbande. Wir haben die Nase voll », skandierten sie.

Tote und Verletzte bei Massendemonstration

Zwei Journalisten starben. Hunderte Demonstranten wurden bei den Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften verletzt. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, als Demonstranten versuchten, die Absperrungen zum hermetisch abgeriegelten Präsidentenpalast zu durchbrechen.

Eine solche Großdemonstration hat das Land seit den Unabhängigkeitsrevolten in den fünfziger und sechziger Jahren nicht mehr erlebt. Die jüngsten Proteste begannen vor zwei Monaten als Autonomie-Bewegung der Berber, die ihre Kultur und Sprache unterdrückt sehen. Inzwischen erfassten die Unruhen weitere Teile des Landes.

Präsident Abdelaziz Bouteflika, im Volksmund verächtlich als « unfähiger Schwätzer » tituliert, verschanzt sich bisher stumm hinter den Barrikaden seiner Sicherheitskräfte. « Die Regierung hat ihr wahres Gesicht gezeigt – das der Unterdrückung », meint ein Sprecher der Oppositionspartei Front der Sozialistischen Kräfte (FFS).

Vor allem die Jugend revoltiert. 60 Prozent der Algerier sind unter 25 Jahre alt. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 30 Prozent. « Sie haben uns unsere Jugend gestohlen », stand auf Plakaten der Demonstranten – nicht in der Amtssprache Arabisch, sondern auf Französisch, der Sprache der ehemaligen Kolonialherren. Ohne Zukunftshoffnung wenden sich die Demonstranten Hilfe suchend an Europa. « Wir wollen Arbeit, Gerechtigkeit und anständige Wohnungen. Hier bekommen wir das nicht, deshalb möchten wir ins Ausland », rief ein Student.

Die Wut der Jugend richtet sich gegen die Korruption und Inkompetenz der Machthaber. Auch wohlmeinende Beobachter sprechen der Regierung Reformfähigkeit ab. « Bisher hat die Regierung keine Maßnahme ergriffen, um den Protestierenden entgegen zu kommen », betont der FFS-Sprecher.

Lösungen hat jedoch auch die Opposition nicht parat. « Als symbolische Direktmaßnahme könnte die Regierung die Sprache der Berber als zweite Landessprache einführen. Doch das würde die arabische Mehrheit im Land nicht akzeptieren », erläutert ein Journalist.

« In Algerien sind Änderungen derzeit kaum möglich », meint Professor Lahouari Addi, Spezialist für den Maghreb an der Universität Lyon. Die Generäle, die in Algerien über die wahre Macht verfügten, hätten alles getan, dass unabhängige Parteien nicht hochkämen. Andere politische Beobachter warnen davor, dass die Generäle die Ausschreitungen als Vorwand für Aktionen gegen die Berber nehmen könnten, die ihnen mit ihrer Freiheitsliebe ein Dorn im Auge seien.