Algeriens Krankheit

Algeriens Krankheit

Präsident Bouteflika und die Armeeführung können sich zu einer Operation an Haupt und Gliedern nicht durchringen – wie viel muss noch zusammenkommen, bis Algeriens Machthaber umdenken?

Von Axel Veiel, Frankfurter Rundschau, 21. Juni 2001

Algerien ist ein krankes Land. Der Präsident selbst hat einmal diese Diagnose gestellt und sie unter dem Beifall des Volkes verlesen. Der Staat sei von Fäulnis befallen, verkündete Abdelaziz Bouteflika. Eine Importmafia bereichere sich hemmungslos auf Kosten der Industrie. Jede Region, jede Stadt habe ihre korrupte Oberschicht. Sie halte die Wirtschaft im Würgegriff und kassiere ab. Lange her scheint das zu sein. Doch die Rede liegt nur zwei Jahre zurück. Sie stammt aus jener Zeit, als der Staatschef noch Hoffnungsträger war. Inzwischen hat Bouteflika jedweden Kredit verspielt. Der einst dem Sozialismus verschriebene frühere Außenminister begann zwar zu liberalisieren und privatisieren. Aber Mafiosi und andere Mächtige bereichern sich weiter. Die Masse der Algerier ist noch ärmer geworden. Und hinter demokratischem Stück-, ja Blendwerk hat das Militär noch immer das letzte Wort.

Verändert hat sich etwas anderes. Nun auch noch um die Hoffnung auf Besserung beraubt, können und wollen viele Algerier dem Leidensdruck nicht mehr Stand halten. Er hat ein Ausmaß erreicht, das zumal junge Menschen auf die Barrikaden treibt. Die Algerier unter 30 Jahren, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung und das Gros der Armen und Arbeitslosen, rebellieren in dem Gefühl, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Was als Berberunruhen begann, als Aufbegehren einer für ihre Sprache und Kultur streitenden Minderheit, hat Züge eines Volksaufstands angenommen. Dutzende von Toten, Tausende von Verletzten, sind die vorläufige Bilanz.

Doch so offenkundig das Leiden des Landes auch ist, so vordringlich eine Operation an Haupt und Gliedern auch wäre, Algeriens Generäle und ihr Präsident vermögen sich dazu nicht durchzuringen. Das Übel an der Wurzel packen, hieße schließlich Verzicht üben. Es hieße, von Reichtum und nahezu unbeschränkter Machtfülle zu lassen. Es hieße, das Privileg des ungehinderten Zugriffs auf die Öleinnahmen aufzugeben und auch so manches andere Vorrecht. Anstatt zur Operation zu schreiten, verbietet das Regime lieber Symptome.

Nachdem Hunderttausende von Menschen den Präsidentenpalast zu stürmen versuchten und Teile der Innenstadt in Schutt und Asche legten, haben die Machthaber ein Demonstrationsverbot für Algier erlassen. Wenn sich der Unmut des Volkes schon Bahn brechen muss, dann im Hinterland, mögen sie sich sagen. Da sieht es vielleicht niemand. Wenn Algier brennt, sehen es alle. Dann wird sogar das europäische Ausland nervös. Das war schon so, als Mörder in islamistischem Gewande ihre Landsleute zu Hunderten massakrierten. Als sich das blutige Geschehen in die Provinz verlagerte, ebbte die internationale Kritik ab. Und Europa wird gebraucht. So empfindlich viele Algerier nach mehr als 100 Jahren Kolonialherrschaft auf Einmischungsversuche reagieren: als Wirtschaftspartner, als Erdöl- und Gasabnehmer sind Europäer willkommen.

Im Kampf gegen Symptome schwingt das Regime zugleich die Keule des neuen Presserechts. Algeriens Journalisten müssen es sich heute zweimal überlegen, ob und wie sie Missstände anprangern. Wer den Präsidenten öffentlich herabwürdigt, muss Geld-, wenn nicht Haftstrafen gewärtigen. Vielleicht hoffen die Machthaber, Zeit gewinnen, die Krise gar aussitzen zu können. Bisher sieht es aber eher danach aus, als laufe ihnen die Zeit davon. Die Unruhen werden nicht weniger. Der Versuch, Unmutsäußerungen auf der Straße oder in den Medien zu verbieten, ist vielen Menschen nur ein weiterer Beweis der Hogra, der Arroganz der Machthaber, die das Volk und seine Nöte nicht Ernst nehmen.

Hätte Bouteflika zu Beginn des Aufruhrs Zeichen guten Willens gesetzt, hätte er die verhasste Gendarmerie aus der Kabylei abgezogen, die Sprache des bedrängten Berbervolkes aufgewertet und dem Arabischen gleichgestellt, er hätte womöglich tatsächlich Zeit gewonnen. Doch die Armee und ihr Präsident haben zu lange gewartet. Versöhnliche Gesten oder kleine Schritte des Entgegenkommens helfen nicht mehr. Es ist auch nicht mehr damit getan, den Berbern zu geben, was sie schon lange fordern. Sie haben den ersten Stein geworfen, sie stellen den Großteil der Demonstranten. Aber auch sie wollen inzwischen mehr: Arbeit, Wohnraum, Gerechtigkeit, Transparenz, Demokratie.

So sehr hat der Protest an Dynamik gewonnen, dass selbst tiefer greifende Reformen keine Erfolgsgarantie mehr bieten. Das gilt zumal für Maßnahmen gegen die wirtschaftliche Not, die kaum von heute auf morgen zu lindern ist. Aber ein entschlossenes und sichtbares Bemühen darum eröffnete wenigstens Chancen, dass der kranke Mann am Mittelmeer wieder genesen könnte. Sollten sich Bouteflika und die Armeeführung dazu durchringen, wäre Europa gefordert, mit der viel beschworenen euromediterranen Partnerschaft Ernst zu machen und den darnieder liegenden Prozess von Barcelona mit neuem Leben zu erfüllen.

Die Frage ist nur, wie viel noch zusammenkommen muss, bis Algeriens Machthaber umdenken. Wann werden auch sie die Flucht nach vorne antreten, wann reift in Kasernen und im Präsidentenpalast die Einsicht, dass man nicht mehr viel zu verlieren hat? Hoffentlich nicht erst dann, wenn ganz Algerien in Flammen steht.