Algier steht vor einem heissen Sommer
Neue Luzerner Zeitung, 16. Juni 2001
Nach der grössten Protestdemonstration Algeriens seit der Unabhängigkeit herrschte gestern verdächtige Ruhe: Der Aufstand der Jungen gegen das korrupte Regime wird aber weitergehen.
Demonstranten, Polizei und Regierung waren vom Ausmass der Protestaktion im Zentrum der algerischen Hauptstadt am Donnerstag gleichermassen überrascht: Mehrere hunderttausend – genaue Zahlen kennt niemand – vornehmlich junge Algerier machten ihrer Frustration und Wut über die prekären Lebensbedingungen, die fehlenden Zukunftsperspektiven und das korrupte Regime Luft.
Obwohl sich das massive Aufgebot der Sicherheitskräfte für algerische Verhältnisse zurückhielt – sie bestreiten, scharf geschossen zu haben – ist die Bilanz ernüchternd: drei Tote, unter ihnen zwei von einem Bus überfahrene Journalisten, über 500 Verletzte, Dutzende von ausgebrannten Autos und Geschäften.
Vorläufiger Höhepunkt
Die Massendemonstration war der vorläufige Höhepunkt der Proteste, die Mitte April nach dem mysteriösen Tod eines Jugendlichen auf einem Polizeiposten in der Kabylei ausgebrochen waren. Ausser Gewalt und verbrauchter Rhetorik hatte die Regierung von Präsident Abdelaziz Bouteflika den Unzufriedenen nichts zu bieten. Die Behauptung, die wachsenden Unruhen seien « vom Ausland gesteuert », glaubt längst niemand mehr. Auch der Versuch, sie als « Abspaltungsbewegung » der Kabylen darzustellen, ist zu durchsichtig: Damit sollte ein Keil zwischen die arabische Mehrheit und die berberische Minderheit, die rund ein Viertel bis ein Drittel der 30-Millionen-Bevölkerung ausmacht, getrieben werden. Doch auch dieses Argument verfängt nicht mehr.
Was als Protest in der Kabylei, die die Anerkennung ihrer Kultur und Sprache fordert, begonnen hatte, hat sich längst zu einem Massenaufstand der Jugend im ganzen Land ausgeweitet: Die unter Dreissigjährigen – sie machen rund 70 Prozent der Bevölkerung aus – sehen sich den gleichen Problemen gegenüber: Arbeitslosigkeit, die weit über den offiziellen 30 Prozent liegt, fehlende Wohnungen, Willkür der Behörden, Korruption auf allen Stufen.
Bruno Etienne, Politologieprofessor an der Universität Aix-en-Provence und Kenner Algeriens, bringt die Sache auf den Punkt: « Die Hintergründe des Konflikts sind einfach: Algerien ist ein reiches Land, doch die Algerier versinken immer mehr in der Armut. Die Jungen sind die Machtkämpfe der einstigen Unabhängigkeitskämpfer leid. »
Angesichts der nicht nachlassenden Unruhen werden die Erinnerungen an den blutigen Brotaufstand von 1988 wach. Damals hat das Regime die sozialen Unruhen radikal zusammengeschossen. Mehrere hundert Algerier wurden dabei getötet. Der Hinweis auf die drohende islamische Gefahr liess alle Mittel zu, die Unruhen im Keime zu ersticken. Das Ausland zeigte viel Verständnis und liess die Generäle agieren, die Algerien angeblich vor dem Fundamentalismus retteten.
Doch heute ist die Situation anders: Die Islamisten sind militärisch weit gehend zurückgedrängt worden. Die periodisch bekannt werdenden Massaker scheinen eher einen kriminellen Ursprung zu haben. Das Ausland, auf dessen Investitionen Algier angewiesen ist, kann nicht einfach mehr wegschauen.
Traumatisierte Offiziere
Zudem sind viele der jungen Offiziere in der Armee durch die Schiessereien von 1988 traumatisiert: Es scheint nicht wahrscheinlich, dass sie heute auf ihre Brüder und Cousins schiessen lassen werden. Anders sieht es mit den diversen Sicherheitskräften aus, die auf den Befehl verschiedener, untereinander zerstrittener Machthaber hören. Sie könnten durchaus versucht sein, die Proteste blutig niederschlagen zu wollen.
Bouteflika und die Generäle, die im Hintergrund die Fäden ziehen, stehen vor einem fast unlösbaren Dilemma: Zu lange habe sie die sprudelnden Einnahmen aus dem Erdöl- und -Gasgeschäft sinnlos verpulvert oder in die eigenen Taschen gesteckt. Sie sind unwiderruflich diskreditiert. Doch eine Alternative haben sie nicht anzubieten: « Sicher kann man einige Generäle und Bouteflika in die Wüste schicken, aber das wird nichts ändern », erklärt Etienne.
Die Regierung steht zudem einem spontanen, sich ständig ausbreitenden Aufstand gegenüber, der keine feste Struktur oder Organisation hat. Parteien wie die sozialistische FFS wurden überrollt oder sind, wie die ebenfalls berberische RDC, durch ihre frühere Regierungsbeteiligung diskreditiert. Weder auf der Regierungs- noch auf der Oppositionsseite stehen Alternativen bereit. Algerien steht ein heisser Sommer bevor.
VON HUGO BERCHTOLD